Original Linzer Tortur. Erich Wimmer

Original Linzer Tortur - Erich Wimmer


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… aber meiner Schwester nicht«, fügte Korab so leise hinzu, dass er selbst nicht gleich wusste, ob er diesen Satz nur gedacht oder wirklich ausgesprochen hatte.

      Obwohl ihn seine plötzliche Offenheit selbst erstaunte und sogar ein wenig erschreckte, spürte Korab gleichzeitig, dass er sich dieser Frau gegenüber nicht zu verstellen brauchte. Jedes Wort, das die Wahrheit nur umspielte, war vor dem gütigen Tribunal dieser fordernden Augen fehl am Platz. Korab ließ die Bilder aufflackern. Jasmins strahlendes Gesicht und die Zuversicht, mit der sie ihn ihren großen kleinen Bruder genannt hatte. Und dann, später, irgendwann, die beiden unvergesslichsten Sätze seines Lebens, ausgesprochen von dem Beamten, der damals in der Leichenhalle auf ihn zugeeilt war, um ihn aufzuhalten: Ich an Ihrer Stelle würde sie nicht mehr anschauen. Bewahren Sie Ihre Schwester so in Erinnerung, wie sie gewesen ist.

      »Sie taumeln«, flüsterte Frau Rabental, als hätte sie jeden einzelnen von Korabs Gedanken gelesen. »Aber die Kunst hält Sie in der Spur.«

      Korab reagierte nicht. Seine Augen waren feuchte Kübel, versunken in der gespenstischen Zone einer ständig gegenwärtigen Vergangenheit.

      »Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte die alte Frau wie eine Schiffslotsin, der vor einer Tiefe schaudert, die sie vergeblich zu messen versucht. Frau Rabental deutete Korabs Schweigen als Bejahung und verschwand lautlos im Nebenraum.

      Es gibt eine innere Landschaft, dachte Korab, wo Menschen wie Frau Rabental unbemerkt und unscheinbar in deiner Nähe leben, gleich im nächsten Tal. Wie viele solcher Täler gibt es in dir? Und wie viele davon erreichst du im Lauf deines Lebens? Das Tal Anita und das Tal Isonzo.

      Auch dort hat mich der Zufall hingespült. Und manchmal spült er dich darüber hinaus, und du gelangst in die nächsten vertrauten Gefilde. Dann stehst du da, mit den Haaren am Kopf, wie manche Großväter so treffend formulieren, und fragst dich, ob du nicht schon einmal hier gewesen bist, in einem früheren Leben, in diesem Tal, an diesem Ort mitten im Wasserwald.

      »So, bitte sehr«, sagte Frau Rabental und stellte eine kobaltblaue Teetasse vor ihrem Gast auf den Tisch.

      »Haben Sie die selbst getöpfert?«, nutzte Korab die Chance und wechselte das Thema.

      »Ja.«

      »Ein Freund von mir macht das auch«, sagte Korab nachdenklich.

      »Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Frau Rabental, nachdem sie wieder Platz genommen hatte, »dass Sie künstlerisch begabte und extravagante Freunde haben.«

      »Extravagant ist ein ideales Wort, um ihn zu beschreiben«, bestätigte Korab. »Isonzo ist ein von der Stadt extrahierter Vagant. Er lebt zwischen Wald und Wasser im Schilf.«

      »Leben Sie nicht bei ihm?«, fragte Frau Rabental.

      Korab verschluckte sich an der heißen Flüssigkeit. Er setzte die Tasse ab, räusperte sich und blickte in Frau Rabentals Richtung, ohne ihr in die Augen zu schauen.

      »Warum sollte ich?«, fragte Korab erstaunt.

      »Weil Sie dann glücklicher wären.«

      »Wie kommen Sie darauf?«

      »Durch Ihre Stimme«, sagte die alte Frau. »Ihre Stimme leuchtet, wenn Sie um diesen Ort kreist.«

      Korab griff nach einer Serviette, wischte sich über den Mund und dachte dabei an die sagenhaften Schwerter, die anfangen blau oder weiß zu schimmern, wenn sich Feinde nähern. Offensichtlich gab es dieses Phänomen auch umgekehrt. Aber er hatte noch nie davon gelesen, geschweige denn einen Menschen getroffen, dem sich das Spektrum sympathischer Sehnsüchte aus dem Klang von Unter- und Obertönen erschloss.

      »Haben Sie Psychologie studiert?«, fragte Korab seine Gastgeberin.

      »Ja«, antwortete Frau Rabental, »an der besten Universität, die es dafür gibt, dem KZ. Wenn Sie jahrelang jeden Tag mit Ihrer Ermordung rechnen müssen, dann entwickeln Sie Sinne, die es Ihnen erlauben, Stimmen zu lesen. Selbst als Kinder, die wir damals waren, mussten wir im Lager eine übermenschliche Aufmerksamkeit entwickeln. Und glauben Sie mir, Herr Korab, nicht was ein Mensch sagt, sondern wie er es sagt, entscheidet über Nähe und Ferne, über Sinn und Unsinn, über Leben und Tod.«

      »Kann man dieses Stimmenlesen auch ohne Todesgefahr lernen?«, fragte Korab.

