Original Linzer Tortur. Erich Wimmer

Original Linzer Tortur - Erich Wimmer


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er sich für die Rückkehr und erzählte seiner Großmutter vom Trick der alten Wagner. Irgendwie hatte es ausgesehen, als sei sie einfach in der Stiftswand verschwunden.

      »Gut«, sagte die alte Porofsky, »jetzt wissen wir wenigstens, wo sich dieses Miststück verkrochen hat. Jetzt haben wir genügend Zeit, um die anderen zu alarmieren.«

      »Welche anderen?«, fragte Timo.

      »Echte Männer«, antwortete Dorothea Porofsky, »also das Gegenteil von dir.«

      7

      Zuerst hatte Anita die Sekretärin des Papa-Gruber-Arbeitskreises kontaktiert und war auf wenig Begeisterung für ihr Interesse gestoßen. Dass Frau Lotte Wagner, ihre Präsidentin, verschwunden war und jetzt wegen Mordverdachts gesucht wurde, hatte den rührigen Haufen aus Laien und Kirchenprofis ganz offensichtlich aus der Fassung gebracht. Bemüht freundlich, aber mental aufgewühlt wie tote Blätter von einem Laubsauger, hatte die gute Frau um Verständnis dafür gebeten, dass unter den aktuellen Umständen keine näheren Auskünfte erteilt werden könnten. Für Fragen zur Person Dr. Gruber solle man doch bitte die Website abrufen. Da sei der aktuelle Forschungsstand für ein breites Publikum dokumentiert.

      In einem zweiten Schritt hatten sich Anita und Korab diese Website angesehen und sämtliche online gestellten Artikel durchgeackert. Dabei hatten sie entdeckt, dass das Engagement für Johann Gruber immer wieder von den gleichen Personen getragen wurde. Besonders die Zuschriften an die Kirchenzeitung waren aufschlussreich gewesen. Den einsamen Rekord für eingesandte Artikel zum Fall Johann Gruber hielt ein Oberstudienrat aus Mattighofen. Er hieß Franz Scheuz, war über 90 Jahre alt und ein ehemaliger Schüler Grubers. Obwohl Korab sich angeboten hatte, das zu erledigen, hatte Anita darauf bestanden diesen Herrn Scheuz selbst anzurufen. »Ich klopfe und paniere die Schnitzel«, war Anita in diesem Zusammenhang metaphorisch geworden, »und du darfst sie herausbraten.«

      Im vorliegenden Fall wäre diese strikte Arbeitsteilung gar nicht notwendig gewesen. Franz Scheuz war der wunderbarste Zeitzeuge, den man sich vorstellen konnte. Er hatte sich entzückt gezeigt über das Interesse an seinem verehrten Lehrer und war nur allzu gerne bereit gewesen, einem Geschichtsprofessor des LinzMuseums Auskünfte zu erteilen. Sowohl im Fall Johann Gruber als auch bei allen anderen Fragen, wo ein einfacher Greis, wie er sich ausdrückte, der hohen Wissenschaft noch behilflich sein konnte.

      Jetzt saß dieser Historiker namens Pius Korab im vormittäglichen Zug von Linz nach Mattighofen und versuchte vergeblich, sich zu beruhigen. Anstatt sich einzulesen und auf die Unterlagen zu konzentrieren, die ihm Anita über Dr. Gruber ausgedruckt hatte, dachte Korab in sekündlich wiederkehrenden, malariaartigen Schüben an die Zeitbombe, die er heute um zehn vor acht von Isonzo übernommen und ins Gemäldearchiv des LiMu hinuntergetragen hatte. Hinrichtung war cool gewesen wie immer. Ohne unnötiges Gequassel hatte er mitgeholfen, die Klimakiste zu verstauen, und sogar laut und deutlich okay gesagt, als Korab ihn gebeten hatte, die Aktion gegenüber Anita nicht zu erwähnen. Es gibt da ein paar Reibereien zwischen ihr und der Künstlerin. Ein bisschen Eifersucht, völlig unbegründet, aber du kennst ja die Frauen und so weiter. Korab versuchte, sich auf die Landschaft zu konzentrieren, sah aber nichts außer einem graugrünen Streifen, der viel zu schnell an ihm vorbeigezogen wurde. Schließlich gestand er sich ein, dass er sein Hauptthema nicht länger ignorieren konnte.

