Das Menschenbild für die Heilpädagogik. Urs Haeberlin

Das Menschenbild für die Heilpädagogik - Urs Haeberlin


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      9. Ein Menschenbild für den Behinderten?

      Abgesang

      Literaturverzeichnis

      Menschenwert

      Der Mensch: nichts und alles.

      Von allem Laub, das vorüberging

      In Jahrtausendherbsten unendlichen Falles

      Ein Blatt, bald verweht, ein geringes Ding.

      Sein Herz ein Funke in Myriaden

      Die über des Himmels Finsternis gehn,

      Von des Ewigen quellender Unrast doch ganz beladen,

      An seinem verlorenen Orte tröstlich und schön.

      Liebender Wollust und einer Kreissenden Marter,

      In Kriegen verschwendet, verworfen und nicht gezählt,

      In seinem Inneren jeder von heimlich zarter

      Verwundbarkeit und vor Gott erwählt.

      Seine Geschichte: Blut, Schandtat, doch für die Blüte

      Der Schönheit an Domen und Sinfonien,

      Für eines Auges still träumende Menschengüte

      Ist ihm in Ewigkeit und von Grund auf verziehn.

      Albin Zollinger

      1895–1941

      1. Problemstellung

      Dieses Buch befasst sich mit dem Menschenbild, welches den erzieherischen Umgang des Heilpädagogen mit dem behinderten Kind beeinflussen soll. Ziel ist die gedankliche Hinführung des Lesers zur Entscheidung für die Werte der Würde und der Gleichheit aller Menschen. Das Postulat von heilpädagogischen Grundwerten finden wir schon bei Heinrich Hanselmann. Wenn wir von seiner zeitbezogenen und oft eigenwilligen Begrifflichkeit absehen, dann kann ich behaupten, dass ich mit Hanselmann der Meinung bin, dass Heilpädagogik nicht einfach eine «Aufpäppelung des Schundes» und des «Abfalls der Menschheit» sei, sondern eine «Aufbauarbeit in der Richtung auf die individuelle und kollektive Menschenwürde» (1958, 550). Betrachteten wir den Behinderten als «Abfall der Menschheit», würden wir uns an einem Menschenbild orientieren, das zwischen eigentlichen Menschen und Untermenschen trennt; diese Auffassung würde unsere Einstellung und unser Verhalten gegenüber dem behinderten Kind entscheidend beeinflussen. Wenn wir hingegen dem Behinderten die gleiche Menschenwürde zusprechen wie uns selbst, dann wird sich diese Auffassung ebenfalls im Verhalten gegenüber dem behinderten Kind niederschlagen. In der vorliegenden Heilpädagogik ist die Entscheidung für die zweite Auffassung unwiderruflich gefallen. Diese Entscheidung bedeutet: Eine heilpädagogische Anthropologie darf sich nicht von einer umfassenden Anthropologie unterscheiden. Anders ausgedrückt: Wir haben uns dafür entschieden, dass für das behinderte Kind das gleiche Menschenbild Gültigkeit haben soll wie für uns selbst. Die Suche nach einem Menschenbild wird also im vorliegenden Rahmen nicht in erster Linie Suche nach einem Menschenbild für das behinderte Kind sein, sondern Suche nach einem Menschenbild, das für uns selbst Gültigkeit hat. Aufgrund der gefällten Entscheidung müssen wir ein für uns gültiges Menschenbild finden, welches im gleichen Sinne Gültigkeit für behinderte, bzw. für alle Menschen haben kann. Die Entscheidung für die gleiche Würde aller Menschen ist nicht rationallogisch begründbar. Es handelt sich um eine Wertentscheidung und ist als solche einer rationalen Begründung nicht zugänglich. Es lässt sich aber zeigen, dass derartige anthropologische Entscheidungen das praktische Handeln der Erzieher, die Erkenntnisse der Wissenschaft und Vorstellungen der Wissenschaft von den der Heilpädagogik angemessenen Erkenntnismethoden beeinflussen. Es spielt keine Rolle, ob wir uns als Praktiker oder ob wir uns als Wissenschaftler mit Heilpädagogik befassen; in beiden Fällen bildet ein Menschenbild die Grundlage unseres Tuns und unseres Erkennens.

