Goldene Hände. Margrit Stamm

Goldene Hände - Margrit Stamm


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Sie liefert auf der Basis unserer Forschungsstudien empirische Daten zur Frage, wer denn tatsächlich «begabt» oder «talentiert» ist und weshalb Berufslernende während ihrer Ausbildung, aber auch nachher, ihre Potenziale (nicht) entwickeln. Ein besonderer Blick wird dabei auf junge Migrantinnen und Migranten geworfen. Gerade aufgrund des Lehrlingsmangels sind solche Fragen besonders aktuell. Denn die Gründe für die vielen fehlenden Auszubildenden sind keinesfalls so eindeutig, wie dies immer wieder berichtet wird. Zwar geben im Lehrstellenbarometer vom April 2015 18 Prozent der befragten Unternehmen als Ursachen für ihre unbesetzten Stellen einen «Mangel an qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern», 18 Prozent «fehlende Berufsbildungsverantwortliche» und 14 Prozent «schwache respektive keine Nachfrage nach Lehrstellen» an. Unsere empirischen Analysen zeigen jedoch, dass es auch Gründe gibt, die bei den Betrieben selbst liegen. Sie haben somit einen relativ grossen Einfluss darauf, ob sie geeignete Kandidatinnen und Kandidaten finden oder nicht.

      Allerdings haben viele Betriebe in der Zwischenzeit gemerkt, dass sie ihre Rekrutierungs- und Selektionspraxen ändern und sich stärker um potenzielle Auszubildende bemühen müssen. Ebenso ist auf politischer Ebene durch gezielte Massnahmen, Kampagnen (wie berufsbildungplus.ch) sowie professionellere Berufsinformationen und -vorbereitungen viel getan worden. Alle diese Anstrengungen haben jedoch eine empirische Tatsache ausgeblendet: dass Eltern die wichtigsten und entscheidendsten heimlichen Meinungsmacher bei der Berufswahl sind. Trotzdem konzentrieren sich die Massnahmen und Kampagnen fast ausschliesslich auf Schulen, Betriebe, Berufsfachschulen und Verbände.

      Will man Begabungs- und Talentreserven ausschöpfen und diese fördern, dann muss man sich auch mit der Frage beschäftigen, wie eigentlich Könnerschaft entsteht. Dann stösst man schnell einmal auf die bedeutsame Rolle der Praktischen Intelligenz. Ohne ihre Berücksichtigung in der Ausbildungspraxis entsteht keine Expertise.

      Die vorliegende Publikation ist solchen Themen gewidmet. Auf der Basis der Erkenntnisse unserer Forschungsstudien beschäftige ich mich in einem ersten Kapitel mit den zukünftigen Herausforderungen für die Berufsbildung. Dazu gehören die Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe, die Selektion und Rekrutierung der Auszubildenden in Zeiten des Lehrlingsmangels, die Attraktivität der Berufsbildung mit Blick auf die Bedeutung der Familie als wichtigstem Rekrutierungspool sowie die Praktische Intelligenz als Herzstück auf dem Weg zur Könnerschaft. Kapitel zwei bis fünf stellen die Hauptergebnisse von insgesamt fünf unserer Forschungsprojekte vor: «Begabung und Leistungsexzellenz in der Berufsbildung» (2005–2009), «Migranten als gesellschaftliche Aufsteiger» (2009–2012), «Lehrlingsmangel: Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses» (2013), «Nur (k)eine Berufslehre: Eltern als Rekrutierungspool» (2014) sowie «Praktische Intelligenz: Ihre missachtete Rolle in der beruflichen Grundbildung» (2014–2015).

      Mit diesem Buch hoffe ich, einen Beitrag zu leisten, um eingeleitete oder geplante Aktivitäten mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft in Einklang zu bringen und zu verhindern, dass Massnahmen und Kampagnen weniger einseitig erfolgen. Und ebenso, dass Betriebe erkennen: Jammern ist definitiv passé!

      Kapitel 1 Herausforderungen für die Berufsbildung

      Aktuell fällt die Berufsbildung durch mindestens drei Merkmale auf. Das erste Merkmal ist die ihr immer wieder zugeschriebene Qualität. So attestierte ihr die OECD-Studie «Learning for jobs» im Jahr 2009 «beeindruckende Qualitäten», weshalb sie «stolz auf ihr hochqualifiziertes Berufsbildungssystem» sein dürfe.[1] In der Tat gibt es wenig Vergleichbares, das überall und in allen Medien so präsent ist. Auch in der Bevölkerung besteht die weitgehend einhellige Überzeugung, dass das Schweizer Berufsbildungssystem eine hervorragende Einrichtung ist. Solche Komplimente kommen nicht einfach aus dem hohlen Bauch, sondern sind ein Hinweis darauf, wie fundiert die Berufsbildung aufgestellt ist.

