Das Menschenbild für die Heilpädagogik. Urs Haeberlin

Das Menschenbild für die Heilpädagogik - Urs Haeberlin


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geht zuallererst an uns selbst.

      Ich gehe ganz unwissenschaftlich von der Frage an mich selbst aus: Wann habe ich selbst das Gefühl, auf dem Wege der Vermenschlichung zu sein und erfülltes Menschsein zu erleben? Und wann habe ich den Eindruck, dass andere Menschen ein ähnliches Gefühl haben? Einen ersten Antwortversuch habe ich bereits im vorherigen Kapitel angedeutet: Ich habe den Eindruck, jeweils dann einem erfüllten Menschsein näher zu kommen, wenn ich der Überzeugung sein kann, dass ich mir selbst treu bleibe. Oder anders ausgedrückt: Ich glaube, dass man dem Ziel der Vermenschlichung dann näher kommt, wenn es einem gelingt, das eigene Leben als etwas in sich Zusammenhängendes zu empfinden, gedanklich zu erfassen und zu gestalten. Dieses Erlebnis der Einheitlichkeit der eigenen Person nenne ich das Erlebnis eigener Identität. Als Ziel der Vermenschlichung können wir somit das überdauernde Erleben von Identität bezeichnen.

      Damit habe ich allerdings nur neue Wörter eingeführt. Und wir werden uns mit Fragen von der folgenden Art zu beschäftigen haben: Was ist die Identität des Menschen? Wie kann ein Mensch seine Identität finden? Bevor ich auf einzelne Identitätstheorien eingehen werde, möchte ich in einem ersten Vorgriff zeigen, auf welche grundlegende Problematik wir bei unserer Auseinandersetzung mit der Frage nach menschlicher Identität stossen werden.

      Das Gefühl, sich selbst treu zu sein, kann man sich als das Ergebnis von zwei gegensätzlichen Prozessen vorstellen: Einerseits kann man sich die Identität des Menschen vorstellen als das Ergebnis eines harmonischen Hineinwachsens in die Gewohnheiten und Rituale einer Gesellschaft. Der sich so entwickelnde Mensch fühlt sich als Einheit, weil er die gesellschaftlichen Gewohnheiten und Rituale verinnerlicht und sein Denken, Fühlen und Handeln dadurch leiten lässt. Andererseits kann man sich die Identität des Menschen auch vorstellen als das Ergebnis einer Entwicklung zur selbständigen Bestimmung des eigenen Denkens, Fühlens und Tuns. Dabei nimmt man ein Selbst an, welches unabhängig von gesellschaftlichen Gewohnheiten ist. So gesehen würde Identität dadurch entstehen, dass ein Mensch im Denken, Fühlen und Handeln einer selbstbestimmenden Linie folgt und keinen gesellschaftlichen Zwängen unterliegt. Es ist das wichtigste Ziel dieses Buches, das Verhältnis zwischen diesen beiden gegensätzlichen Ansichten zu klären. Vorausblickend sei verraten, dass ich mich bemühen werde, das «Entweder-Oder» in ein «Sowohl-Als-Auch» überzuführen.

      Die gegensätzlichen Vorstellungen von Identität sind im Verlaufe der Geschichte immer wieder zu konkurrenzierenden Erziehungszielen erhoben worden. Zu welcher Erziehungsrealität die verabsolutierte These vom Hineinwachsen in und Anpassen an die gesellschaftlichen Erfordernisse und Gewohnheiten führen kann, zeigt beispielsweise die Erziehungsgeschichte des klassischen Altertums: Sparta verstand sich als ein Staatswesen, an welches die Jugend mit allen Mitteln angepasst werden musste. Dem Ziel der Anpassung an die Anforderungen des Staates entsprach die organisierte Erziehung der Kinder und Jugendlichen: Die männliche Jugend musste mit 7 Jahren in erzieherische Formationen nach militärischem Muster eintreten. Sie wurden bis zum 20. Lebensjahr von Jugendführern mit harter Zucht gedrillt. Die Jugendlichen wurden mit unmenschlich anmutenden Mitteln abgehärtet, z.B. durch Geisselungen, Nahrungsentzug, harte Bestrafung bei kleinsten Delikten. Solche Abhärtungserlebnisse sollten die Solidarität in den Jugendgemeinschaften fördern (vgl. Reble, 1964, 18).

      Zu welcher Erziehungsrealität die verabsolutierte These von der Selbstbestimmung des Menschen führen kann, finden wir vorwiegend in Erziehungsutopien, welche zwar die pädagogische Diskussion befruchtet haben, aber in ihrer Einseitigkeit Literatur geblieben sind. In erster Linie ist hierzu als Beispiel Rousseau zu nennen, der seinen Emile als einen «homme abstrait», also einen abstrakten, theoretisch konstruierten Menschen bezeichnet hatte; dadurch ist der utopische Charakter des Erziehungsbuches dokumentiert. In Rousseaus Erziehungsutopie wird das Kind den gesellschaftlichen Einflüssen entzogen, und es soll sich ausserhalb dieser Einflüsse nach seinen inneren Gesetzen zum selbständigen Menschen entwickeln. Erziehung hat hier in erster Linie Schutzfunktion: Sie soll das Kind vor den gesellschaftlichen Einflüssen schützen, welche den inneren Entwicklungsgesetzen zuwiderlaufen.

      Die Vorstellung von Identität als Ergebnis des Hineinwachsens in die Gesellschaft nenne ich «sozialbestimmte Identität». Die Vorstellung von Identität als Ergebnis einer Entwicklung des individuellen Selbst nenne ich «personbestimmte Identität». Stehen wir damit vor einer Entscheidung für das eine oder das andere? Beide Möglichkeiten der Entscheidung könnten sich als unbefriedigend herausstellen: Die Entscheidung für die sozialbestimmte Identität könnte im Widerspruch zu unserer Grundentscheidung für die allgemeine Menschenwürde und die Allgemeinheit des Menschenbildes stehen; Gesellschaften sind in der Regel durch Ungleichheiten gekennzeichnet, so dass Anpassung in der Regel Anpassung an die Ungleichheiten heisst. Die Entscheidung für die personbestimmte Identität könnte uns zu realitätsblinden Utopisten machen; denn wir würden übersehen, dass Gesellschaften eigengesetzliche Organismen sind, deren Zellen aber die einzelnen Menschen bilden. Eine einzelne aus dem Organismus herausgetrennte Zelle ist kein selbständiges Lebewesen. Es ist meine Absicht, den Leser in meine Bemühungen um eine Verbindung zwischen sozialbestimmter und personbestimmter Identität einzuführen. Darauf zielen alle weiteren Überlegungen ab; Umwege im Argumentieren werden dabei unvermeidlich sein.

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