Liebesmühen. Detlef Klöckner

Liebesmühen - Detlef Klöckner


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in Deutschland. Es ist vorgesehen, nach der Rückkehr zu heiraten. Beiden ist diese Aussicht, die Trennung durchzuhalten, der zukünftige Lohn. Anfänglich hat der junge Mann erhebliches Heimweh und stürzt sich daher umso intensiver in sein Studium. Das fällt ihm leicht und so plätschern die Tage dahin. Er freut sich auf Zuhause. Wenige Wochen vor dem Ende seines Aufenthaltes verliebt er sich in eine amerikanische Kommilitonin. Es ist viel Gefühl im Spiel und nach etlichem Hin und Her entscheidet er, sich von seiner deutschen Freundin zu trennen und in den USA zu bleiben. Beruflich klappt das wunderbar. Was bald nicht mehr funktioniert, ist seine neue Beziehung. Seine amerikanische Freundin wird ihm von Tag zu Tag fremder und er fühlt sich einsam neben ihr. Darauf war er nicht vorbereitet. Obwohl er verliebt ist, fühlt er sich bald außen vor. Sie sei so ›anders‹. Langsam wird ihm klar, dass sein neues Leben einen hohen Preis erfordert. Er muss bereit sein, Vertrautes aufzugeben in der Hoffnung, sich auf Dauer an das Neue und Irritierende zu gewöhnen. Er wird darüber depressiv. Nach einigen Monaten bricht er die Beziehung ab, kündigt seinen Job und geht wieder nach Deutschland. Zu Hause dauert es nur wenige Tage und er fühlt sich jetzt zwar alleine, aber wieder ›eins mit sich‹.

      Da ist jemand an der erforderlichen Selbstentwicklung gescheitert. Nicht jeder Schritt gelingt, so sehr man sich das auch wünschen mag. Seelische Zwiespälte und Grenzen liegen in jedem Mensch verborgen. Jede Wirklichkeit ist mehrschichtig, mehrdeutig und von Gegensätzen durchdrungen. Deshalb besitzt auch jede Situation einen Interpretationsspielraum und stellt jede Kultur andere Möglichkeiten bereit, darauf eine Antwort zu finden. Traditionale Gesellschaften gehen einseitiger und starrer mit der Wirklichkeit um. Es gibt nur dieses eine Leben, das als solches nicht hinterfragt werden kann. Moderne Gesellschaften betonen das Vielseitige und Vergängliche sozialer Umstände, und nahezu alles darf versucht und bezweifelt werden. Traditionale Kulturen fordern mehr ein und führen ihre Mitglieder. Moderne Umgebungen verlangen wenig und überlassen es dem Einzelnen, wohin es gehen soll und wie weit man damit kommt.

      So oder so jongliert die eigene Wahrnehmung immer mit zwei Perspektiven. Eine Grundlage der Wahrnehmung ist ihr kultureller Hintergrund. Das heißt, sie besitzt quasi einen selbstverständlichen Horizont, sozusagen ihr festes Standbein, das im Konzert der unendlichen Möglichkeiten dennoch nur ein winziger Ausschnitt ist, und sie ist, abhängig vom kulturellen Hintergrund, in Maßen kreativ und anpassungsfähig.

      Das Kreative hat einen besseren Klang, liegt der modernen Lebensauffassung näher. Für den heutigen Zeitgenossen gibt es immer eine Alternative. Jedes Ding kann so oder auch anders herum erlebt und behandelt werden. Hören Sie nur mal eine Zeit lang zu, wenn Kunden in einem Laden oder Gäste in einem Restaurant ihre Bestellung aufgeben. Angesichts des meist überwältigenden Warenangebots versetzt die ungebremste Flut an Sonderwünschen in ziemliches Erstaunen. Offenkundig geht es gar nicht darum auszuwählen, sondern persönlich bestätigt und bevorzugt zu werden. Oder lassen Sie sich schildern, wie mehrere Menschen eine bestimmte Situation erlebt haben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Raum und soziale Situation sind beileibe nicht für jeden Menschen dasselbe.

      Individualität und das Nebeneinander verschiedener Standpunkte bildet daher nicht von ungefähr den Kern der modernen Lebensauffassung. Traditionelles Leben hingegen geht davon aus, dass sich Kollektive und Einzelne den Gegebenheiten unterwerfen. Dort ist das Leben ein Imperativ, kein Konjunktiv. Gefühle spielen hier nur eine untergeordnete Rolle. Die leidenschaftliche Liebe, jene sozusagen ultimative Selbstermächtigung des Individuums im Geist der europäischen Aufklärung und Romantik, besitzt in Gesellschaften, in denen der Einzelne den elementaren Kräften der Tradition ausgeliefert ist, keinen vergleichbaren Platz.

