Original Linzer Tortur. Erich Wimmer
wäre das Originaldokument ein ungemein hilfreicher Baustein auf dem Weg zur Seligsprechung von Dr. Gruber. Sie hat mehrmals betont, dass dieses Projekt weit mehr ist als eine Beschäftigungstherapie. Dr. Gruber war nicht einfach nur irgendein Lehrer für sie, er war, weil sie eine Waise war, so eine Art Ersatzvater. Und diesem Vater wollte sie immer ein Denkmal setzen. Das ist seit langem der einzige Sinn und das Ziel in ihrem Leben, hat sie mir erklärt, obwohl sie es zwischendurch schon aufgegeben hatte, noch an dessen Verwirklichung zu ihren Lebzeiten zu glauben. Dieses Dokument in den richtigen Händen würde nicht nur einigen Menschen wie mir ihren Besitz zurückbringen, es würde auch die Zeit bis zur Seligsprechung Johann Grubers wesentlich verkürzen.«
»Warum würde es das?«, fragte Korab.
»Das habe ich Frau Wagner auch gefragt«, sagte Frau Rabental. »Für eine Seligsprechung braucht es ein beglaubigtes Wunder oder den Märtyrertod für den Glauben. Das blutige Ende Dr. Grubers steht ja außer Zweifel, aber leider wurde er von der Anschuldigung, er habe sich jungen Mädchen unsittlich genähert, nie rehabilitiert. Ein konkreter Beweis für seine Unschuld würde dem Seligsprechungsprozess einen ungeheuren Schub geben. Am besten wäre natürlich das Geständnis einer dieser mittlerweile uralten Frauen, dass Dr. Grubers Verfehlung nie stattgefunden hat und eine reine Erfindung war, um ihn, den regimekritischen Priester und Volksverräter, loszuwerden und wegzusperren. So haben ihn die Nazis damals bezeichnet, wegen seiner Standhaftigkeit und Liebe zu allen Menschen, auch zu uns Juden. Frau Wagner hat nur in den allerhöchsten Tönen von ihm geschwärmt. Laut ihr war Dr. Gruber ungeheuer asketisch und todesmutig. Dass er unter Lebensgefahr Beweise für Enteignungen und sonstige an unserem Volk verübte Gräuel gesammelt hat und das bei einem derart gnadenlosen Regime, so etwas ist eine äußerst tapfere, selbstlose Tat.«
»Aber wenn Frau Wagner das Dokument so sehr will«, begann Korab, »dann wird sie sich ja früher oder später ohnehin bei Ihnen melden, oder?«
»Nein«, entgegnete Frau Rabental, »sie kann sich gar nicht melden.«
»Warum?«
»Weil ich von der Polizei beobachtet werde«, antwortete Frau Rabental, »ich vermute sogar, dass mein Mobiltelefon abgehört wird. Aber ich weiß nicht, wie sie das machen.«
»Und wie kommen Sie zu dieser Vermutung?«
»Weil die Polizisten immer wieder wechseln und erstaunlich aufdringlich sind. Außerdem wissen sie Details, die ich ihnen gar nicht erzählt habe.«
»Zum Beispiel?«, fragte Korab.
»Zuerst waren es nur zwei Beamte«, antwortete Frau Rabental. »Aber dann ist noch ein dritter gekommen. Er hat mir auf den Kopf zugesagt, dass ich mich weniger um das Seelenheil Pfarrer Grubers kümmern soll, sondern mehr um mein eigenes, dem mit einer Anklage wegen Beihilfe zum Mord nicht gerade geholfen wäre.«
»Wie kommt der auf Beihilfe zum Mord?«, fragte Korab bestürzt.
»Wäre Frau Wagner wirklich die Täterin«, sagte Frau Rabental, »und ich gäbe ihr Versteck nicht preis, dann könnte das ein Richter als Beihilfe zum Mord auslegen und entsprechend bestrafen. Frau Wagner und ich haben in der Gruber-Sache öfter und ausführlich miteinander telefoniert. Das haben die Ermittler durch ein Telefonprotokoll festgestellt.«
»Und?«, fragte Korab, »Was haben Sie den Ermittlern geantwortet?«
»Die Wahrheit. Ich habe denen die gleiche Geschichte erzählt wie Ihnen. Mit dem großen Unterschied, dass die mir höchstens die Hälfte geglaubt haben. Die sind überhaupt nicht interessiert an dem Gruber-Thema. Restitutionsgeschichten sind denen schnuppe. Das ist entsetzlich, aber wahr. Die wollen nur den Mord aufklären und Frau Wagner finden, weil sie glauben, dass sie die Mörderin ist.«
»Haben die Ermittler das so formuliert?«
»So direkt nicht, nein«, relativierte Frau Rabental, »aber zwischen den Zeilen habe ich schon sehr deutlich gespürt, dass die Unschuldsvermutung für Frau Wagner nur bedingt gilt.«
»Wenn sie tatsächlich unschuldig ist«, überlegte Korab laut, »dann könnte sie sich ja stellen und der Polizei alles erklären.«
»Dann ginge es ihr wie mir«, sagte Frau Rabental, »die Polizei würde ihr nur die Hälfte glauben und sie sehr wahrscheinlich in Untersuchungshaft nehmen. Aber sie hat noch etwas Wichtiges zu erledigen und braucht dafür vor allem eines: Zeit.«
»Und wofür genau braucht sie diese Zeit?«, fragte Korab, während er unaufhörlich in sein Büchlein schrieb.
