Vorsicht Stufe (E-Book). Katharina Krall

Vorsicht Stufe (E-Book) - Katharina Krall


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Projekte zu geben. Wir gehen davon aus, dass andere Akteure, ähnlich wie wir, ihre Projekte durchführen, ohne dass dies weit bekannt wäre. Vielleicht kann unser Buch aber ein Anstoss sein, solche Projekte zu sammeln, sich untereinander zu vernetzen und so vielen Jugendlichen den Übergang zu erleichtern (siehe Kapitel 6).

      Im ersten Kapitel geht es um eine Begriffsklärung im Zusammenhang mit dem dualen Berufsbildungssystem der Schweiz. Wir konzentrieren uns dabei auf Begrifflichkeiten, die für das Verständnis unserer Ausführungen bedeutsam sind. Wir verzichten hingegen bewusst auf eine detaillierte Übersicht sowie einen geschichtlichen Abriss.

      Im zweiten Kapitel möchten wir den Lesenden aufzeigen, wie wir die Situation an der besagten Schnittstelle wahrnehmen und erleben. Zum einen geht es darum, dass Lernende der Sekundarstufe I anscheinend nicht wirklich auf den Unterricht der Berufsfachschule vorbereitet sind. Dieses Problem lässt sich aber nicht allein an den Schulen lösen. Im dualen Berufsbildungssystem müssten die Lehrbetriebe ebenfalls davon überzeugt sein, dass der Unterricht an den Berufsfachschulen eine Herausforderung für die Lernenden darstellt. Deshalb sind wir der Ansicht, dass alle Lernenden im Rahmen einer Berufserkundung oder Schnupperlehre in einem Betrieb auch Kontakt mit der entsprechenden Berufsfachschule haben sollten, bevor sie eine Lehre beginnen. Unsere Forderung lautet also «Kein Lehrvertrag ohne Kontakt der oder des Lernenden zur entsprechenden Berufsfachschule».

      Einen Überblick über unser Projekt geben wir im dritten Kapitel.

      Im vierten Kapitel stellen wir ein Modell vor, das die verschiedenen Akteure an der Schnittstelle zwischen den beiden Sekundarstufen in ihrem Tun unterstützen soll.

      Das fünfte Kapitel ist den Rahmenbedingungen für Kooperationen gewidmet. Darunter verstehen wir neben der Schulorganisation und den Rahmenlehrplänen zum Beispiel auch die persönlichen Kompetenzen der Lehrpersonen.

      Das sechste Kapitel beinhaltet unsere Visionen (Methoden, Kooperationsmöglichkeiten und so weiter) darüber, wie der Übergang an der Schnittstelle gemeistert werden kann. Welche Möglichkeiten einer vertieften Kooperation zwischen den verschiedenen Akteuren gibt es? Ausserdem möchten wir alle beteiligten Akteure dazu aufrufen, sich an der qualitativen Verbesserung der Schnittstelle am Übergang der beiden Sekundarstufen zu beteiligen.

      Wir möchten die beteiligten Akteure ermutigen, dass sie ihrerseits aktiv und kreativ nach weiteren Kooperationsmöglichkeiten Ausschau halten und diese ihren spezifischen Gegebenheiten anpassen. Vielleicht führt dies mittelfristig dazu, dass wir in einem zweiten Band, im Rahmen einer Art Methodensammlung, ein breites Repertoire an Kooperationsmöglichkeiten aufzeigen können.

      Bei unserem Buchprojekt haben uns viele Personen unterstützt. Vor allem bei unseren Interviewpartnern und beim hep verlag möchten wir uns herzlich bedanken. Ohne diese Unterstützung wäre eine Realisierung nicht möglich gewesen.

      In diesem Kapitel beschreiben wir mögliche Schwierigkeiten, vor denen die Lernenden stehen, wenn sie in die berufliche Grundbildung übertreten, und führen die wichtigsten Begriffe und Themen ein, die uns in diesem Buch beschäftigen.

      Die Autorin berichtet: Am Ende meines ersten Jahres als Lehrerin im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) herrschte geschäftiges Treiben am letzten Schultag vor den Ferien. Es flossen noch ein paar Tränen zum Abschied, und dann sollte es ab in die Sommerferien und in die «richtige» Berufswelt gehen. Ein Jahr lang hatte ich die Lernenden auf ihrem Weg in die Berufswelt begleitet, mit ihnen Höhen und Tiefen erlebt, Bewerbungen geschrieben, Vorstellungsgespräche vorbereitet, mich mit ihnen über Absagen geärgert und mich letztlich aber auch mit ihnen über Zusagen im passenden Lehrbetrieb gefreut.

      Die Schulzeit lag nach dem Schuljahr am BVJ vermeintlich endlich hinter den Lernenden, die Berufswelt wartete. Endlich durften die Jugendlichen sich beweisen, würden wie Erwachsene behandelt werden. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Lernenden gut auf diesen Übergang vorbereitet hatte.

