Goldene Hände. Margrit Stamm
in der Bildungsverwaltung, bei Betrieben, Lehrkräften und Medienschaffenden zu sein.
Nachteilig an den Dossiers ist allerdings, dass sie keinen Gesamtüberblick über meine Forschungsschwerpunkte erlauben. Ich habe mich deshalb über die Idee von Verleger Peter Egger (hep verlag) und auch von Kollege Rudolf Strahm sehr gefreut, meine Haupterkenntnisse aus den Berufsbildungs-Dossiers in einer einzigen Publikation zu bündeln. Diese Idee habe ich in der vorliegenden Publikation verwirklicht und ihr drei Thesen zugrunde gelegt:
•Die berufliche Grundbildung hat ein grosses Reservoir an Begabungs- und Talentreserven, die sie nicht genug nutzt. Einer der Hauptgründe ist der, dass Potenziale zu selten erwartet, wahrgenommen, wertgeschätzt und deshalb auch nur in geringem Umfang gefördert werden.
•Die Berufsbildung kann einen grossen Wertbeitrag für ihre Attraktivität leisten und auch dem Nachwuchsmangel begegnen. Aber sie muss den Tunnelblick auf bestimmte Adressatengruppen mit einem Perspektivenwechsel in Selektion und Rekrutierung überwinden.
•Notwendig ist ein Talentmanagement, das den Namen auch verdient. Talentmanagement ist nichts anderes als der systematische Aufbau von Könnerschaft.
Die Berufsbildung muss ihren Blick neu ausrichten: weg von der alleinigen Konzentration auf Defizite und Schwächen hin zur Integration von Potenzialen und Stärken. Ein solcher Perspektivenwechsel kann jedoch nicht einfach über Nacht geschehen. Und schon gar nicht dadurch, dass man nun den Begriff «Talent» inflationär gebraucht, die traditionellen Selektions- und Rekrutierungsprozeduren gleichwohl beibehält und die persönlichen, oft mit Vorurteilen behafteten Einstellungsmuster gegenüber jungen Menschen nicht hinterfragt. Es braucht einen Perspektivenwechsel in den Köpfen. Einstellungen, Vorurteile und Überzeugungen sitzen tief und halten sich hartnäckig. Strukturen lassen sich leichter und schneller verändern.
Wer nun als Erstes denkt, dass ein Perspektivenwechsel lediglich die Bereitstellung von Finanzen erfordert, liegt falsch. Vielmehr geht es um etwas Fundamentales, das kein Geld kostet: um den Aufbau einer potenzialorientierten Haltung, um den Willen und das Interesse, Talente und Begabungen zu entdecken, anzuerkennen und zu fördern. Ohne eine solche Haltung und ein Bekenntnis zu Leistungsexzellenz in der Berufsbildung kann auch das grosszügigste Budget keine Wirkung erzielen.
Die gegenwärtige bildungspolitische Situation ist günstig: Lehrlingsmangel und Akademisierungstendenzen fordern uns alle heraus, die Berufsbildung weiterzuentwickeln und Veränderungen anzustreben – ohne sie dabei gegen die Gymnasien auszuspielen. Die vorliegende Publikation liefert hierzu einige Anhaltspunkte. Sie trägt meine Forschungserkenntnisse und diejenigen meiner Teams zusammen und gibt viele Denkanstösse. Doch liefert sie keine Rezepte, sondern lediglich Empfehlungen. Damit ermöglicht sie, eingeleitete oder geplante Aktivitäten mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft in Einklang zu bringen. Denn, was Begabung, Talent oder Könnerschaft in der Berufsbildung sind, wie sie sich manifestieren und wie die Ausbildungsverantwortlichen, aber auch Industrie und Wirtschaft darauf (re)agieren können – das sind Fragen, die bisher oft richtig, nicht selten aber auch einseitig beantwortet wurden.
Danken möchte ich Peter Egger vom hep verlag für die Initiierung und Unterstützung dieses Projekts und der Lektorin für ihre gewissenhafte Arbeit. Ebenso danke ich allen Zuhörerinnen und Zuhörern, welche meine zahlreichen Vorträge zu Berufsbildungsfragen jeweils besuchen und mir wichtige Rückmeldungen geben, manchmal auch kritische Einwände und Bestätigungen äussern. Diese sind für mich zentral, denn ohne solche Rückmeldungen kann sich die Forschung nicht weiterentwickeln.
Schliesslich geht ein – fast ausnahmslos anonymer – Dank an Hunderte von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an unseren Forschungsstudien. Ohne sie hätte keines der Projekte durchgeführt werden können, und die Schweizer Berufsbildung wäre um einige wichtige Erkenntnisse ärmer.