      Johann Gruber, begann Korab zu lesen, war einer der sechzehn oberösterreichischen Priester, die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. Der Grund dafür, warum man ihn am 9. April 1944 im KZ Gusen zu Tode gefoltert hatte, war, dass er aus seiner Abneigung gegenüber dem Nationalsozialismus nie einen Hehl gemacht hatte. Um ihn aus der Schule entfernen zu können, wo er bei seinen Schülern ungeheuer populär war, wurden ihm sexuelle Übergriffe unterstellt. Fünf Schülerinnen hatten ihn angezeigt, weil er sich ihnen angeblich unsittlich genähert hätte. Hauptanstifter dieser Denunziation, neben ein paar anonymen Nutznießern, war ein gewisser Josef Baumgartner, ein Lehrerkollege Grubers, der vom Eifer für das NS-Regime ebenso zerfressen war wie vom Neid auf Gruber und dessen Beliebtheit. Im KZ hatte Gruber sofort Freunde aus allen Nationen Europas gefunden, weil er ein Herzens-Esperanto sprach, das alle verstanden. Er war unerschrocken und groß in seiner Seele, auf steter Suche nach neuen Quellen, aus denen er Hilfe und Kraft schöpfen konnte. Im KZ organisierte er eine illegale Schule, indem er die vielen Lehrer, die inhaftiert waren, dazu anhielt, ein oder zwei Kinder geheim zu unterrichteten. Er nutzte seine etwas privilegiertere Stellung im KZ, um Kartoffeln zu stehlen und sie in der heißen Asche des Krematoriums zu braten. Er machte keinen Unterschied zwischen den Menschen, sondern linderte das Leid von Katholiken und Kommunisten. Er wollte so viele Häftlinge wie möglich retten und der Welt zeigen, dass Österreich nicht der bedingungslose Verbündete der Nazis war. Als Anfang 1944 im KZ ein Brief Grubers an den Bischof abgefangen werden konnte, wurde ihm dieses geheime Informationsnetz zum Verhängnis. Im Lager Gusen sollte Gruber zum Selbstmord gezwungen werden. Gruber wurde nackt in einen Bunker gesperrt, wo man ihm einen Strick hinwarf, an dem er sich erhängen sollte. Als er das nicht tat, kam der Lagerkommandant Seidler persönlich und schoss ihm mit der Pistole in den Bauch. Als er trotz der schweren Schussverletzungen weiterlebte, malträtierten ihn anonyme KZ-Wächter so lange mit Bajonettstichen und Stacheldraht, bis er starb.

      Korab schloss die Mappe mit den Notizen und starrte nachdenklich durch das trübe Fensterglas. Dort draußen lag eine Welt, in der Konzentrationslager gebaut worden waren. Dieser Welt konnte man nicht entrinnen, indem man immer weiter mit dem Zug durch sie hindurchfuhr. In ein paar Minuten würde er aussteigen und versuchen müssen, sich konkret mit dem langen Schatten Doktor Grubers zu arrangieren.

      Am Bahnhof von Mattighofen sprang Korab aus dem Waggon, entfernte sich mit ein paar flinken Schritten vom Eingangsbereich und stellte sich in den Windschatten eines Snack-Automaten. Sämtliche Passagiere hasteten an ihm vorüber, als hätten sie Scheuklappen an den Schläfen. Die Momente, in denen er mit anderen Menschen aus Zügen und über Bahnsteige quoll, empfand Korab als ähnlich gefährlich wie jene Augenblicke an der Supermarktkasse, kurz bevor die nachdrängenden den bereits zahlenden Kunden ihre Einkaufswägen in die Achillesfersen rammten. An solchen Kulminationspunkten hätte Korab immer laut schreien können; weniger vor körperlichem Schmerz als vor Wut über die plötzliche Spürbarkeit jener künstlichen Geschwindigkeit, die den natürlichen Lebensrhythmus der menschlichen Spezies nicht nur ignorierte, sondern auch destabilisierte. Die Popostmoderne, Isonzos entlarvendes Wort für die Gegenwart, zwang den Menschen ein Tempo auf, das sie immer weiter voneinander entfremdete.

      Korab rückte näher an den Automaten heran und blickte durch die Glasfront ins Innere des klobigen Kastens. Dort stapelten sich diverse Snacks und Müsliriegel, die ihn mit ihren kreischend bunten Umhüllungen an die Schlafsäcke von Zwergen erinnerten. Noch während Korab überlegte, wohin diese Zwerge unterwegs waren, wenn sie nicht schliefen, plätscherte sein iPhone. Korab griff in seine Jacke, blickte kurz und ratlos auf die Ziffern einer unbekannten Nummer und nahm das Gespräch an.

      »Seeervaaas.« Die beiden Vokale quollen aus dem Mikrofon wie alte, zähe Schmelzkäsepfropfen.

      »Grüße«, erwiderte Korab neutral.

      »Ich bins.«

      »Super.«

      »Was heißt da super? Was glaubst du denn, wieso ich anrufe?«

      »Keine Ahnung.«

      »Das kann ich mir denken. Du bist ja nie da, wenn man dich braucht.«

      Die Stimme des Anrufers klang so fern, als befände sich ihr Besitzer nicht nur räumlich, sondern auch mental am Rand einer Polkappe. Da rang sich jemand ein Telefonat ab, der sonst nicht viel mit dieser Art der Kommunikation am Hut hatte. Korabs innerer Stimmdecoder kürzte die unter diesen Vorzeichen zur Auswahl stehenden Personen auf drei Kandidaten. Entweder er sprach mit Charon, dem Fährmannskelett, das die Toten über den Styx rudert und sich hoffentlich verwählt hatte, oder er war mit King Kong verbunden, der eine junge, blonde, leicht bekleidete Menschenfrau verloren hatte und jetzt jemanden anheuern wollte, der sie zurückbrachte. Bei der dritten zur Debatte stehenden Person handelte es sich um einen seiner Campingplatznachbarn, den Nordkarl, einen pensionierten Eisenbahner, dessen Parzelle unmittelbar an seine grenzte. Vor Jahren, als er am Campingplatz eingezogen


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