      In diesem ersten Jahr kam ein Schüler am letzten Schultag zu mir und zeigte mir einen Brief von der Berufsfachschule, die er nach den Ferien besuchen sollte. Er – nicht in der Schweiz aufgewachsen, sondern erst mit 12 Jahren hierhergekommen – war vollkommen überrascht, dass er überhaupt nochmals in die Schule gehen sollte, für ihn war klar, dass er jetzt endlich arbeiten dürfe. Ich erinnerte ihn an den Lehrvertrag und die darin vermerkte Berufsfachschule, doch so genau hatte er sich den Vertrag nie angesehen.

      Mit seinen Klassenkollegen entwickelte sich rasch eine heisse Diskussion: Zuerst wurde der Mitschüler ausgelacht, weil ihm nicht klar war, dass er einmal in der Woche würde zur Schule gehen müssen, aber dann kamen weitere Fragen auf: Na klar, die Berufsfachschule sei obligatorisch, aber wenn man am ersten Schultag noch in den Ferien sei, dann sei das doch nicht schlimm? Schliesslich sei das doch gar keine richtige Schule mehr, oder? Man lerne dort doch nur praktische Dinge, nicht? Man müsse sich auch gar keine Sorgen machen: Wenn im Betrieb alles laufe, dann spiele doch die Berufsfachschule gar keine Rolle, oder? Man könne gar nicht aus der Berufsfachschule fliegen und dort gebe es gar keine nervigen Fächer mehr wie Deutsch, Mathe oder Englisch. Man dürfe dort Kaugummi kauen und zu spät kommen, und es interessiere sowieso eigentlich niemanden so richtig, wie die Noten seien. Ob es dort überhaupt Noten gebe?

      Woher diese ganzen Informationen stammten, wurde mir dann gleich mitgeteilt: Der «Kollege vom Kollegen vom Kollegen» sei im zweiten Lehrjahr zur Detailhandelsfachmann und verfüge damit über echtes Insiderwissen: Nirgends sei es so «chillig» wie an der Berufsfachschule.

      Jetzt meldeten sich aber die Besorgten zu Wort: Die Cousine im ersten Lehrjahr zur Pharmaassistentin sei fast aus der Lehre geflogen, weil der Lehrbetrieb keine Noten unter 5.0 akzeptiere. Sie nehme einmal die Woche Nachhilfeunterricht, besuche den Stützkurs und sei aus sämtlichen Vereinen ausgetreten, um sich aufs Lernen konzentrieren zu können.

      Dann kamen die Geschichten von den Kollegen, die im Betrieb und im Praktischen super seien, aber wegen schlechter Vornoten durch das QV gefallen seien. Und die Schwester von einem Kollegen sei wiederum in einer BYOD-Klasse, alles laufe nur noch über Computer, man müsse sich an 20 verschiedenen Orten anmelden, sich Passwörter merken, diese immer wieder ändern, es gebe keine Arbeitsblätter mehr, und sogar Prüfungen fänden am PC statt.

      Jetzt waren spätestens die Technologie-Ängstlichen nervös, und es wurden noch Horrorgeschichten von den selbstständigen Vertiefungsarbeiten ausgepackt, die allgemeines Entsetzen hervorriefen. Aber wenigstens müsse man nur einmal in der Woche in die Schule, und schliesslich überwögen ja die Vorteile, zum Beispiel dass man endlich Geld verdiene und so weiter.

      Mein Hinweis, dass der erste Lohn für Bücher und Schulmaterial draufgehen könne, trug nicht gerade zur Erheiterung bei. «Müssen wir das denn selber bezahlen? Der Betrieb will doch, dass wir in die Schule gehen?»

      Die ausgelassene Stimmung am letzten Schultag war nun jedenfalls bei fast allen etwas getrübt, zumindest waren die meisten Lernenden ein wenig verwirrt: Steuerten sie nach den Sommerferien auf das schulische Paradies oder eine Lernhölle zu? Was hatten all die Begriffe zu bedeuten? Dritter Lernort, QV, Vornoten, BYOD und so weiter? Eigentlich war doch bis gerade eben noch alles klar gewesen und in bester Ordnung, und jetzt schien alles unsicher.

      Und ich fragte mich: Hatte ich hier vergessen, meinen Lernenden etwas Entscheidendes zu vermitteln? Aber dabei ist doch in der Schweizer Bildungslandschaft alles klar: kein Abschluss ohne Anschluss – die Schnittstellen von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II sind klar geregelt, das System ist durchlässig.

      Nach meinem ersten Schuljahr musste ich lernen, dass die Schweizer Bildungslandschaft doch nicht so klar war, wie ich bisher angenommen hatte, und dass ich es in diesem ersten Schuljahr tatsächlich versäumt hatte, meinen Schülerinnen und Schülern ein paar wichtige Dinge zu vermitteln.


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