»Das hat sie nur angedeutet. Es hängt, glaube ich, mit den Umständen zusammen, wie Dr. Gruber ins KZ gekommen ist. Aber wie gesagt, darüber weiß ich nichts Näheres.«
Korab versuchte sich an einer Zusammenfassung: »Aber Sie brauchen Frau Wagner, damit die Sie finanziell unterstützt, wenn die konkrete Forderung Ihres Neffen Jorge eintrifft.«
»Ganz genau, Herr Korab«, sagte Frau Rabental sichtlich erleichtert, »also müssen Sie Frau Wagner möglichst unauffällig suchen und finden und dann als eine Art Geldbote fungieren.«
»Aber nehmen wir einmal an, ich finde Frau Wagner nicht«, entwarf Korab ein durchaus realistisches Szenario, »haben Sie dann wirklich keine Möglichkeit, das Dokument ohne fremde finanzielle Hilfe von Ihrem Neffen zu kaufen?«
»Das kommt natürlich auf den Preis an«, gestand Frau Rabental, »aber der wird mit großer Wahrscheinlichkeit außerhalb meiner Möglichkeiten liegen.«
»Und … mit Verlaub … wenn Sie angesichts der zu erwartenden Großimmobilie dieses kleine Haus hier verkaufen?«, fragte Korab. »Mehr, als dieses Haus wert ist, wird Jorge bestimmt nicht verlangen.«
»Da haben Sie recht, Herr Korab«, bestätigte Frau Rabental, »aber dieses Haus gehört mir nicht. Ich bin hier nur zur Miete.«
»Verstehe«, sagte Korab, »und die kleinen Skulpturen draußen beim Eingang? Die sind wirklich gut. Sehen aus wie frühe Arbeiten von Paul Klee. Könnten Sie die nicht verkaufen?«
»Die sind nur von mir. Die bringen kein Geld. Aber … wie kommen Sie auf diesen Zusammenhang mit Klee? Er hat mich tatsächlich inspiriert.«
Der Geist der Adlerin, gerade noch ein ferner Punkt, kam jetzt hinter den Wolken hervor und hypnotisierte die Wiesenmaus. Frau Rabental beugte ihren Vogelkörper in Korabs Richtung und unterstrich mit dieser Geste die Dringlichkeit, mit der ihr Blick eine Antwort forderte.
»Klee ist einer meiner Lieblingsmaler«, erklärte Korab.
»Warum denn das?«, fragte die alte Frau.
»Weil er unzählige Scherzkekse gemalt hat, farbenfroh und zärtlich«, antwortete Korab, »und weil er den Brücken Schuhe auf die Fundamente gezeichnet hat. Seither können sie laufen. Dank ihm haben Brücken ihre statische Schwere verloren. Und ich bin immer dankbar dafür, wenn jemand unser Leben erleichtert, indem er das scheinbar Unverrückbare verrückt.«
»Das ist eine äußerst ungewöhnliche, aber sehr treffende Einschätzung«, sagte Frau Rabental erstaunt. »Wie kommt man als feinsinniger Kleeliebhaber zum rustikalen Beruf eines Privatdetektives?«
Korab empfand diese Frage als alte Bekannte. Wann immer sie auftauchte, griff er zu seiner bewährten Standardformel. Ich habe Kunstgeschichte studiert. Später, als ich gesehen habe, dass man als Kunstvermittler von der Hand in den Mund lebt, habe ich noch den Kurs für Privatdetektive am Linzer WIFI angehängt. Schnüffeln ist mein zweites berufliches Wackelbein. Anstatt diese Antwort einfach auszusprechen, hörte er sich plötzlich etwas sagen, das ihn selbst überraschte.
»Durch Flucht vor der Erwartung anderer.«
Frau Rabental zuckte zusammen. Mit einer neuen Art von Interesse sah sie Korab in die Augen und schien sich dabei zu versichern, ob sie richtig gehört hatte. Korab spürte, dass er dieses Angeschautwerden ohne Skrupel erwidern konnte. Das war kein Taxieren und kein Vorgeplänkel zum Kampf um eine auratische Vorherrschaft. Im Gesicht der betagten Frau spiegelten sich einfach nur alte, prägende Erfahrungen, deren Echo er mit seinem letzten Satz aufgewühlt hatte.
»Und