Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book). Detlev Vogel
und Ungerechtigkeiten und die Fähigkeit, deren Auswirkungen «am eigenen Leibe» zu spüren, steigt, was nicht zum Rückzug, sondern zum bewussten Gestalten der eigenen Umwelt führt. Die Lehrerin und Entwicklerin des Polly-Ananda-Programms Nanine Schulz beobachtet, «dass die Menschen, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen, eine andere Form von Wachheit bzw. Bewusstheit gegenüber ihrer Umwelt entwickeln. Achtsamkeit trägt dazu bei, dass wir klarere Entscheidungen treffen, wissen, was zu tun ist und wann wir Stopp sagen müssen. Wenn Achtsamkeit dazu beiträgt, dass wir kraftvoll und voller Energie bleiben können, haben wir die Möglichkeit, uns für unsere und die Rechte der Kinder an der Schule gezielt einzusetzen» (in Krämer, 2019, S. 31).
So ist es sinnvoll, über eine breite Implementierung in die LehrerInnenaus- und -weiterbildung nachzudenken. «Wenn jeder [und jede] angeleitet werden würde, sich selbst mehr zu verstehen, auf Gedanken-Gefühls- und Körperebene, dann würden Konflikte anders ausgetragen werden. Das sollte meiner Meinung nach in der Schule verankert sein und zu einer Art Grundausbildung gehören» (in Krämer, 2019, S. 158), schlägt die MBSR-Ausbilderin und Grundschulpädagogin Karin Krudup vor.
Diese Forderungen sind teilweise bereits umgesetzt, im anglo-amerikanischen Raum ist die Implementierung in Lehrpersonenaus- und -fortbildung mittlerweile weit verbreitet, doch auch im deutschsprachigem Raum entstehen Angebote. Noch sind es einzelne Projekte, die von einer flächendeckenden Verbreitung weit entfernt sind, aber das Interesse, welches Achtsamkeit in der Gesellschaft entgegengebracht wird, ist auch im Bildungssektor angekommen.
Dazu nun eine Auswahl der bestehenden Programme:
Achtsamkeit für Lehrerinnen und Lehrer | Träger/Ort | AutorInnen |
SMART: Management and Relaxation Techniques in Education | University of BC/Vancouver | Margaret Cullen u. a. |
CARE: Cultivating Awareness and Resilience in Education Stress | Garrison Institute/New York | Patricia Jennings u. a. |
MBWE: Mindfulness-Based Wellness Education | University of Toronto | Patricia Poulin u.a |
AiSchu: Achtsamkeit in der Schule, Persönlichkeit und Präsenz | Schulamt Frankfurt/M. AKiJu/Berlin | Vera Kaltwasser |
GAMMA MultiplikatorInnen-Schulung: Gesundheit, Achtsamkeit und Mitgefühl im menschenbezogenen Arbeiten | Universität Duisburg-Essen | Nils Altner |
Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz (im Aufbau) | Universität Leipzig | Susanne Krämer |
DAS-Training: Dialog und Achtsamkeit (vgl. S. 231 f. in diesem Buch) | PH Luzern | Detlev Vogel |
Tabelle 1: Achtsamkeitsprogramme für Lehrpersonen
Betrachten wir nun genauer, welche Inhalte diese Programme vermitteln. Strukturell ist häufig ein Dreischritt festzustellen:
der Aufbau einer eigenen Achtsamkeitspraxis
die Integration in das eigene professionelle Handeln
und darauf aufbauend die Weitervermittlung an Schülerinnen und Schüler.
