Das Menschenbild für die Heilpädagogik. Urs Haeberlin
gefundene Teilerkenntnis als Gesamterkenntnis behandelt wird, führt dies zu einem nicht-reflektierten Menschenbild, durch welches alle Wahrnehmung von Behindertsein gefiltert wird. Somit steht auch der Wissenschaftler in der Gefahr, sich über das Menschenbild, welches seine Erkenntnisse leitet, keine Rechenschaft mehr abzulegen. Wie im Alltagsleben kann es auch im wissenschaftlichen Leben (als Teil des Alltagslebens) zu einem Komplex von Vorurteilen kommen, welche dem behinderten Menschen die allgemeine Menschenwürde absprechen.
Diese Feststellungen über Praxis und Theorie lassen sich in der folgenden These formulieren: Auffassungen über das Wesen des Menschen allgemein und über das Wesen des Behinderten im Speziellen sind in der praktischen und in der wissenschaftlichen Heilpädagogik vorfindbar. Nicht nur jede Alltagsmeinung, sondern auch jede wissenschaftliche Erkenntnis über Probleme des Behindertseins enthält eine anthropologische Komponente, welche unsere Beziehung zum behinderten Kind, bzw. zum Mitmenschen überhaupt grundlegend beeinflusst.
Aus dieser These ergibt sich zwingend die Forderung nach einem logisch ersten Schritt beim Aufbau einer praktischen oder theoretischen Heilpädagogik: Es sollen die Grundzüge jenes Menschenbildes gesucht und diskutierbar gemacht werden auf welchen heilpädagogische Erkenntnis und heilerzieherische Tätigkeit basieren sollen. Wenn wir von der anfangs formulierten Grundentscheidung für die Einheit des Menschenbildes ausgehen, muss die vorliegende Schrift Anregungen zur Lösung der folgenden Probleme geben:
Der praktische und der wissenschaftliche Heilpädagoge muss sich über die Grundhaltung zum eigenen Menschsein klar werden. Er muss für sich selbst eine Vorstellung davon erarbeiten, wie er sich selbst als Mensch und wie er sein Verhältnis zu den anderen Menschen definieren will. Der erste Schritt in einer heilpädagogischen Anthropologie, in der es um die allgemeine Menschenwürde geht, ist gerade nicht der Schritt zu einer speziellen Anthropologie der Behinderten; sondern es geht um Selbsterkenntnis und Selbsterziehung des Heilpädagogen als Mensch. Da ich mich dazu entschieden habe, dass für alle Menschen das gleiche Menschenbild Gültigkeit haben soll, kann es nicht eines für die Behinderten und eines für mich als Heilpädagogen geben.
Obschon das vorliegende Buch eine heilpädagogische Anthropologie sein will, geht es darin nicht um die Erarbeitung einer Anthropologie der Behinderten. Sondern es geht in erster Linie um die Erarbeitung eines Menschenbildes, das für uns Heilpädagogen Gültigkeit haben soll. Wenn wir für uns selbst um ein Menschenbild ringen, das als Grundlage die Entscheidung für die allgemeine Menschenwürde hat, wird es alle Menschen, auch den behinderten Menschen, mit umfassen. Somit wird es in diesem Buch um uns selbst gehen. Wir werden primär der Frage nach uns selbst nachgehen. Erst wenn wir zufriedenstellende Antworten auf die Frage nach unserer eigenen Identität gefunden haben, dürften wir den Schritt zu Fragen nach Identitätsproblemen von Behinderten machen.
Ich werde von der These ausgehen, dass wir unsere menschliche Identität dann entwickeln können, wenn wir das Gefühl haben, unsere Person sei etwas in sich Zusammenhängendes bezüglich des Fühlens, Denkens und Tuns. Dieses Identitätsgefühl ist das Ziel unserer Vermenschlichung. Mit «Vermenschlichung» bezeichne ich den lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung, der nie endgültig an ein Ziel gelangen kann. Der «gute» Heilpädagoge ist derjenige, der sich lebenslang um die eigene Vermenschlichung bemüht und der sich mit demselben Ziel der Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher widmet. Ein Heilpädagoge, der dies nicht tut, wird entweder das Kind durch andauernde äussere Geschäftigkeit verunsichern oder so in Routine erstarren, dass er ohne Ausstrahlung von Freude und innerem Erfülltsein bleibt.
Die Frage nach unserer eigenen Identität wird uns zur folgenden existentiellen Grundfrage führen:
– Bin ich das, was ich heute bin, geworden, weil es das zufällige Schicksal so bewirkt hat?
– Oder bin ich das, was ich heute bin, durch meine eigene Entscheidung und Leistung geworden?
Diese Grundfrage lässt sich auch so formulieren: Bin ich ein Subjekt mit Freiheitsspielraum oder bin ich ein Spielball undurchschaubarer gesellschaftlicher Mächte?
