Agile Schule (E-Book). Ralf Romeike
weit darüber hinaus viel bewegt, lautet die Bilanz nach zehn Jahren, auch wenn der Wandel noch lange nicht abgeschlossen ist: Agil sein bedeutet, sich ständig zu bewegen, zu verändern und neuen Umgebungen anzupassen, sodass die Weiterentwicklung des agilen Ansatzes wohl auch nie abgeschlossen sein wird.
Agile Vorgehensmodelle aus der Softwaretechnik
Kleinster gemeinsamer Nenner der agilen Vorgehensmodelle sind die im Agilen Manifest ausgedrückten Leitgedanken und Werte. Gemeinsam ist ihnen darüber hinaus, dass sie alle empirisch sind, also auf möglichst systematischem und datengestütztem Lernen aus Erfahrungen basieren, und dass damit iterativ, also in kleinen Zeitintervallen Inkremente entwickelt werden, die das Produkt um etwas für den Kunden Nützliches erweitern.
Scrum
Der Begriff «Scrum» steht symbolisch für das Gedränge im Rugby als Analogie für sich in komplexen Situationen erfolgreich selbst organisierende (Produktentwicklungs-)Teams. Besondere Rollen nehmen in Scrum der Product Owner, der im Sinne des Kunden und mit dem Ziel der Wertschöpfungsmaximierung entscheidet, was gemacht wird, und ein Scrum Master, der das Team wo nötig unterstützt, ein. Darüber hinaus beschreibt Scrum eine Reihe von Meetings und Praktiken. Die Selbstverpflichtung des Teams, seine Fokussiertheit sowie Offenheit, Respekt und Mut sind Werte, die besonders betont werden. Scrum stammt aus der Softwaretechnik, wird aber inzwischen auch in anderen Bereichen erfolgreich als Vorgehensmodell für das Projektmanagement verwendet.
Extreme Programming (XP)
XP hat viele Ähnlichkeiten zu Scrum, stellt aber neben Mut und Respekt direkte Kommunikation und Feedback ins Zentrum sowie Einfachheit, welche die Denkweise und den Codierstil der Entwicklerinnen und Entwickler prägt. Von den vielen XP-Praktiken ist Pair-Programming wohl die bekannteste.
Feature Driven Development (FDD)
Die Organisation der Produktentwicklung erfolgt bei FDD dem Namen entsprechend anhand einer Liste von Funktionalitäten, die nach und nach umgesetzt werden. FDD harmoniert, anders als Scrum oder XP, gut mit existierenden klassisch hierarchischen Projektstrukturen. Es erfordert keinen kulturellen Wandel der Unternehmen, hat insgesamt eine deutlich andere Ausprägung, kann aber bei agilen Vorgehensweisen verortet werden.
Verwandte Vorgehensmodelle
Kanban, Lean Management und Design Thinking bringen Ideen aus anderen produzierenden Bereichen, wie etwa der Autoindustrie, in die IT:
Kanban
Ziel des Kanban-Vorgehensmodells ist es, die Wertschöpfungskette eines mehrstufigen Prozesses kostenoptimal mittels Hol-Prinzip (Pull-Prinzip) ohne schwerfällige zentrale Planung zu steuern. Der Prozess wird dazu mithilfe eines Project-Boards und Karten, auf denen die zu erledigenden Aufgaben stehen, visualisiert. Da jeder Wechsel zwischen unterschiedlichen Aufgaben, die ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin quasi parallel bearbeitet, Zeit kostet, legt das Team eine maximale Zahl an Arbeiten fest, die jeder und jede gleichzeitig bearbeiten darf. Bis zu dieser Zahl können die Mitarbeitenden Aufgaben auf dem Board in die Spalte «In Bearbeitung» verschieben. Für Probleme wie beispielsweise Flaschenhälse im Prozess, die so sichtbar werden, überlegt sich das Team Maßnahmen, die es ergreifen will.
Lean Management
Die Methoden des Lean Managements zielen darauf ab, die Prozessorganisationen und das Qualitätsniveau zu verbessern, und sind heute weltweit verbreitet. Im Kern stellt Lean Management eine Unternehmenskultur dar, in der sich alle Tätigkeiten auf den Kunden ausrichten, in der die Teams im Rahmen dieses Unternehmensleitbildes eigenverantwortlich und autonom arbeiten und in der großer Wert auf offene Informations- und Feedbackprozesse gelegt wird, die die Basis kontinuierlicher Verbesserung sind.