      Das zweite Merkmal betrifft die eigenartige Polarisierung zwischen Selbstüberschätzung – die Alt-Nationalrätin Josiane Aubert hat diese einmal eine «nationale Idealisierung der Berufsbildung» genannt – und wiederkehrenden Klagen. Diese bauen oft auf einer Schwarz-Weiss-Malerei auf und lassen ein gewisses Mass an Selbstkritik vermissen. Einerseits wird die Berufsbildung spätestens seit den SwissSkills 2014 auch als Exportschlager und Garant gegen Jugendarbeitslosigkeit[2] hochgelobt, andererseits aber als System mit zu vielen Lehrabbrüchen und zu wenig fähigen Auszubildenden kritisiert. Damit einher geht das dritte Merkmal: die Tatsache, dass von vielen Eltern und nicht selten auch von Lehrpersonen die Berufslehre im Vergleich zum gymnasialen Weg noch immer als minderwertig angesehen wird, als zwar für schulschwächere Jugendliche angemessen, aber nicht für begabte.

      Mit Sicherheit wird die Berufsbildung in den kommenden Jahren mit verschiedensten Herausforderungen konfrontiert werden. Dabei wird es darauf ankommen, ob man diese im positiven Sinn als halbvolles oder negativ als halbleeres Glas ins Auge fasst. Unsere Forschungsstudien unterstützen die positive Sichtweise, und zwar in den folgenden vier Bereichen:

      •Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe

      •Neue Strategien für die Rekrutierung und Betreuung des Nachwuchses

      •Frühe Elternarbeit als Werbung für die Berufsbildung

      •Könnerschaft durch Praktische Intelligenz

      Solche Klagen lassen sich folglich auch als Schutzbehauptungen von Betrieben interpretieren, die sich nicht verändern oder keine Ausbildungsplätze mehr anbieten wollen. Trotzdem ist der Unmut so intensiv geworden, dass sich die Bildungspolitik damit auseinandersetzen und sich fragen muss, was denn zu tun ist. Einfach mehr Drill von der obligatorischen Schule verlangen, damit sie diese Mängel behebt? Dies greift wahrscheinlich zu kurz. Sollen die Betriebe ihre Anforderungen nach Ausbildungsreife strikt durchsetzen und deshalb Ausbildungsplätze aufgrund fehlender Qualifikationen der Bewerberinnen und Bewerber streichen? Dies wiederum wäre für die Nachwuchs- und Fachkräftesicherung fatal.

      Sicher ist, dass die stete Kritik an der fehlenden Ausbildungsreife der Jugendlichen in Zeiten des Lehrlingsmangels keine günstige Wirkung auf die Attraktivität der Berufsbildung hat. Weil die Akademisierung einerseits (immer mehr wollen in eine Fachmittelschule, etwas mehr ans Gymnasium) und die Demographie (sinkende Geburtenzahlen) für die nächste Zeit keine Trendwende prognostizieren, wird sich das duale System verändern müssen und sich den Realschülern, aber auch den Jugendlichen im Übergangssystem, verstärkt öffnen müssen – einer Klientel, die bisher eher gemieden wurde. Es braucht eine Überwindung des Tunnelblicks auf die anforderungshöchste Bildungsstufe. Damit einhergehend muss ein selbstkritischer Blick auf die Bildungsverordnungen geworfen werden und geprüft werden, inwiefern schulische Anforderungen unnötig hoch angesetzt werden. Manche Bildungsinhalte könnten wahrscheinlich auch erst in der Höheren Berufsbildung vermittelt werden.

      Begabten- und Talentförderung als bildungspolitische Aufgabe

      Im Allgemeinen nimmt man viel zu wenig zur Kenntnis, wie heterogen die Berufsbildung heute geworden ist. Es gibt Berufsausbildungen mit hohen Anforderungen, solche mit hohem Sozialprestige und meist auch hohen qualifikatorischen Anforderungen, andererseits solche mit relativ geringem Qualifikationsprofil und nicht selten auch geringem Sozialprestige. Unser Berufsbildungssystem muss diese ganze Bandbreite abdecken und dabei einen bemerkenswerten Spagat bewältigen:

      •Es muss auch für leistungsstarke, gut qualifizierte Jugendliche, die eine anspruchsvolle Berufsausbildung absolvieren wollen, attraktiv bleiben. Deshalb müssen solchen Jugendlichen früh schon Wege bis zur Hochschulreife aufgezeigt werden und auch vorgeebnet bekommen.

      •Gleichzeitig muss es den Fachkräftenachwuchs auch aus der Population leistungsschwacher Jugendlicher erschliessen, denen bislang «fehlende Ausbildungsreife» attestiert worden ist und die aus verschiedensten Gründen im Übergangssystem gelandet sind. Bis 2020 sollen 95 Prozent aller 25-Jährigen über einen nachobligatorischen Abschluss verfügen.[3]

      Die berufliche Grundbildung hat in den letzten Jahren mit grossem Aufwand viel unternommen, um leistungsschwächere Jugendliche auf dem Weg in die Sekundarstufe II zu unterstützen.


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