Die Grundfrage begegnet uns in verschärfter Form, wenn wir nach der Identitätsentwicklung von behinderten Kindern fragen:
– Sind wir der Meinung, dass ein behinderter Mensch Subjekt bleiben soll, auch wenn die Behinderung noch so schwer ist?
– Oder sind wir der Meinung, dass ein Mensch umso mehr als abhängiges Objekt behandelt werden soll, je stärker die Behinderung ist?
Im Verlaufe unserer Untersuchungen werden sich diese Fragen immer deutlicher als die Schlüsselfragen herausstellen.
2. Heilpädagogik und Menschenbild
2.1 Die Fragestellungen einer heilpädagogischen Anthropologie
Heilpädagogik ist in erster Linie Pädagogik. Somit werden wir uns mit den gleichen Fragestellungen beschäftigen wie die pädagogische Anthropologie. Diese hat in ihren Fragestellungen die Besonderheit des Erziehungsprozesses zu berücksichtigen. Erziehung umfasst die Hilfestellungen, durch welche sich ein Mensch von einem aktuellen unfertigen Zustand zu einem von Erziehungsverantwortlichen als aufgegeben empfundenen Zustand fortentwickeln soll. Kurz: Erziehung ist Hilfe bei der Entwicklung von einem Ist-Zustand zu einem Soll-Zustand. Oder noch kürzer: Erziehung ist Hilfe zur Vermenschlichung. Bei dieser erzieherischen Hilfestellung wird seitens der Erzieher angenommen, dass der als aufgegeben empfundene Soll-Zustand mehr Lebenssinn hat als der aktuell gegebene Zustand. Damit ergeben sich die folgenden drei Grundfragen einer pädagogischen Anthropologie:
1. Was ist der Mensch besonderes, wenn man ihn mit den übrigen Lebewesen vergleicht? – Es kann um die Frage gehen, ob im Menschen alles Besondere so angelegt ist, dass er sich am besten ohne Eingriff von aussen entwickelt. Diese Frage beantwortete Rousseau mit der Annahme, dass das Kind von Natur aus schon mit allem Besonderen ausgestattet sei. Es kann um die Frage gehen, ob der Mensch von Natur aus ein Lebewesen mit Mängeln sei, das im Unterschied zu allen anderen Lebewesen nur durch Erziehung überleben und zum Menschen werden kann.
2. Was soll der Mensch Besonderes werden? Welches ist das Ziel, zu dem sichjeder einzelne Mensch entwickeln soll? Beispielsweise geht es um die Frage, ob das Ziel der Erziehung eines Kindes der autonome Vernunftmensch zu sein habe, oder ob das Ziel der Erziehung ein Mensch sein soll, der sich fraglos einem Kollektiv unterordnet?
3. Welchen Sinn hat es, das menschliche Leben als etwas sich zwischen Sein und Sollen Entwickelndes zu verstehen? Welchen Sinn hat es, einen Menschen auf einen Soll-Zustand hin zu erziehen und ihn nicht im Ist-Zustand zu belassen? Beispielsweise geht es um die Frage, ob der Sinn der Erziehung darin liegt, dass sich mit ihrer Hilfe kulturelle Werte von Generation zu Generation erhalten können? Oder liegt der Sinn eher im Erreichen einer möglichst ungehemmten Bedürfnisbefriedigung?
Wenn wir diese Grundfragen nicht klären, dann werden wir als Heilpädagogen häufig Therapien anwenden, von welchen wir gar nicht wissen, im Dienste welcher übergeordneten Ziele sie stehen. Wir stellen uns damit in den Dienst irgendeiner Weltanschauung, ohne dies zu merken.
Der Heilpädagoge wird mit einer vierten Frage besonders intensiv konfrontiert:
4. Welche Bedeutung hat Behindertsein für uns Menschen? Wenn ein Mensch behindert ist, dann kann dies für ihn unter Umständen bedeuten, dass seine Vermenschlichung gehemmt oder erschwert ist. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob Behindertsein für Nicht-Behinderte die Bedeutung haben soll, sich über die eigene «Normalität» zu freuen? Oder soll Behindertsein bedeuten, dass sich alle Menschen ihrer Unvollkommenheit bewusst werden?
2.2 Gefahren von nicht-bewussten Menschenbildern
Ich habe bereits im vorherigen Kapitel darauf hingewiesen, dass die Klärung von anthropologischen Grundfragen für die heilpädagogische Praxis unbedingt erforderlich ist. Ich möchte im Folgenden nochmals etwas ausführlicher auf die wichtigste Begründung dieses Postulats eingehen: Wir wären in der heilpädagogischen Praxis handlungsunfähig, wenn unser Tun nicht spontan durch den Filter eines bestimmten Menschenbildes vorsortiert würde. Aufgrund dieser Notwendigkeit stehen wir als reine Praktiker andauernd in der Gefahr, dass wir uns wegen Arbeitsüberlastung