Design Thinking
Design Thinking ist ein Ansatz für praktisches und kreatives Problemlösen, der in Projekten und anderen Kontexten, in denen es um Innovation geht, genutzt werden kann. Er stellt eine breite Palette an Methoden zur Verfügung, die sich durch Benutzerorientierung, Visualisierung, Simulation sowie durch iteratives und oft auch durch forschendes Vorgehen auszeichnen.
Wohin geht der Weg?
Während um das Jahr 2000 herum die Mehrheit der agil arbeitenden Teams in der Softwareentwicklung angaben, dass sie sich an Extreme Programming orientieren, war 2017 Scrum die meistgenutzte agile Methode. Je nach Umfrage arbeiten 85 Prozent oder mehr aller befragten Teams in der IT mit «Scrum», wobei jedes Team mit der Zeit sein eigenes Scrum entwickelt. Wie viel Software in den vergangenen Jahren prozentual mit klassischen bzw. mit agilen Vorgehensmodellen entwickelt wurde, ist schwer zu sagen. Ein Trend zeichnet sich jedoch klar ab: In der Softwareentwicklung gibt es kaum noch ein Unternehmen, in dem nicht zumindest einzelne Teams «agile Luft» schnuppern. Laut dem Unternehmen VersionOne, das seit 2006 jährlich eine Umfrage zum Stand agiler Softwareentwicklung durchführt, setzten im Jahr 2018 bereits 97 Prozent aller Unternehmen in der Softwareentwicklung agile Methoden ein. Die meisten amerikanischen IT-Riesen arbeiten agil, aber auch namhafte europäische und deutsche Unternehmen vergeben IT-Aufträge inzwischen bevorzugt an agile Teams und arbeiten selbst daran, agil zu werden. Über die Erfahrungen auf dem Weg dorthin gibt es bis heute einen regen Austausch auf Konferenzen und an «agilen Stammtischen», um auch Neulinge auf dem Weg zum agilen Denken und Handeln zu unterstützen. Für viele gilt in Anlehnung an die als Sprint bezeichneten Iterationen: «Wir sind einfach losgesprintet – und es hat gut geklappt.»
Wie verändert agiles Denken die Arbeit?
Sicherlich kann man hier aus heutiger Sicht viele Auswirkungen beschreiben, die auf die Verbreitung agiler Methoden zurückzuführen sind, und sie lassen sich je nach Fokus unterschiedlich gewichten. Im Folgenden werden deshalb nur exemplarisch zwei ganz unterschiedliche Aspekte aufgegriffen:
Agile Methoden haben sich in der zunehmend komplexen Welt, in der sich die Softwareentwicklung heute bewegt, bewährt. Selbst «einfache» Suchmaschinen sind inzwischen so komplex, dass auch Experten oft nicht mehr vorhersagen können, wie sich eine Änderung im Algorithmus auswirkt. Also formuliert man im Laufe der (Weiter-)Entwicklung Hypothesen, stellt die veränderte Suchmaschine für kurze Zeit online und wertet die Ergebnisse anschließend aus. Validiertes Lernen aus Experimenten ist eine unverzichtbare Methode moderner Softwareentwicklung geworden, die in klassischen Vorgehensmodellen kaum Platz findet. In agilen Methoden stellt die Freiheit zum Experimentieren hingegen einen Wert dar. Validiertes Lernen fügt sich auf natürliche Weise in die iterativ inkrementelle Entwicklung von Produkten mit regelmäßigen Feedbackschleifen ein, in welcher Kunde und Nutzer eine zentrale Rolle einnehmen.
Agile Methoden stoßen in IT-Unternehmen einen kulturellen Wandel an. Dieser Wandel hat in der Softwareentwicklung sichtbar positive Wirkungen gezeigt, sodass sich die Ideen inzwischen (obwohl Lean Management sie bereits Mitte des letzten Jahrhunderts aufgegriffen hat) auch im modernen Management und außerhalb der IT-Branche wiederfinden. Bildlich gesprochen: Schwerfällige Tanker, in denen oben auf der Brücke getrommelt und unten gerudert wird, sind in bewegter See zu träge. Stattdessen setzt man auf viele kleine, autonome Teams in Kanus, die eigenverantwortlich rudern. Die Klammer, die diese Kanus «lose zusammenhält» und Richtung Ziel lenkt, ist die Kommunikation. Statt als feste Rolle wird Führung als temporäre und «dienende» Aktivität gesehen, die jeder und jede von Zeit zu Zeit ergreift. Agile Unternehmen schätzen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sie vertrauen ihren Fähigkeiten und ihrem Engagement, setzen auf ihre Motivation und sorgen für ein Klima, in dem offen, respektvoll und transparent kommuniziert wird und Erfolge auch gefeiert werden. So macht Arbeit einfach mehr Spaß!