Gefallener Mond. Ruth Schneeeberger

Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger


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das Lenkrad um vieles fester hielt als notwendig. Sie beschleunigte und nahm die nächste Kurve mit hoher Geschwindigkeit. Nur mit Mühe gelang es ihr, auf der nassen Fahrbahn die Kontrolle über ihr Auto zu behalten. Einmal mehr tauchte der Geländewagen in ihrem Rückspiegel auf und Anna fragte sich, was sie ihren Mandantinnen in vergleichbaren Situationen raten würde. Sie hätte zweifellos zur Ruhe gemahnt.

      Als Anna an einer Bushaltestelle vorbeifuhr, schwenkte sie ohne zu blinken nach rechts. Der Geländewagen passierte und verschwand um die nächste Ecke. Anna schaltete den Motor ab, öffnete die Verpackung und ließ die Schokolade auf der Zunge zerschmelzen, während sie unauffällig die Umgebung absuchte. War der fremde Wagen zufällig dieselbe Route gefahren oder war ihr jemand gefolgt? Wer könnte ein Interesse daran haben, sie zu beobachten und aus welchem Grund? Als Anna den letzten Bissen in den Mund steckte, lehnte sie sich im Sitz zurück. Schon als Kind hatte jede Form von Zucker ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit in ihr ausgelöst. Nach zwei Bonbons von Großmutter hatten aufgeschlagene Schienbeine nicht mehr wehgetan. Nach einer Tüte Erdbeereis mit Streusel hatten die Hänseleien der anderen Kinder nicht mehr geschmerzt, dass sie wie ein Junge aussah, weil sie Hosen trug und ihre kurz geschnittenen Haare widerspenstig vom Kopf abstanden. Nach einem Teller selbstgebackener Plätzchen hatte sie für kurze Zeit vergessen können, dass ihre Mutter gestorben war. Auch diesmal verfehlte die Schokolade ihre Wirkung nicht. Anna konnte jetzt deutlich spüren, dass der Geländewagen in weite Ferne gerückt war. Es war Zeit, nach Hause zu fahren, eine Dusche zu nehmen und zu den Klängen von Norah Jones den Tag ausklingen zu lassen.

      In dem Moment, als sie aus der Haltestelle fuhr, bog der Geländewagen neuerlich in dieselbe Straße ein und folgte Anna in sicherem Abstand. Die Fragen, die Anna mühsam aus ihrem Kopf verdrängt hatte, waren ebenso schnell zurückgekehrt wie das andere Auto. Sie fuhr wieder auf die Ringstraße. Es war zu früh, die Polizei einzuschalten. Als Anna an der nächsten Ampel das Leuchtschild des »Tel Aviv« vor sich sah, parkte sie ihren Wagen und schaute in den Rückspiegel. Vorerst war der Geländewagen verschwunden. Auf dem kurzen Fußmarsch zog sie ihre Mütze tief in die Stirn und klappte den Mantelkragen nach oben, um sich vor dem stärker werdenden Regen zu schützen. Trotzdem benetzten Wassertropfen ihre Wimpern, als sie die Bar erreichte. Sie tupfte mit einem Taschentuch darüber und ließ die vertraute Atmosphäre auf sich wirken. Wie gewohnt vibrierte der Fußboden im Einklang mit den Bässen. Sich drehende Leuchtkugeln vermittelten die Illusion, die Einrichtung wäre in kleine Stücke gehackt und bewege sich in einem eigenen Rhythmus vorwärts. Zwei Männer um die Dreißig unterhielten sich trotz des hohen Geräuschpegels und nippten an ihren Getränken. Silberne Lichtrauten zeichneten ein Muster auf ihre schwarzen Anzüge. Anna nickte einem der beiden zu. Pielers Verteidiger. Der Anwalt durchsuchte seine Taschen, zündete sich eine Zigarette an und hielt ihr die Packung entgegen.

      Anna lehnte dankend ab. »Interessante Verhandlung«, sagte sie.

      Er zuckte mit den Schultern. »Mein Sohn würde sagen: »Dumm gelaufen.« Ich ärgere mich darüber, Sie unterschätzt zu haben. Ich wurde vor Ihrem überzeugenden Auftreten gewarnt. Trotzdem glaubte ich, einen Freispruch erreichen zu können.«

      »Ich verfüge über weitaus mehr Berufserfahrung, Herr Kollege, und habe den passenden Zeitpunkt für mein Vorbringen abgewartet.«

      »Ich habe heute mehr gelernt als im letzten halben Jahr. Das nächste Mal bin ich besser vorbereitet«, antwortete ihr Gegenüber.

