Original Linzer Tortur. Erich Wimmer
Rabentals Backsteinhäuschen stand mitten im Linzer Wasserwald und war mit diesem billigen, aber unverwüstlichen Nachkriegsrieselputz versiegelt, der Korab immer schon als Folie eines Alptraums erschienen war. Spitze Finger und Zungen, die eine betongraue Meeresoberfläche durchbrechen wollen, aber in dem Moment erstarren, wo sie die Freiheit berühren. In den Innenräumen roch es nach billigen Putzmitteln. Auf alten, aber gepflegten Truhen standen haufenweise kleine menschliche Holzfiguren mit ernsten, psychologisch vieldeutigen Gesichtern, die aber in ihrer Gesamtheit ironisch wirkten, weil sich ihre Kleinheit und ihre Ernsthaftigkeit aneinander brachen.
»Haben Sie die Nachrichten der letzten Woche verfolgt?«, kam Frau Rabental sofort zur Sache, während Korab Platz nahm in einem süßsenfbraunen Polstersessel, dessen Stoffbezug an manchen Stellen verblichen war, als hätte man ihn mit feinem Schmirgelpapier bearbeitet. Räude, schnöder Götterfunken, verballhornte Korabs inneres Amt für die Erneuerung alter Wortdenkmäler.
»Im Großen und Ganzen«, antwortete er, dachte dabei an die Gratiszeitungen, denen er notgedrungen seine Informationen verdankte, und suchte schließlich nach Schubladen für sein Gegenüber. Alte Lady. Mitte bis Ende Siebzig. Hoher, windschlüpfriger Haarhelm mit milchkaffeeweißem Grundton. Adlernase und Adlerblick, unheimlich heimlich und scharf. Kann wahrscheinlich trotz ihres Alters immer noch aus hundert Metern Höhe eine kleine Wiesenmaus orten, würde die Maus aber nach dem Sturzflug bestimmt laufen lassen und sich von Grashalmen und Kräutern ernähren.
»Gut«, sagte Frau Rabental, »dann haben Sie sicher von dem Mord am Froschberg gelesen, diesem Mord an dem pensionierten Waffengroßhändler Ernst August Wagner.«
»Hab ich«, bestätigte Korab, während er einen Bleistift und sein Sudelbuch zückte, in dem er sich die Eckdaten zu notieren gedachte. »Soweit ich das mitbekommen habe, sucht die Polizei dringend nach seiner Frau. Die ist seither verschwunden.«
»Aber Lotte Wagner hat nichts mit dem Mord zu tun!«, ereiferte sich Frau Rabental. »Rein gar nichts!«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Korab.
»Genau darum geht es«, sagte Frau Rabental, »aber damit Sie das verstehen, muss ich ein wenig ausholen. Vor einiger Zeit habe ich diesen Brief bekommen …«
Aus einer unscheinbaren Mappe, die auf dem Wohnzimmertisch lag, nahm Frau Rabental ein einzelnes Blatt und reichte es Korab.
»Anfänglich«, fuhr sie fort, »habe ich das Ganze für eine Seniorenabzocke gehalten. Ich war sogar kurz davor, den Brief in den Müll zu werfen. Jorge, ein unbekannter Neffe aus Südamerika, schreibt ausgerechnet mir, weil ihm mein Schicksal so sehr am Herzen liegt. Mehr Klischee geht gar nicht. Aber dann habe ich aus Spaß weitergelesen und wurde stutzig. Dieser Jorge wusste Dinge über meine Schwester, die man unmöglich erfinden kann. Zum Beispiel die Nummer, die man Esther damals ins Handgelenk tätowiert hatte, und die genaue Stelle von einem Muttermal. Meine Schwester und ich, wir waren beide als Kinder zusammen mit unseren Eltern im KZ Mauthausen und Gusen. Dort wurden wir getrennt. Ich habe überlebt und glaubte, dass man alle anderen ermordet hat. In seinem Brief behauptet dieser Neffe, dass es umgekehrt genauso war. Esther sei überzeugt gewesen, dass meine Eltern und ich das Lager nicht überlebt hatten. Ihr war das auch von verschiedenen Seiten bestätigt worden, und deshalb hat sie auch keine Nachforschungen angestellt, nachdem sie bei einer Adoptivfamilie untergekommen war, die mit ihr nach Südamerika ging. Ja, und dort hat Esther ihr ganzes weiteres Leben verbracht.«
Frau Rabental gönnte sich eine kurze Nachdenkpause und sprach dann konzentriert weiter.