      Wenn wir uns als Praktiker ohne Wissenschaft (ohne «Theorie») mit der Erziehung behinderter Kinder beschäftigen, machen wir uns dennoch – möglicherweise ohne Bewusstsein – ein Bild vom behinderten Kind; solange wir uns dieses Bild bewusst machen, kann es viele Elemente von Vorurteilen aufweisen. Im Alltag wird die heilpädagogische Praxis relativ häufig von festen behinderungsspezifischen Meinungen über das besondere Wesen eines behinderten Kindes geprägt. Beispielsweise hat man festgestellt, dass im Alltagsleben relativ viele Menschen einem Sonderschüler ein besonderes Wesen zuschreiben. Man macht sich ein festes Bild von Kindern, die eine spezielle Klasse besuchen müssen, und wird damit dem menschlichen Bedürfnis nach Vereinfachung und Klassifizierung gerecht. Ob dieses Bild den Sonderschülern gerecht wird, wird dann gar nicht mehr gefragt. Sonderschüler werden im Alltag häufig ihrem Wesen nach als faul, frech und streitsüchtig gesehen; teilweise wird diesen Kindern direkt die Schuld dafür zugeschrieben, dass sie keine positiven Eigenschaften entwickelt haben. Dahinter steckt die nicht bewusste Alltagsmeinung, dass jeder Mensch einen freien Willen habe, mit dem er so oder so umgehen kann. Wer mit diesem Menschenbild Kinder klassifiziert, wird dann eben eine Unterscheidung treffen zwischen Kindern, welche ihren Willen für die Entwicklung positiver Eigenschaften einsetzen, und Kindern, welche gleichsam böswillig negative Eigenschaften entwickeln. Dieses Menschenbild kann relativ leicht zur Schuldigsprechung des Kindes führen: «Wenn ein Kind eben nicht richtig will, dann ist es selbst schuld».

      Da es ein menschliches Bedürfnis nach Vereinfachung und Klassifizierung gibt, ist es nicht zu verhindern, dass wir uns Bilder von Menschen und Menschengruppen machen. Aber es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir uns der Klassifikation und deren Folgen bewusst sind, oder ob wir mit nicht-bewussten Menschenbildern unser Leben und das Leben anderer gestalten. Im zweiten Falle kommt es zur Gewohnheit, andere Menschen zu verurteilen, ohne es zu wissen.

      Dieses Buch möchte erreichen, dass sich heilpädagogisch Tätige der Gefahren solcher Gewohnheiten bewusst werden. Es soll dazu anregen, sich während der heilpädagogischen Arbeit immer wieder die Frage zu stellen, welches allgemeine Menschenbild und welches Bild von diesem oder jenem behinderten Kind das eigene erzieherische Handeln beeinflussen. Das vorliegende Buch hat sein Ziel dann erreicht, wenn es zur Selbstkritik und Selbsterkenntnis von Heilpädagogen und anderen Personen in helfenden Berufen anregt.

      Der wissenschaftlich arbeitende Heilpädagoge steht ebenso in der Gefahr, dass er durch die Brille von Theorien zu Meinungen kommt, die zwar wissenschaftlich formuliert tönen, aber ebenfalls ein nicht-bewusstes allgemeines Menschenbild und ein nicht-bewusstes Bild vom behinderten Kind enthalten. Beispielsweise hat es immer wieder Theoretiker gegeben, welche den behinderten Menschen einseitig durch die Brille einer medizinischen Sichtweise sehen. Solche Theoretiker konzentrieren sich auf die Untersuchung von Ursachen der Behinderung in der physischen und psychischen Konstitution des Betroffenen. Durch die Brille solcher Theoretiker ergibt sich relativ schnell eine Gleichsetzung von Menschsein mit Gesundsein. Was von der Gesundheit abweicht, erscheint dann als abweichend vom sinnvollen Menschsein. Damit vollzieht der Theoretiker, trotz scheinbarer wissenschaftlicher Objektivität, eine negative Wertung von bestimmten Formen des Menschseins. Da es dabei auch um den Begriff der Gesundheit im psychischen Bereich geht, ist der Schritt zu einem Menschenbild, das sich an Werten wie Schönheit und Stärke orientiert, schnell gemacht. Wenn ein Theoretiker diesen Schritt macht, dann wird ein negatives Bild des heilerziehungsbedürftigen Menschen die Grundlage seiner Heilpädagogik bilden: Im Rahmen eines so entstandenen Menschenbildes erhält Behindertsein eine vorwiegend negative Bedeutung als Abweichung von einer Normalität des Gesunden, Schönen und Starken. Im Behinderten wird ein defekter Mensch gesehen. Wenn der Defekt nicht behoben werden kann, bleibt eigentlich nur noch die Resignation.

      Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie auch auf der Ebene der Wissenschaft Menschenbilder geschaffen werden, die sich negativ auf die Beziehung zum behinderten Kind auswirken. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Probleme des Behindertseins kommen in der Regel dadurch zustande, dass die Probleme durch die Brille einer einengenden Theorie geordnet und strukturiert werden. Theorien strukturieren die Probleme meistens so, dass nur ein bestimmter Aspekt des Phänomens Behinderung in seiner Ganzheit wissenschaftlich untersucht wird. Es gehört sogar zum Wesen einer bestimmten Art von wissenschaftlichem Denken, zu zergliedern, mit vereinfachenden Modellen zu forschen und sich in das Studium von Teilaspekten zu vertiefen. Wissenschaft steht immer in der


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