      »Bis bald im Gerichtssaal«, antwortete Anna und steuerte den einzigen freien Platz an der Bar an. »Das Übliche«, sagte sie und betrachtete den neben ihr sitzenden Gast. Das Hemd war zerknittert und die Krawatte schlampig gebunden. Ein rostroter Fleck zierte seine Brust. Vermutlich ein Andenken aus dem Fast-Food-Restaurant ums Eck. Der oberste Hemdknopf stand offen. Ein dunkler Streifen zeichnete sich auf seinem bulligen Hals ab, wo der Kragen die Haut aufgeschürft hatte.

      »Stammgast?«, fragte er.

      »Gewesen«, antwortete Anna.

      »Ich komme noch nicht lange her.«

      »Frisch geschieden?«

      »Bald.«

      Anna vermutete, dass ihn seine Frau aus der Wohnung geworfen hatte und daher weder für das Bügeln seiner Hemden noch die Zubereitung seiner Lieblingsgerichte zur Verfügung stand. Wahrscheinlich schlief er stattdessen in einem schmucklosen Hotel oder seinem eigenen Büro und versuchte, seine Einsamkeit mit Barbesuchen erträglicher zu machen. Ein gestrandeter Wal auf der Suche nach Gesellschaft.

      »Harter Tag?« Der Wal umklammerte mit einer Hand den Tresen und beugte sich zu ihr.

      »Nicht härter als sonst«, antwortete Anna. Der Barkeeper brachte ihre Bestellung. Sie hob ihr Glas, lächelte und trank.

      »Gin Tonic?«, fragte der Wal.

      Anna nickte. »Ich kann den Geruch von Hopfen nicht ausstehen.«

      »Sie sehen wie eine Ärztin aus«, sagte der Wal und schob sein Glas zur Seite.

      »Unfallchirurgie.«

      »Wow«, sagte er und leerte sein Bier. »Ich hasse Krankenhäuser.«

      »Ich mag die Pralinen, die mir dankbare Patienten schenken.«

      »Ich hätte getippt, dass Sie Süßigkeiten meiden«, sagte der Wal, »sonst wären Sie nicht so …«, er schien nach dem passenden Wort zu suchen, »… schlank.«

      »Und selbst?«

      »Ich liebe Zahlen. Reicht das als Hinweis?«, fragte der Wal zwinkernd.

      »Unternehmensberater?«

      »Leiter des Controllings.«

      Anna lächelte innerlich. Ihr Nachbar war die perfekte Wahl.

      Der Barkeeper brachte ein weiteres Bier. »Die Runde geht aufs Haus«, sagte er und nickte Anna zu.

      »Du bringst mir Glück, Süße«, sagte der Wal.

      »Hältst du mir den Platz frei?«

      »Musst du mal für kleine Mädchen?«

      Anna nickte.

      »Für dich immer, Frau Doktor.«

      »Bin bald zurück«, sagte Anna.

      »Das sagen sie alle«, murmelte er.

      Anna nahm ihre Tasche, durchquerte den Saal und ging über die Stufen ins Untergeschoß. Hier war es ruhiger, als hätte jemand eine Glocke über das Stockwerk gestülpt. Sie betrat die Damentoilette, wo alle Türen zu den Kabinen offen standen. Wieder auf dem Gang, horchte sie an der Herrentoilette. Auch hier war es still. Sie lauschte nach Schritten auf der Treppe, bevor sie hinter der gegenüberliegenden Tür mit der Aufschrift »Privat« verschwand.

      »Anna«, rief Mimi und umarmte sie. »Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.«

      »Dich vergessen? Klingt schwierig.«

      »Du lässt dich nie blicken.« Mimi schmollte und trat einen Schritt zurück, »aber wahrscheinlich hast du Besseres zu tun, als dich in unserer Bar mit einsamen Männern herumzutreiben. Du siehst übrigens gut aus.«

      »Du auch.« Mimi sah tatsächlich gut aus. Wenig erinnerte an die ausgezehrte Jugendliche, die Anna vor drei Jahren in der Notaufnahme aufgelesen hatte. Zu diesem Zeitpunkt lebte Mimi bereits über ein Jahr auf der Straße. Sie hatte eine schlimme Schnittwunde an der Hand. Da sie keine Krankenversicherung nachweisen konnte, wollte der diensthabende Arzt sie nicht behandeln. Anna fuhr Mimi mit dem Auto zu ihrem Hausarzt, kam für die Kosten auf und rang Mimi in nächtelangen Gesprächen in ihrem Gästezimmer das Versprechen ab, etwas aus ihrem Leben zu machen. Drei Jahre später hatte sie es zur stellvertretenden Geschäftsführerin des »Tel Aviv« gebracht. »Hast du wieder einmal deinen Traummann gefunden?«

      Mimi nickte lächelnd.

      »Wie heißt er diesmal?«

      »Alex«, antwortete Mimi.

      »Wie lange kennt ihr euch?« Sie wusste, dass Mimis größter Wunsch die intakte


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