      »Vermutlich können das alle Künstler«, antwortete Frau Rabental. »Wissen Sie, ich habe auch nicht davon geträumt, Werklehrerin zu werden. Eigentlich wollte ich Bildhauerin werden, aber mein Schicksal hatte etwas anderes mit mir vor. Und ich habe mich gefügt. Sie haben sich noch nicht gefügt. Sie sind noch auf der Suche. Und wenn Sie mir nicht helfen, weil Sie meinen Fall für aussichtslos oder finanziell unergiebig halten, dann muss ich auf die Wiedergutmachung verzichten. Ich kann mir keinen teuren Detektiv leisten. Ehrlich gesagt habe ich auch bei ein paar anderen Detekteien angefragt. Aber dort sind die Preise astronomisch.«

      Genau das hatte Korab befürchtet. Dieses wasserwaldwilde Knusperhäuschen war in Wahrheit eine Zwickmühle. Genau deshalb hatte er die anderen Möglichkeiten zumindest andiskutiert. An ihn wandte sich nur eine ganz besonders gebeutelte Menschengattung, die der hilflosen Hungertuchnager. Schon an seine Wiege war das Schicksal mit der Posaune herangetreten und hatte verkündet, dass seine zukünftigen Klientinnen entweder junge Malerinnen ohne fixes Einkommen sein würden, wie in seinem letzten Fall Julia Hofer, oder alte Werklehrerinnen wie Frau Sarah Rabental, deren Pension so klein war, dass man sie sogar mit dem Elektronenmikroskop vergeblich suchte. Korab gebot sich, nicht zu seufzen.

      »Ein wenig Bakschisch müssen Sie mir aber schon zahlen. Immerhin habe ich laufende Recherchekosten. Die halte ich so gering wie möglich – ebenso wie meinen Stundenlohn. Das kann ich aber nur, weil mich geniale Freunde unterstützen. Deren Geduld und Mitgefühl ist für mich heilig. So heilig, dass ich sie auf gar keinen Fall über Gebühr beanspruchen werde. Also brauche ich auch von meinen Kunden immer wieder einmal das, was Sie mir am Anfang unserer Begegnung zukommen haben lassen, echtes, gültiges Bargeld.«

      »Ich verstehe Sie natürlich und danke Ihnen sehr«, sagte Frau Rabental. »Über ein kleines Grundeinkommen verfüge ich ja … und, Herr Korab, seien Sie versichert, dass ich Sie garantiert nicht vergesse, sollte ich das Haus an der Landstraße tatsächlich zurückbekommen.«

      5

      »Anita Ligula!«, rief Korab den Vor- und Nachnamen seiner besten Freundin und Lieblingskollegin, der Hauptkassierin des LinzMuseums und Königin des menschenleeren Foyers, während er über die gepflegte Schiebetürschwelle trat. »Lumen Gentium! Licht der Völker und Licht meines schattigen Daseins! Du Stern des Südens und letztes Stützrad am Vehikel meiner Moral! Du Sonne der Sinne, du Samen der Seele, du Salz der …«

      Bevor Korab das Wort Ursuppe aussprechen konnte, unterbrach seine Gesprächspartnerin die kolossale Einleitung mit einem ebenso kolossalen Gebrüll: »Stopp! Klink dich wieder ein und komm zur Sache, Pius! Dein Vorschleim verätzt unsere frisch geputzte Halle! Hör auf mit den verdammten Floskeln und leg endlich die Fakten auf den Tisch! Namen, Zahlen, Schuhnummern und so weiter!«

      »Doktor Johann Gruber«, begann Korab sachlich, während er an Anitas ausladenden Eckschreibtisch herantrat, sein Sudelbuch auspackte und auf seine Notizen schielte. »Er war ein oberösterreichischer Priester und wurde 1944 im KZ Gusen ermordet, und jetzt soll er seliggesprochen werden. Dieser Prozess ist einer gewissen Frau Wagner ein ganz besonderes Anliegen. Sie ist eine ehemalige Schülerin von Dr. Gruber. Nach fünfzig Jahren Ehe mit dem Waffenhändler Ernst Wagner hat sich Frau Wagner von ihm getrennt und ist untergetaucht. Jetzt, im Untergrund, treibt sie die Seligsprechung auf ihre Weise voran … was immer das heißen mag. Das Ungute aber ist: Ernst Wagner wurde entweder bei dieser Trennung oder kurz danach ermordet. Lotte Wagners Bekannte, eine gewisse Frau Sarah Rabental, hat mich engagiert, um Frau Wagner noch vor der Polizei zu finden. Ich soll von ihr Geld für ein Dokument Dr. Grubers entgegennehmen, das ein südamerikanischer Neffe Rabentals verhökern möchte. Dieses Dokument ist für beide Frauen von überragender Bedeutung. Für die eine, weil sie damit ein großes, ihrer Familie in der NS-Zeit enteignetes Zinshaus an der Landstraße zurückfordern kann, für die andere,


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