Goldene Hände. Margrit Stamm

Goldene Hände - Margrit Stamm


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sind als die eigenen Eltern, will seine Kinder so unterstützen, dass sie von Anfang an die besseren Chancen als die anderen haben. Dieser Tunnelblick hat dazu geführt, dass bei vielen Familien die Berufsbildung als System zweiter Klasse gilt.

      Verborgenes Potenzial finden

      Gerade, wenn es um leistungsstarke Auszubildende geht, hat sich die Berufsbildung bisher vor allem auf Jugendliche mit guten Schulnoten aus anforderungshohen Schulniveaus konzentriert. Das ist allerdings eine einseitige Strategie, weil sie verhindert, Potenziale jenseits guter Schulleistungen und Schulabschlüsse zu entdecken. Solche Potenziale sind jedoch sowohl aus einer individuellen Perspektive (die optimale Leistungsförderung jeder einzelnen Person, ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer sozialen Herkunft) als auch einer gesellschaftlichen Perspektive (Minimierung des Nachwuchs- und Fachkräftemangels) von zentraler Bedeutung für die Qualität und Leistungsfähigkeit des Berufsbildungssystems. Es ist deshalb einseitig, wenn nicht gar falsch, den Mangel an Auszubildenden in den verschiedenen Sparten lediglich mit mehr und immer ausgefalleneren PR-Massnahmen bekämpfen zu wollen. Es braucht andere und neue Rekrutierungs- und Selektionsstrategien, welche verborgenes Potenzial sichtbar machen.

      Betriebe werden sich darauf einstellen müssen, ihren Fachkräftenachwuchs auch aus den leistungsmässig schwächeren Segmenten und ebenfalls aus Jugendlichen des Übergangssystems zu rekrutieren. Gerade für KMUs erwächst daraus eine grosse Herausforderung. Sie müssen ihre Ausbildung variabler und flexibler gestalten und sich viel mehr auf Unterschiede in der Vorbildung einstellen. Allenfalls brauchen sie dafür Unterstützung.

      Das Übergangssystem als neue Bildungskategorie

      Der Begriff «Übergangslösung» ist wenig schmeichelhaft und meint eigentlich die Warteschlange, die sich beim Eintritt in die berufliche Ausbildung gebildet hat. Damit werden alle Angebote bezeichnet, die eine Brücke bauen zwischen obligatorischer Schulzeit und einer Berufslehre bzw. einer weiterführenden Schule. Dazu gehören beispielsweise ein Motivationssemester, ein 10. Schuljahr, eine Au-pair-Stelle oder ein Praktikum. Jugendliche, welche sich in diesem Übergangssystem befinden, teilen eine gemeinsame Erfahrung: dass der Übergang Schule – Beruf für sie nicht erwartungsgemäss funktionierte. Heute absolvieren mehr als ein Viertel der Jugendlichen ein oder mehrere Brückenangebote. Sie werden also häufig von einer Massnahme zur nächsten geschickt. Und dies in einer Zeit, in der mehr als 8 000 Lehrstellen nicht besetzt werden können. Offenbar gibt es Fehlanreize im System, sodass die Warteschlange zu einer veritablen Bildungskategorie und zu einem Massenphänomen geworden ist, das für viele mit wenig beruflichen Perspektiven, hoher Arbeitsmarktunsicherheit und erschwerter beruflicher Identitätsbildung verbunden ist. Denn Jugendliche nehmen im Durchschnitt zwei Jahre – im Kanton Genf sogar drei Jahre – Brückenangebote in Anspruch. Wenn sie somit erst mit 18 Jahren eine Berufslehre beginnen und der Berufsfindungsprozess immer länger dauert, dann ist nach den damit verbundenen Folgen und Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Sozialstruktur zu fragen.

      Lehrvertragsauflösungen und Fachkräftemangel

      Eng damit verbunden ist das Phänomen der Lehrvertragsauflösungen, oft fälschlicherweise generalisierend als «Lehrabbrüche» bezeichnet. Dieses Phänomen hat es zwar immer schon gegeben, doch gerät es aufgrund seines Zusammenhangs mit dem drohenden Fachkräftemangel aktuell weit stärker in den Fokus als bisher. Da gerade Berufe, die allgemein ein Image-Problem haben – wie etwa bestimmte Bauberufe oder Bäcker/Konditoren – besonders stark von Lehrvertragsauflösungen betroffen sind, gilt das Wissen um die Ursachen solcher Entscheidungen als wichtige Herausforderung für die Berufsbildung. Gerade die Sorge um den Fachkräftemangel hat in den letzten Jahren zunehmend den Blick auf das Phänomen der Lehrvertrags­auflösungen gelenkt, und es sind verschiedene Bestandsaufnahmen hierzu durchgeführt worden. Trotzdem werden Lehrvertragsauflösungen immer noch vorwiegend als alleiniges Problem der Auszubildenden selbst, ihrer Leistungsfähigkeit, ihres Berufswahlverhaltens und ihrer Persönlichkeitsmerkmale verstanden.

