Das Menschenbild für die Heilpädagogik. Urs Haeberlin
von Ideologien, von Modeströmungen werden. Diese Gefahr droht uns, wenn wir aufhören, über die Grundlagen unseres Handelns nachzudenken, weil uns der Kleinkram der Praxis völlig in Beschlag nimmt. Was unser Tun lenkt, ohne dass wir uns dessen bewusst zu sein brauchen, nennen wir Alltagstheorien. Wenn sich der Praktiker darüber bewusst wird und beginnt, über die versteckten Alltagstheorien nachzudenken, wird er Wissenschaftler und Philosoph. Um dies zu werden, braucht man weder eine Universität zu besuchen noch wissenschaftliche Bücher gelesen zu haben. Ich möchte zwei Beispiele von Alltagstheorien skizzieren, welche die Praxis unterschiedlich beeinflussen können.:
Erstes Beispiel einer Alltagstheorie
Es gibt im Alltag eine Sichtweise, welche die Entwicklungshemmung eines Menschen ausschliesslich durch eine «abnormale» oder «geschädigte» physische oder psychische Konstitution des betreffenden Menschen erklärt. Der entwicklungsgehemmte Mensch wird bei dieser Sichtweise als «abnormal», «geschädigt», «krank», «defekt» gesehen. Durch die Brille dieser Alltagstheorie kann nicht-bewusst die schwerwiegende Entscheidung getroffen werden, dass menschliches Leben nur als gesundes Leben sinnvoll ist. Gesundheit im körperlichen Bereich zu definieren mag relativ einfach sein; aber Gesundheit im psychischen Bereich zu definieren, ist ein Vorgang, der mit vielen wertenden Vorstellungen über den «normalen» Menschen verbunden ist. Bei einer solchen nicht-bewussten Bewertung des menschlichen Lebens kann sich folgendes ereignen:
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch wird als Mensch mit einem «Defekt» gegenüber dem «Gesunden» gesehen. Es wird vom Heilpädagogen erwartet, dass er den Defekt behebt, damit der betreffende Mensch nicht mehr dadurch auffällt oder wenigstens die «gesunden» Menschen nicht belästigt.
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch kommt zu einer Auffassung über sich selbst, die besagt: Ich bin ein defekter Mensch und muss mir also Mühe geben zu werden wie die «Normalen» bzw. die «Gesunden».
– Die Resignation beim Heilpädagogen und beim Entwicklungsgehemmten muss sich automatisch einstellen; denn ein Grossteil von Entwicklungshemmungen lässt sich nicht so heilen, dass der «Defekt» verschwindet. Ein Geistigbehinderter bleibt geistigbehindert; aus einem lernbehinderten Kind wird kein erfolgreicher Normalschüler; ein autistisches Kind wird nicht in jedem Fall zu einem «normalen» Kind.
Diese Alltagstheorie kann sich unter bestimmten äusseren Bedingungen so durchsetzen, dass radikale Massnahmen gegenüber Behinderten ergriffen werden. Sie konnte im Rahmen einer totalitären Ideologie zu extremen Auswüchsen wie dem von Adolf Hitler unterzeichneten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und zur Vernichtung von «unwertem Leben» in unvorstellbarem Ausmass führen.
Zweites Beispiel einer Alltagstheorie
Es gibt eine im heutigen Alltag ebenfalls verbreitete Sichtweise, welche die Entwicklungshemmung eines Menschen ausschliesslich durch das Verhalten der näheren sozialen Umwelt erklärt. Die Eltern, die Lehrer, die Sozialarbeiter, usw. sind es bei dieser Sichtweise, die einen Menschen zum entwicklungsgehemmten Menschen «machen». Bei einer unüberlegt einseitigen Sicht durch die Brille dieser Alltagstheorie kann sich folgendes ereignen:
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch wird nur als ein Opfer der sozialen Umwelt gesehen. Man ist der Meinung: Wenn diese soziale Umwelt nicht andauernd abweichendes Verhalten herausgefordert und erwartet hätte, wäre er nicht entwicklungsgehemmt geworden.
– Die Resignation wird sich ebenfalls einstellen. Denn es wird dabei übersehen, dass viele Entwicklungshemmungen ohne die Annahme von konstitutionellen Ursachen nicht angemessen verstanden werden können. Beispielsweise ist ein Geistigbehinderter in der Regel medizinisch nachweisbar geschädigt; und diese Schädigung wirkt sich auf die Entwicklungsmöglichkeiten des betroffenen Menschen aus.
Durch die Brille dieser Alltagstheorie kann nicht-bewusst eine von zwei gegensätzlichen Entscheidungen über menschliches Leben getroffen werden:
– Entweder trifft man die Entscheidung, dass das durchschnittlich normale menschliche Leben das sinnvolle Leben ist.