Bern und Aarau, Ende Januar 2016
Margrit Stamm
Einleitung: Jammern ist passé
In der Schweiz gibt es auf der Sekundarstufe II viele Leuchttürme guter Talentförderung sowohl in Gymnasien als auch Betrieben und Berufsfachschulen. Ein Beispiel sind die Europa- und Berufsweltmeisterschaften, an denen unser Land regelmässig herausragende Leistungen erzielt. In den letzten Jahren wurde dies immer an den gut 20 Medaillen ersichtlich, welche die Schweizer Delegation jeweils für sich beanspruchen durfte. Auch die Schweizer Berufsmeisterschaften «SwissSkills», die 2014 erstmals in Bern durchgeführt wurden, waren mit mehr als 155 000 Besuchern ein grosser Erfolg. Sie haben dazu beigetragen, in den Köpfen des Normalbürgers ein attraktives Bild über die Möglichkeiten der Berufsbildung entstehen zu lassen. Dass an der Berufsbildungsfront heute tatsächlich einiges in dieser Hinsicht geschieht, ist jedoch in erster Linie eine Folge des innovativen Berufsbildungsgesetzes, das 2004 in Kraft gesetzt wurde und die Förderung leistungsstarker Lernender als normative Aufgabe versteht.
Talentförderung im Sinne der oben erwähnten Meisterschaften entspricht genau dem, was der Begriff auch meint: Junge Menschen sind dann Talente, wenn sie in einem bestimmten Bereich über ein überdurchschnittliches Leistungsvermögen verfügen, und sie dieses mit gezielter Unterstützung von Berufsbildnern und Berufsbildnerinnen so ausbauen können, dass es sich zu Expertise auf höchstem Niveau entwickeln kann.
Leider hat sich in den letzten Jahren unbemerkt eine «Talent-Epidemie» ausgebreitet. Davon zeugen viele Plakate, auf denen mit jungen Menschen geworben wird: «Wir brauchen Ihr Talent – machen Sie Ihre Ausbildung bei uns!» oder «Absolviere ein Talentjahr, wenn du nicht weisst, ob du eher ins Gymnasium oder eine Berufslehre absolvieren willst!» Eigentlich tönt dies ja gut. Endlich weg von der Defizitperspektive hin zu dem, was junge Menschen können! Trotzdem kann man sich darüber nur eingeschränkt freuen. Viele Hochglanzbroschüren und modern aufgemachte Webseiten lassen nämlich Zweifel aufkommen. Zwar sprechen sie immer von Talenten, doch bleibt fraglich, ob solche Absichten in der Praxis auch umgesetzt werden. Unsere Forschungsstudien zu leistungsstarken Jugendlichen in der Berufsbildung verweisen auf eine andere Realität. Oft wird viel über die mangelnde «Ausbildungsreife» Jugendlicher gejammert, über all das, was sie nicht mehr können und über Elternhäuser, die ihrem Nachwuchs keine Manieren mehr beibringen. Deshalb sind Slogans zur Talentsuche auch ein geschicktes Vertuschen des defizitären Menschenbilds und somit auch ein Etikettenschwindel. Anstatt wie bis anhin einfach zu jammern, wird nun unüberlegt von Talenten gesprochen.
Es ist wünschenswert, den inflationären Gebrauch des Talentbegriffs zu unterbinden. Wichtiger ist es, sich auf die Praxis zu konzentrieren, ob und wie Potenziale junger Menschen in Berufsfachschule, Betrieb und Weiterbildung tatsächlich gefördert werden. Denn dies ist einfacher gesagt als getan. Notwendig sind hierfür Berufsbildungsverantwortliche, die sich im wahrsten Sinne des Wortes als Talentförderer verstehen. Will eine Berufsbildungsverantwortliche das verborgene goldene Händchen eines jungen Migranten oder das intellektuelle Potenzial einer unbequemen Schülerin nicht sehen, dann bleiben Begabungen und Ressourcen unentdeckt und ungenutzt – auch wenn in Leitbildern und Unternehmensrichtlinien Gegenteiliges steht. Haltungen sind deshalb von grundlegender Bedeutung. Nur wer Potenziale bei allen jungen Menschen erwartet, sie erkennen und anerkennen und dann auch unterstützen will, betreibt Talentförderung. Dazu kommen Förderkompetenzen. Wer fördert, muss in der Lage sein, hochstehende Übungs- und Trainingsprozesse so zu arrangieren und zu überwachen, dass die jungen Talente im richtigen Mass herausgefordert und animiert werden, über sich selbst hinauszuwachsen. Dies alles genügt nicht. Talentförderung muss auch Chefsache sein und als grundlegende Ausbildungsaufgabe verstanden werden. Schul- und Geschäftsleitungen, welche ihre Berufsbildenden unterstützen, sind deshalb das Herzstück aller Anstrengungen.
Die Talent-Epidemie darf uns nicht glauben machen, dass junge Menschen tatsächlich talentierter als früher sind. «Talent», so wie der Begriff heute gebraucht wird, ist in vielen Fällen nichts anderes als eine Worthülse, eine PR-Massnahme im «Kampf um die Talente», d. h. um rar gewordene Lehrlinge oder um teure Ausbildungen beliebt zu machen. Das Gerede um Talente ist deshalb oberflächlich, weshalb es der Sache eher schadet als nützt. Eine Rückbesinnung auf das, was Talent meint und wann der Begriff verwendet