Goldene Hände. Margrit Stamm
und damit in die Gesellschaft integriert werden können. Integration ist deshalb das Herzstück vieler Bemühungen und Aktivitäten. Allerdings sollten Prioritäten und Perspektiven richtig gesetzt werden. Dies bedeutet erstens, dass sich der Blick nicht zu sehr auf die Integrationsförderung dieser leistungsschwächeren Gruppe beschränken darf, sondern verstärkt auch auf die Potenziale aller Auszubildenden gerichtet werden muss. Zweitens, dass Auszubildende mit Talent und Potenzial viel systematischer als bis anhin gesucht und gefördert werden sollten. Berufsbildung, Wirtschaft und Industrie, und damit unsere Volkswirtschaft, brauchen beides: ein breites, sorgfältiges Bildungsangebot für die sogenannt Leistungsschwachen, aber auch die systematische und selbstverständliche Förderung jener am «oberen Ende der Skala» – und zwar ohne, dass dabei von «elitärem Gehabe» gesprochen wird, wie dies so oft der Fall ist.
Natürlich kann man einwenden, dass in den letzten Jahren das Verständnis für dieses Segment deutlich gewachsen ist und auch hervorragende Projekte lanciert und etabliert worden sind (man denke an die «Talent- und Innovationsförderung in der Berufsbildung», das Label «Bildungspartner von SJf – for talents», das Projekt «Junior Car Crack» des Auto Gewerbe Verbands der Sektion beider Basel oder das Projekt Talentförderung in der Berufsbildung des Kantons Zürich (usw.). In der Tat sind dies gute Beispiele, doch finden sie viel zu wenig systematische Nachahmer. Deshalb bleiben sie selektiv, weil nicht alle Auszubildenden die gleichen Chancen zur Potenzialentfaltung erhalten. Der Kanton bzw. der Wohn- und Ausbildungsort haben darüber einen zu grossen Einfluss. Eine systematisierte Begabungs- und Talentförderung ist deshalb eine grosse Herausforderung.
Potenzialförderung ist eine gesetzlich verankerte Pflicht
Dass Stichworte wie Talente, Begabungen, Expertise, Leistungsexzellenz – oder wie immer man Potenziale nennen will – Eingang in den Berufsbildungsdiskurs gefunden haben, ist glücklicherweise auch eine Folge des innovativen Berufsbildungsgesetzes. Die in Art. 18 und Art. 21b festgehaltene Förderung von leistungsstarken Berufslernenden weist der Ausbildung des Nachwuchses eine grundlegende Bedeutung und den Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben eine spezifische Verantwortung und damit einhergehend eine entsprechende Innovationsbereitschaft zu. Berufliche Begabten- und Talentförderung ist damit zu einer wichtigen, berufspädagogischen Aufgabe geworden. Auch der Bundesrat hat verschiedentlich von der Ausschöpfung der Begabtenreserve in der Schweizer Berufsbildung gesprochen.
Somit hat die Berufsbildung eine gesetzlich verankerte Pflicht, Potenziale zu fördern. Diese Pflicht wird vor allem deshalb eine Herausforderung, weil Begabungen und Talente nicht per se an guten Schulnoten und hohen Schulabschlüssen erkennbar sind, sondern spezifisch gesucht, erkannt, anerkannt und gefördert werden müssen. Dies ist insofern bedeutsam, als es viele an sich begabte Jugendliche gibt, die aufgrund ihrer Schulmüdigkeit nicht automatisch den gymnasialen Weg wählen. Solche «Aussteiger» sind in den letzten Jahren eher zahlreicher geworden. Sie gehören häufig nicht zu den sehr guten, sondern erstaunlich oft zu den mittelmässigen oder schlechten Schülerinnen und Schülern, zu den «Minderleistern», die signifikant schlechtere Schulleistungen erbringen, als man dies von ihnen aufgrund ihres intellektuellen Potenzials eigentlich erwarten würde.[4]
An der achten nationalen Lehrstellenkonferenz am 23. November 2012 in Martigny wurden bildungspolitische Massnahmen beschlossen, welche für die Ausschöpfung von Begabungsreserven bedeutsam sind: die Entdeckung des Potenzials von jungen Migrantinnen und Migranten, die Motivierung junger Frauen für technische Berufe sowie die Nachholbildung für Menschen mit praktischer Erfahrung aber ohne Berufsabschluss. Solche Massnahmen lassen sich auch mit unseren Forschungsstudien legitimieren.
Die Defizitorientierung dominiert
In der Praxis sieht es allerdings etwas anders aus. Folgt man unseren empirischen Daten, so setzen heute noch relativ wenige Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe die Idee systematischer Talentförderung, in die Praxis um. Eine grosse Mehrheit orientiert sich nach wie vor am Ungenügen der Jugendlichen respektive an deren Leistungsschwächen. Ein Umdenken in den Köpfen ist deshalb für die Berufsbildung die grösste zukünftige Herausforderung. Dabei versteht sich von selbst, dass man nicht von der Qualität der beruflichen Ausbildung sprechen, gleichzeitig jedoch vor allem nur das Negative im Blick haben und die fehlenden leistungsstarken Jugendlichen beklagen kann.