»Vor Kurzem ist sie gestorben, und ihr Sohn hat in ihrem Nachlass ein kleines Notizbuch gefunden, das ihr ein katholischer Priester namens Johann Gruber noch im KZ anvertraut hat. Sie wollte sich aber mit den schlimmen Erinnerungen nicht mehr auseinandersetzen. All die Jahre hat sie das Buch in irgendeiner Dachbodenkiste aufgehoben. Jetzt, nach ihrem Tod, hat ihr Sohn darin gelesen und etwas Ungeheures festgestellt: Das kleine Buch enthält detaillierte Aufzeichnungen über die Enteignung von jüdischen Familien am Ende der Dreißigerjahre in Linz. Unter anderem auch, und jetzt kommt’s, von unserer Familie. Ariel, unser Vater, hat damals in seiner Verzweiflung zusammen mit einem Anwalt Herrn Gruber aufgesucht und ihm eidesstattlich erklärt, dass er unser Mehrfamilienhaus an der Landstraße niemals freiwillig an den regimetreuen Hausmeister Porofsky abgetreten hat. Vielmehr habe man ihn unter Androhung körperlicher Gewalt – auch seiner Familie gegenüber – gezwungen, die Immobilie zu einem Spottpreis zu verscherbeln. Diese Aussage meines Vaters sowie mehrere andere, vergleichbare Fälle wurden von Dr. Gruber schriftlich festgehalten und gesammelt. Dieser katholische Priester war für viele meiner jüdischen Mitmenschen die letzte, moralisch noch integre Anlaufstelle. Zum Beweis, dass diese Geschichte echt ist, hat mein Neffe eine unseren Fall betreffende Seite dieses Dokumentes kopiert und dem Brief beigelegt.«
Frau Rabental nahm das nächste Blatt aus der Mappe und reichte es Korab.
»Wie ist dieser Neffe überhaupt auf Sie gekommen?«
»Das steht am Schluss des Briefes«, sagte Frau Rabental, »aber ich kann es Ihnen auch gerne erklären. Jorge, mein Neffe, hat einfach angefangen zu recherchieren. Er hat meinen Namen ins Internet eingegeben und ist auf die Homepage der Hauptschule gestoßen, an der ich vierzig Jahre als Werklehrerin gearbeitet habe. Dort gibt es auch ein Verzeichnis aller ehemaligen Lehrer. Von da aus war es leicht, meine Adresse herauszufinden.«
»Voraussetzung dafür war aber«, ergänzte Korab, »dass Sie immer noch Ihren Mädchennamen tragen.«
»Ganz genau«, bestätigte Frau Rabental, »ich habe nie geheiratet. Sie denken wirklich mit.«
»Ja, ab hundert Euro surfe ich mit beiden Hirnhälften gleichzeitig«, sagte Korab, »aber ich verstehe noch nicht, was Frau Wagner mit dem Ganzen zu tun hat.«
»Dann passen Sie bitte gut auf!«, forderte Frau Rabental. »Nachdem ich den Brief erhalten hatte, habe ich selbst bezüglich Dr. Johann Gruber im Internet recherchiert. Und dabei bin ich auf den sogenannten Papa-Gruber-Arbeitskreis gestoßen. Das ist eine Initiative von katholischen Laien, Kirchenhistorikern und Priestern, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Seligsprechung ihres Glaubensbruders voranzutreiben, der im KZ ermordet wurde. Und die Präsidentin dieses Vereins ist Frau Lotte Wagner. Ihr habe ich eine Kopie dieser Dokumentenseite geschickt mit der Bitte, sie möge mir sagen, ob dies tatsächlich die Schrift von Dr. Gruber sein könnte. Ich hatte ja nichts, um die Echtheit der Handschrift zu überprüfen. Und kaum hatte ich ihr geschrieben, da stand sie schon persönlich bei mir in der Tür. Sie wollte alles wissen und alles sehen. Sie hat den Brief mehrere Male gelesen und sich schon während der Lektüre kaum mehr beruhigen können. Sie war so aufgeregt, dass ich kaum vernünftig mit ihr reden konnte. Sie hat mich beschworen, meinem Neffen sofort zu schreiben und zu nötigen, er möge das Originaldokument so schnell wie möglich senden. Gleichzeitig wollte sie, dass ich niemandem auch nur ein Wort von dieser Bombe mitteile, die das Dokument ihrer Meinung nach darstellen würde. Das war ihr Sprachgebrauch. Sie hat immer wieder von einer Bombe gesprochen, die, wenn sie explodiert, einige Linzer Bürger um ihr gesamtes Vermögen bringen könnte. Die Schrift ist ohne jeden Zweifel die originale Handschrift von Papa Gruber. Das hat mir Frau Wagner anhand einiger anderer Schriftproben bestätigt. Außerdem hat sie die Kopie dem Rechtsanwalt ihres Arbeitskreises vorgelegt. Der hat gemeint, dass man mit dem Originaldokument sofort einen Antrag auf Einleitung eines Restitutionsverfahrens stellen könnte.«
»Warum wird dieser Priester überhaupt Papa Gruber genannt?«, wollte Korab wissen.
»Weil er sich im KZ so engagiert für die anderen Häftlinge eingesetzt hat«, sagte Frau Rabental. »Er hat es sogar geschafft, eine Suppe für die Gefangenen zu organisieren. Er war sehr stark im Leid und äußerst beliebt bei den anderen Insassen.«
»Und jetzt glauben Sie, dass der Brief und das Dokument etwas mit Frau Wagners Verschwinden zu tun haben?«, fragte Korab.
»Das glaube ich allerdings«, bestätigte Frau Rabental, »aber ich weiß nicht, was. Frau Wagner hat mir hoch und heilig versprochen, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Mein Neffe Jorge hat am Ende des Briefes angedeutet, dass er Geld haben möchte, falls ich am Originaldokument interessiert bin. Ich habe