Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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der Gegend. Alleineigentümer. Erst vor zwei Jahren erworben«, sagte er.

      Anna trat hinter ihn. »Kannst du Gedanken lesen, oder hast du Informationen, die ich nicht habe?«

      »Sein Name steht auf dem Aktendeckel, den du in der Hand hältst. Wir Wertpapierexperten leben davon, Daten und Informationen zu verarbeiten. Hat Tolstunov deine Klientin verprügelt?«

      »Hallo? Es gibt ein Anwaltsgeheimnis.«

      Die Tastatur klapperte unter Lukas’ Fingern. »Es gibt auch das Christkind. Sein Name kommt mir übrigens bekannt vor.«

      »Bist du sicher?«

      »Gib mir fünf Minuten. Entweder ist es mir dann eingefallen, oder dieses Ding hat genug über den Mann ausgespuckt, um dich mit Informationen zu versorgen. Den Kaffee bekommst du morgen. In meiner obersten Schreibtischlade sind Gummibärchen.«

      Anna kehrte in ihr Büro zurück, stellte sich ans Fenster und verfolgte die Autokolonnen. Ob jemand auf die Menschen in diesen Autos wartete? Manchmal wünschte Anna sich mehr als eine leere Wohnung. Dass sie es nicht erwarten konnte, den letzten Akt des Tages zu schließen. Dass kleine Hände sich nach ihr ausstreckten, wenn sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. Dass der Duft von Oregano und Tomatensauce das Vorzimmer füllte, während Jazz aus dem Wohnzimmer drang. Dass sie bei einem Glas Wein endlose Gespräche führte und gemeinsame Pläne für den nächsten Urlaub schmiedete. Doch irgendwie hatte keine ihrer Beziehungen längere Zeit gehalten, weil ihr jeder Partner früher oder später vorgeworfen hatte, mit den Frauen und Kindern verheiratet zu sein, die sie vertrat. Anna hatte die Vorwürfe nur halbherzig dementiert. Sie wusste, dass sie berechtigt waren. Ihre Klienten hatten ein Recht darauf, dass jemand für sie eintrat. Deshalb war sie Anwältin geworden. Anna konnte sich ein anderes Leben nicht vorstellen. Windeln und Gemüsebrei. Schlaflose Nächte und Staubsaugen. Kindergartenfeste und Schultüten. Das war das Leben ihrer Freundinnen aus Schulzeiten. Das Leben der anderen, nicht das ihre. Das Licht der Straßenlaterne erfasste eine Frau, die an jeder Hand ein Kind führte, ein kleiner Hund trippelte hinter ihnen her. Bunte Mützen wippten bei jedem Schritt. Wohin waren sie um diese Zeit unterwegs? Kamen sie von der Ballettstunde? Zwei weitere Schritte, dann hatte sie die Nacht verschluckt. Das ist nicht meine Welt, dachte Anna, hier ist meine Welt.

      »Ich hoffe, du hast gute Beweise«, sagte Lukas.

      Anna drehte sich um. »Ich werde sie finden müssen«, sagte sie.

      »Dann such sorgfältig. Ich wusste, dass ich seinen Namen schon einmal gehört habe. Es gab vor einigen Jahren einen Skandal in der Telekommunikationsbranche. Es ging um Telefonlizenzen in ehemaligen russischen Staaten. Tolstunov war involviert«, sagte Lukas.

      »In welcher Form?«

      »Das blieb unklar. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.«

      »Wer war der leitende Staatsanwalt?«

      »Kretschmer.«

      »Ich hatte noch nie persönlich mit ihm zu tun. Er soll ein hartnäckiger Gegner sein.«

      »Er ist Spezialist auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität.«

      »Eine große Sache?«

      Lukas nickte.

      »Wie viel weißt du darüber?«, fragte Anna.

      »Nicht mehr, als ich dir schon gesagt habe. Fünf Minuten sind nicht ausreichend Zeit, um mehr Fakten zu liefern.«

      »Wie verdient er sein Geld?«

      »Offiziell ist er Unternehmensberater. Für ihn wären wohl Schmiergeldzahler oder Geldwäscher treffendere Bezeichnungen. Worum geht es genau?«

      »Es geht um ein kleines Mädchen, das aus einer versperrten Wohnung verschwunden und nach zwanzig Stunden zurückgekehrt ist. Sie spricht nicht mehr. Ich will wissen, was in dieser Zeit geschehen ist.«

      »Was hat Tolstunov damit zu tun?«

      »Das möchte ich herausfinden. Kannst du mir bis morgen alles ausdrucken, das du über ihn und seine Firma findest?«

      »Ich würde gerne mehr tun«, sagte Lukas.