Die Sicherung von Könnerschaft im Berufshandwerk ist heute wichtiger denn je. Deshalb darf der Königsweg der Begabten- und Talentförderung nicht weiterhin in erster Linie Akademia heissen. Die letzten Jahre haben nämlich mehr als deutlich gezeigt, dass die Berufsbildung immer stärker in Gefahr gerät, zum Durchgangsstadium von Akademikerkarrieren zu werden und schulisch qualifizierte Jugendliche nach der Berufsausbildung in ein Fachhochschulstudium abwandern. Die Höhere Berufsbildung ist dabei eindeutig ins Hintertreffen gelangt. Zukünftig wird es infolgedessen eine zentrale Herausforderung sein, die Berufsausbildung nicht nur als Zubringerin für die Fachhochschulen, sondern ebenso als Garantin der Entdeckung beruflich-praktischer Reserven und der Förderung der beruflichen Qualität in der Höheren Berufsbildung zu verstehen.
Deshalb sind gerade den Schulabgängern aus Real- und Sekundarschulen spezifische berufliche Qualifikationschancen zu ermöglichen. Obwohl sie aufgrund ihrer fachorientierten Begabungsprofile nicht in den akademischen Weg der Berufsmatura einmünden können, verfügen viele von ihnen über beträchtliche berufspraktische Talente. Gleiches gilt oft auch für benachteiligte Migrantinnen und Migranten. Mit Blick auf beide Gruppen dominieren allerdings Klagen über ihre mangelnde Ausbildungsreife sowie ihre Tendenz zu Lehrabbrüchen und damit zu fehlenden Berufsabschlüssen. Eine Folge dieser Defizitperspektive ist die Tatsache, dass Potenziale bei solchen Jugendlichen gar nicht vermutet, deshalb nicht erwartet und auch nicht gesucht werden.
Angesichts der aktuellen Entwicklung ist anzunehmen, dass Wirtschaft und Industrie zukünftig mehr denn je auf die Möglichkeit angewiesen sein werden, fachlich begabte Mitarbeitende rekrutieren zu können, die das handwerkliche Metier beherrschen und die berufliche Ausbildung nicht lediglich als Durchgangsstadium zur Fachhochschule nutzen, um dann einen anderen Beruf zu ergreifen. Ob sie Abgänger von Real- oder Sekundarschulen sind, dürfte deshalb eine unbedeutende Rolle spielen. Wesentlich ist ihr Können, das sie in der beruflichen Ausbildung haben entwickeln und unter Beweis stellen können.
Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses
Unglaublich, aber wahr: In der beruflichen Grundbildung dominierten bis vor ein paar Jahren noch die Jugendarbeitslosigkeit und die daraus resultierenden fehlenden Zukunftsperspektiven unserer Jugendlichen. Heute hat sich die Situation diametral verändert. Der Mangel an Ausbildungsplätzen ist einem Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern gewichen: Aus dem Lehrstellenmangel ist ein Lehrlingsmangel geworden. Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels dürfte sich die Situation weiter verschärfen. Denn unbesetzte respektive schwierig zu besetzende Ausbildungsplätze stellen sowohl für das unternehmerische Wachstum der Betriebe als auch für die Nachwuchssicherung eine ernstzunehmende Problematik dar. Um neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses zu entwickeln, bedarf es zunächst eines differenzierteren Blicks auf die Hintergründe.
Die Berufsbildung als System zweiter Klasse?
Die aktuelle Situation ist eine sehr spezielle: Neben dem sich immer deutlicher abzeichnenden Fachkräftemangel machen der Berufsbildung vor allem die demographischen Veränderungen zu schaffen. Stimmen die Daten des Bundesamtes für Statistik, dann wird die Anzahl Jugendlicher in diesem Altersspektrum bis zum Jahr 2020 weiter sinken. Dazu kommt die Tatsache, dass die gymnasiale Ausbildung attraktiver denn je ist, obwohl längst nicht alle, welche eine Aufnahmeprüfung absolvieren müssen, diese auch bestehen. Anzunehmen ist jedoch, dass das Interesse an der akademischen Ausbildung auch in Zukunft ungebrochen sein und die Berufsbildung für viele lediglich die zweite Wahl bleiben wird. Deshalb ist ebenso davon auszugehen, dass ohne wirksame Massnahmen die absoluten Zahlen der leistungsstarken Auszubildenden, welche in die Berufsbildung eintreten, weiter sinken dürften.
Einer der Gründe liegt darin, dass Eltern heute einen enormen Drang nach hoher Bildung haben. Wer selbst ein Gymnasium absolviert hat, setzt alles daran, dass die Kinder mindestens den gleichen