– Oder man trifft die Entscheidung, dass das durchschnittlich normale menschliche Leben als Erzeuger von entwicklungsgehemmten Menschen auf seinen Sinn hin zu überprüfen und zu behandeln ist. Diese Entscheidung kann unter Umständen zu weiteren Entscheidungen bis hin zum gewaltsamen revolutionären Umsturz unserer gesellschaftlichen Verhältnisse führen.
Man könnte weitere Beispiele suchen, welche zeigen, dass es im Alltag sehr folgenreiche Auffassungen über das Wesen des Menschen im Allgemeinen und über das Wesen des entwicklungsgehemmten Menschen im speziellen gibt. Wenn man einerseits nicht ohne bewusste oder nicht-bewusste Anwendung von anthropologischen Alltagstheorien erziehen kann, und wenn man andererseits mit jeder Alltagstheorie wertende Auffassungen über das Wesen des Menschen vertritt, dann muss das Fundament der Heilpädagogik durch die Suche nach einem Menschenbild gelegt werden.
Wenn man eine Alltagsmeinung über das Wesen des Menschen und über die Bedeutung von Behinderungen unbesehen und unüberlegt vertritt, läuft man Gefahr, ein Menschenbild anzuwenden, welches man möglicherweise gar nicht vertreten möchte. Erst wenn wir bewusst eine Entscheidung treffen, welches Menschenbild gelten soll, können wir bewusst pädagogische Verantwortung übernehmen und auch einzelne heilpädagogische Behandlungsmethoden mit gutem Gewissen anwenden. Ich halte es für unangemessen und verantwortungslos, Behandlungsmethoden zu vertreten und anzuwenden, ohne das Menschenbild zu kennen, welchem die Behandlungsmethode dient. Die Verpflichtung des Heilpädagogen auf ein Menschenbild soll sich nicht durch die unreflektierte Übernahme einer Behandlungsmethode ergeben. Der Vorgang soll umgekehrt sein: Das Menschenbild soll durch bewusstes Nachdenken erarbeitet werden. Die gewählten heilpädagogischen Einzeltheorien und Behandlungsmethoden sollen damit übereinstimmen.
2.3 Identität als Ziel der menschlichen Entwicklung
Wenn wir als Heilpädagogen die Suche nach den anthropologischen Grundlagen unseres Tuns ernst nehmen, dann lässt uns die Frage während unseres ganzen Lebens nicht mehr los, welches das Ziel der Entwicklung jedes menschlichen Individuums sei. Man kann die Frage so stellen: In welcher Richtung soll sich jeder Mensch entwickeln, damit man sagen kann, er habe sich vermenschlicht und ein erfülltes Menschsein realisiert? Unter heilpädagogischer Perspektive spitzt sich das Problem zudem auf die Frage zu, wie sich die allgemeine Vorstellung von Vermenschlichung auf die Haltung gegenüber dem Schwerbehinderten auswirkt. Die Frage nach den anthropologischen Fundamenten enthält als Kernfrage immer die Ziel- und Sinnfrage bezogen auch auf Extremvarianten menschlichen Seins. Notwendigerweise sind anthropologische Fragestellungen für den Pädagogen normative Fragen. Denn wir wollen nicht nur beschreiben, was heute alles durch Erziehung erreicht wird; sondern wir wollen festlegen, welches verbindliche Ziele der Erziehung sind. Als Abkürzung für den Prozess der Entwicklung auf die festzulegenden Ziele hin habe ich das Wort «Vermenschlichung» eingeführt.
Solange die Ziele nicht festgelegt sind, ist der Begriff «Vermenschlichung» formal und unbrauchbar. Wenn aber die Ziele festgelegt sind, handelt es sich um einen wertenden Begriff. Dadurch unterscheidet er sich vom Begriff «Entwicklung», beziehungsweise er ist eine Abkürzung der Wendung «Entwicklung zu den und den Zielen».
Da es in diesem Buch um die Beantwortung von normativen Fragen geht, komme ich nicht darum herum, Wertentscheidungen zu treffen. Für eine heilpädagogische Anthropologie halte ich die Entscheidung für den Wert des gleichen Anspruchs aller Menschen auf Vermenschlichung für absolut notwendig. Diese Wertentscheidung bedeutet: Jeder Mensch soll das gleiche Recht auf Hilfe zur gleichen Vermenschlichung haben. Die Wertentscheidung bedeutet, dass jedes Menschenbild unbrauchbar und verwerflich ist, welches zweigeteilt ist: Einerseits ein Menschenbild für die Nicht-Behinderten, die «Normalen», und andererseits ein Menschenbild für die Behinderten, die «Anormalen». Allgemeiner formuliert bedeutet unsere Wertentscheidung: Es darf keine gruppen- oder klassenspezifische Vermenschlichung geben. Ziele der Vermenschlichung, welche einer Elite reserviert bleiben, sind als fragwürdige Ziele aus unserem Menschenbild auszuscheiden.
Es geht im Folgenden in erster Linie um meine persönliche Suche nach einer Bestimmung