      »Ich bin auf das Ergebnis deiner Recherche gespannt.«

      »Für dich nur das Beste.«

      »Ich würde mich mit nichts anderem zufrieden geben.«

      »Davon gehe ich aus«, sagte Lukas, »ich ebenso wenig.«

      »Dann bin ich neugierig, ob unsere Ansprüche gleich hoch sind«, sagte Anna und griff nach ihrer Aktentasche. »Danke«, fügte sie lächelnd hinzu.

      Lukas winkte zum Abschied. »Wir sehen uns morgen«, sagte er. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Du hast mich zwar nicht nach meiner Meinung gefragt, aber ich äußere sie trotzdem. Ich ziehe meinen Hut vor dir. Es sollte mehr Anwälte geben, die so denken und handeln wie du.«

      5

      Der Scheinwerfer verströmte eine Hitze, die das Arbeiten zur Qual machte. Schweiß rann über seinen Rücken und staute sich am Seil, mit dem er die Regenhose festgezurrt hatte. Mit einem Lappen rieb er über jede Fliese. Die Chlorbleiche reizte seine Nase und seine Augen tränten. Seine Fingerkuppen brannten trotz der Gummihandschuhe, die er bis zu den Ellbogen hochgezogen hatte. Unter der Plastikhaube juckte die Kopfhaut. Er kannte die unangenehme Prozedur, trotzdem war er immer wieder aufs Neue überrascht, dass sie ihn im selben Maß erregte wie erschöpfte. Lust baute sich in seinem Inneren auf, gepaart mit Vorfreude auf seine neue Prinzessin. Er sah ihre Haare so deutlich vor sich, dass es ihn drängte, seine Hand auszustrecken und darüber zu streichen. Wonach sie wohl riechen würden?

      Die Spuren seiner letzten Beute verschwanden im Abfluss. Er füllte den Eimer ein weiteres Mal mit heißem Wasser. Der scharfe Geruch des Desinfektionsmittels schlug ihm mit dem aufsteigenden Dampf entgegen. Er kniete nieder und scheuerte den Boden. Er glaubte nicht an Zufälle. Vorbestimmung hatte ihn heute zu Vanessa geführt. Ihr Lächeln war bezaubernd. Vielleicht ein wenig unsicher und verängstigt. Es zeugte von Einsamkeit, von dem Wunsch, zu gefallen und der Hoffnung, akzeptiert zu werden. Deshalb war sie die Richtige. Sie war das perfekte Opfer.

      6

      Kaum hatte Anna die Tiefgarage verlassen, legte sich ein feiner Film auf ihre Windschutzscheibe. Nieselregen hatte eingesetzt, die Temperatur war auf sechs Grad gesunken. Eine Schlechtwetterfront näherte sich dem Osten Österreichs, die Meteorologen hatten für die kommenden Tage Schnee vorhergesagt. Der Verkehr auf der Ringstraße hatte sich gelichtet. 22 Uhr vorbei. Anna rieb sich die Augen und durchsuchte ihre Aktentasche nach einem Schokoladenriegel. Beim Versuch, ihn einhändig zu öffnen, rutschte das Plastik aus ihren Fingern. An der nächsten Ampel klappte Anna die Sonnenblende nach unten und schob die Abdeckung zur Seite, um die Verpackung mit Hilfe der Schneidezähne aufzureißen. Als sich der Scheibenwischer über die Heckscheibe bewegte, tauchten im Spiegel die Umrisse der ebenfalls wartenden Wagen auf. Ein Scheinwerfer des hinter ihr stehenden Kombis war defekt. In der rechten Spur leuchtete ein Taxischild auf dem Dach eines Kleinwagens, offenbar legte nicht mehr jeder Wert darauf, in einer Mercedeslimousine chauffiert zu werden. Links von dem Kombi befand sich ein dunkler Geländewagen. Während Anna sich ein weiteres Mal vergeblich bemühte, die Schokolade auszupacken, fragte sie sich, warum im meist schneefreien Wien immer häufiger Autos zu sehen waren, die man eher in Tiroler Bergdörfern vermutet hätte. Als die Ampel auf Grün sprang, fluchte Anna leise, legte den Riegel auf den Beifahrersitz und wartete auf das nächste Rotsignal. Auch beim nächsten Versuch rutschte das Plastik aus ihrem Mund und sie legte den Kopf schief, um mit den Backenzähnen größeren Druck ausüben zu können. Auch diesmal war der Geländewagen schräg hinter ihr zum Stillstand gekommen. Im veränderten Blickwinkel hatte Anna das Gefühl, das Auto bereits beim Ausfahren aus der Garage wahrgenommen zu haben. Als sie auf die benachbarte Spur lenkte, wechselte der Geländewagen ebenfalls den Fahrstreifen. Anna bog ab, der andere Wagen folgte. Als sie eine Ampel bei Gelb überquerte, ignorierte ihr Verfolger das Rotsignal und übersetzte knapp vor einem querenden Auto die Kreuzung. Anna bremste ohne Vorwarnung und der Lenker


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