      Die neueste Forschung zeigt jedoch anderes: Betriebe und Berufsfachschulen sind ebenso ursächlich an Lehrvertragsauflösungen beteiligt wie die Jugendlichen selbst. Massnahmen, die im Hinblick auf den Fachkräftemangel Erfolg versprechend sein wollen, müssen deshalb bei allen Partnern ansetzen, nicht nur bei den Jugendlichen selbst.

      Die Berufsbildung sollte über die Bücher gehen

      Was bedeutet diese Situation für den «Kampf um die Talente»? Erstens, dass die Berufsbildung gut daran tut, über die Bücher zu gehen: Betriebe sollten ihre Selektionsmassnahmen überdenken und dabei viel stärker zwischen Leistung (Schulnoten) und Potenzial unterscheiden und Fähigkeiten jenseits des schulischen Wissens in ihren Rekrutierungsstrategien berücksichtigen. Die einseitigen Klagen über die fehlende Ausbildungsreife sind wenig innovativ und bilden nur die eine Seite der Medaille ab. Denn wer zu sehr auf schulische Kompetenzmerkmale setzt, schränkt den Kreis potenziell guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein und nutzt das Potenzial in keiner Art und Weise. Zudem ist das Übergangssystem zu überdenken. Obwohl für die einen Jugendlichen als willkommene Möglichkeit zur Überwindung von Handicaps, die sie bearbeiten, ausmerzen oder optimieren können (schlechte Schulnoten, psychische Probleme, Verhaltensschwierigkeiten, Suchterkrankungen usw.) landen zu viele von ihnen dort, die eigentlich eine Ausbildungsstelle antreten könnten. Schliesslich müsste sie gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel die Problematik der zunehmenden Anzahl der Lehrvertragsauflösungen branchenspezifisch und im Hinblick auf die Rolle der Ausbildungsbetriebe an die Hand nehmen.

      Frühe Elternarbeit: Werbung für die Berufsbildung

      Es ist eigenartig: Obwohl die Schweizer Berufsbildung einen ausgesprochen guten Ruf geniesst, gehen ihr langsam die leistungsstarken Auszubildenden aus. Bereits aufgezeigt worden ist, dass die Wertschätzung der Berufslehre im Gegensatz zu individuellen Vorlieben steht, die sich in Richtung schulisch-akademischer Laufbahnen verschieben. Die Forderung des Gewerbes nach einem Umdenken in der Bildungspolitik ist deshalb gerechtfertigt. Allerdings darf dies nicht damit einhergehen, dass das Gymnasium als Prügelknabe dienen soll und es gegen die Berufsbildung ausgespielt wird. Die guten Auszubildenden fehlen nicht, weil sie sich fürs Gymnasium entscheiden. Die Hauptursache liegt in den sinkenden Schülerzahlen, welche die Berufsbildung besonders spürt. Weil nach wie vor gleich oder gar mehr Jugendliche den gymnasialen Weg oder andere Vollzeitschulen wählen, stehen ihr deutlich weniger an sich leistungsstarke Jugendliche zur Verfügung. Dazu kommt, dass der kontinuierliche Anstieg der Mädchen-Quote in den Gymnasien dazu geführt hat, dass das weibliche Geschlecht in den technischen Berufen verstärkt fehlt. Der Trend zum Gymnasium muss deshalb differenziert betrachtet werden. Obwohl es auch in Zukunft eine sehr hohe Anziehungskraft behalten dürfte, bedeutet dies nicht automatisch, dass die Berufsbildung die Verliererin sein muss. Dies wird zwar allgemein so formuliert, denn sie hat sich in den letzten Jahren stark auf ihre Binnenentwicklung konzentriert und zu wenig um ihr Renommee mit Taten gekümmert. Erst seit wenigen Jahren hat sie begonnen, ihre Attraktivität besser aufzuzeigen und zu verkaufen. Aber gerade gegenüber bildungsambitionierten Elternhäusern steht dies aus.

      Jugendliche aus Akademikerfamilien fehlen in der beruflichen Grundbildung

      Jenseits der leidigen Pro-und-kontra-Debatte «Berufsbildung-Gymnasium» gilt es somit, bei objektiven Daten und der Suche nach Ursachen anzusetzen. So ist die empirische Tatsache, dass die Berufsbildung vor allem von Jugendlichen aus nicht-akademischen Elternhäusern in Anspruch genommen wird, kein zukunftsträchtiger Zustand. Umgekehrt gilt Gleiches für die Gymnasien, die durchschnittlich zu mehr als 80 Prozent von Jugendlichen aus bildungsnahen Familien besucht werden. Eigentlich sollten Neigungen und Fähigkeiten den Ausschlag zur Bildungs- und Berufswahl geben. Wenn dem so wäre, dann wären in der Berufsbildung mehr leistungsstarke Jugendliche aus gut situierten Familien vertreten, in den Gymnasien jedoch mehr intellektuell begabte Kinder aus Arbeiter- und benachteiligten Migrantenfamilien.

      Um die Attraktivität der Berufsbildung zu steigern, tun Bund und Kantone mit gezielten Kampagnen ausgesprochen viel. Auch Betriebe haben langsam entdeckt, dass sie sich stärker um potenzielle Auszubildende bemühen müssen. Der Erfolg ist trotzdem relativ bescheiden geblieben. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass man sich stark auf die Öffentlichkeit,


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