      »Als ich nach Deutschland kam, fiel mir als erstes auf, wie frei die Menschen hier sind. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Und wie tolerant. Es schert niemanden, was eine Frau tut. Ich dachte, das ist das Paradies. Mittlerweile habe ich natürlich gelernt, auch hier gibt es Einschränkungen. Aber das sind andere und die sind beileibe nicht so gravierend für eine Frau wie in einer türkischen Kleinstadt. Hier darf ich meinen Gefühlen nachgeben und leben, wie ich will, auch wenn es meiner Familie vielleicht nicht passt.«

      Ambivalenzen und Entwicklungen erzeugen aber hier wie dort widersprüchliche Bedürfnisse. Das beschert uns schwierige Aufgaben. Zur Erhaltung unseres Seelenheils sind wir angehalten, uns den Gegensätzen zu stellen, müssen ständig entscheiden, ob mal mehr das eine, mal das andere zu bevorzugen ist und ob eventuell beides zu seinem Recht kommen darf. Aus Unterschieden entstehen zwangsläufig Spannungen, aber Widersprüche dürfen auch nicht zu groß werden. Sonst gefährdet es das persönliche Gleichgewicht und die Ausgewogenheit der Beziehung. Gegensätze verlangen immer auch nach Kompromissen, die für Ausgleich sorgen. Die vordringliche Aufgabe jedes Einzelnen, jeder Beziehung und Funktion jeder Kultur ist es daher, den natürlichen Kontrast zwischen Erhaltung und Veränderung, zwischen Eigenheit und Gemeinsamkeit wieder erneut in ein passendes Verhältnis zu setzen.

      Selbstverständlich darf man dennoch leidenschaftlich für eine Sache eintreten oder anderes genau so vehement ablehnen. Dafür, dass die Ordnung der Dinge nicht aus dem Lot gerät oder beliebig sortiert wird und nicht jede Situation neu ausgefochten werden muss, sorgt Moral. Moral definiert die Grenze zwischen dem, was geht und verlangt ist, und dem, was ausgeschlossen ist und nicht sein soll. Reicht das nicht aus, um uns in verträglichen Bahnen zu halten, muss das begangene Unrecht nachträglich gesühnt werden und darf man erlittenes Unrecht auch verzeihen. Entsprechende Institutionen und Autoritäten setzen sich für eine konsequente Umsetzung verbindlicher Lebensregeln ein und ahnden, wenn es sein muss, Verstöße. Mehr kann eine Gesellschaft nicht tun, so ist es für Konflikte und Krisen wenigstens gedacht und muss für unsere Zwecke nicht weiter hinterfragt werden.

      Da trotzdem die jeweils vorgegebene öffentliche Ordnung zu beachten und es erforderlich ist, genügend Selbstkontrolle aufzubringen, fällt es jedem Menschen schwer, sich manchen Tatsachen des Lebens zu beugen. Das Undisziplinierte, Aufsässige und ein gewisses Maß an Intoleranz wohnt in uns allen. Das darf an dieser Stelle deshalb auch vernachlässigt werden.

      Ich möchte aber im Zusammenhang von Ambivalenz und Moral unbedingt eine Einstellung ansprechen, die in der Liebe gerne als radikal integer beziehungsweise kerzengerade missverstanden wird. Es geht um die häufig beobachtbare menschliche Eigenschaft, Freiheit und Wahrheit in Absolutheitskategorien zu beanspruchen. Mit unerbittlicher Härte gegen andere Menschen anzugehen, die sich so pauschal nicht festlegen können, zweifeln und zögern, die unbedarft vorgehen oder einfach nur weniger kategorisch auftreten, besitzt, so paradox es auf den ersten Blick klingt, eine leidenschaftslose Qualität.

      Leidenschaft ist die Kraft und der Prozess, der menschlichen Wandel bewirkt. Das setzt allerdings voraus, dass man etwas mit sich passieren lassen kann, das bisher nicht zum eigenen Repertoire gehörte, oder zumindest etwas überwinden will, das bisher wie selbstverständlich bestanden hat. Für Letzteres, so glauben kompromisslose Menschen, würden sie sich einsetzen. Meiner Meinung nach immunisieren sich die Kompromisslosen aber mehr gegen eigene Untiefen und Schwächen. Anders ausgedrückt: Sie fürchten die Abhängigkeit von komplizierten und diffusen Umständen, die sich ihrer Kontrolle entziehen, und sie verweigern Anpassungsleistungen, die ihnen aufgezwungen werden könnten.

      Unerbittliche Menschen sind nicht im Besitz von unwiderlegbaren Gewissheiten oder gar ohne Zweifel. Sie sind auch nicht wirklich überzeugender oder weniger korrumpierbar als andere. In erster Linie sind sie starr und damit nach heutigen Maßstäben intolerant, unfähig, eine Beziehung von gleich zu gleich einzugehen.

      Henry Roth beschreibt diese Starrköpfigkeit in einer Episode seines Romans Der Amerikaner. (Roth 2011) Zwei Männer fahren durch die Vereinigten Staaten. Wir schreiben den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der eine, ein kommunistischer Werftarbeiter, der vordergründig Aktivere und Ältere von beiden, sieht jede Begebenheit auf der Fahrt durch eine Brille, die nur richtig und falsch kennt. Richtig ist für ihn eine Frage der Herkunft und des eigenen Wesens. Der Jüngere, ein jüdischer Schriftsteller, unerwachsen und zaudernd, ist den neidvollen Abwertungen seines Freundes hilflos ausgesetzt. Er kann sich nicht gegen ihn wehren. Da ist kein


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