In der ersten Phase findet die Vermittlung der meditativen Basisübungen (Atemmeditation, Bodyscan, Gehmeditation und/oder eine Form der Bewegungsmeditation) statt, welche auch aus dem MBSR-Programm bekannt sind. Hinzu wird oft ein Schwerpunkt auf die «Übung zur Entwicklung von Mitgefühl» (Metta-Meditation / pali, «liebende Güte») gesetzt, da die wohlwollende, fürsorgliche Haltung sich selbst und anderen gegenüber sowohl als Resilienz- wie auch als Beziehungsfaktor im schulischen Kontext eine entscheidende Rolle spielt. Hinzu kommen Übungssequenzen im Alltag: eine Alltagstätigkeit mit Achtsamkeit verrichten (Hausarbeit, Essen, Radfahren, Treppensteigen …). Auch wird ein kurzes Innehalten über den gesamten Tagesablauf als Pausenstruktur – nach dem stressreduzierenden «Sägezahnprinzip» (vgl. Harrer 2013, S. 132) – oft mit im Alltag wiederkehrenden Remindern verbunden (rote Ampeln, Wartezeiten an Haltestellen, Hochfahren des Computers etc.). Diese Erinnerungsfunktion wird in manchen Programmen auch durch den Einsatz von Apps oder ein gegenseitiges «Peer»-Innehalten per SMS-Kommunikation übernommen.
Hinzu können selbstreflexive (Beobachtungs-)aufgaben ergänzt werden:
Sinn und Ausrichtung der eigenen Entwicklung zu hinterfragen, stellt nach dem israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923−1994) einen wichtigen Parameter in der Stressbewältigung dar (in Esch 2013).
Reflektieren der Lernbiografie ermöglicht durch das Bewusstwerden der eigenen Prägungen die von Heinrich Dauber (2016) als gesundheitsförderlich beschriebene «Distanz zur eigenen Lernbiografie».
Ethische Leitlinien für das eigene professionelle Handeln zu formulieren, um anstelle des von aussen gesetzten Rahmens der spirituellen Traditionen eine selbstentwickelte, richtungsweisende Unterstützung zu geben.
In der zweiten Phase findet die Integration in den schulischen Kontext statt, wobei der Aufbau einer achtsamen Kommunikation oft eine Brücke von der kontemplativen Praxis zum Handeln bildet. Übungsformate sind der achtsame Dialog (vgl. Einsichts-Dialog, Kramer, 2009), Elemente der gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg, 2016) oder nichtwertender Kommunikation (Lohmann, 2013).
Hinzu kommen auf den schulischen Kontext abgestimmte psychoedukative Elemente der Stressreduktion und die Beobachtung des eigenen professionellen Handelns: Was sind für mich schwierige kommunikative Situationen, welche Emotionen treten im Schulalltag auf und wie gehe ich mit ihnen um, welche Inhalte hat meine Kommunikation gegenüber Schülerinnen und Schülern, Eltern/Kollegen, was projiziere ich auf Schülerinnen und Schüler und welche Emotionen liegen zugrunde, gebe ich mir und Schülerinnen und Schülern genügend Zeit, über Fragen und/oder Aufgabenstellungen nachzudenken …?
In der dritten Phase werden die Inhalte bestehender Programme erfahrungsbasiert vorgestellt, Grundlagen der Didaktik vermittelt und das Anleiten von Übungen im situativen Probehandeln gefeedbackt. Fortbildungen arbeiten auch mit Super- oder Intervision, um unmittelbare Rückmeldungen zu geben.
Dieses Vorgehen ermöglicht eine fundierte Vermittlung auf Basis der eigenen persönlichen Entwicklung, welche seit den Ergebnisse der Hattie-Studie (2009) wieder in den Fokus der LehrerInnenausbildung gerückt ist. Um die Tiefe der stattfindenden Prozesse zu verdeutlichen, folgt der Portfolioeintrag eines Studenten: «Auf einer tieferen Ebene ermöglichen mir die Achtsamkeitsübungen, in die Annahme dessen, was ist, zu kommen und auch mich selbst immer mehr anzunehmen. In dieser tieferen Annahme, so ist mein Eindruck, mag auch das zarte und scheue aber irgendwie auch nicht zu unterdrückende wahre Innerste meines Wesens sich immer mehr zeigen, was wunderschön ist. Mit etwas Abstand wird mir auch bewusst, dass all mein erlittener Schmerz durch ein ‹Sich-diesem-innersten-Wesen-in den-Weg-Stellen› zustandekam.» Und eine Studentin ergänzt: «Das Achtsamkeitsseminar hat mich dazu gebracht, so tiefgründig und genau über mich und meine Persönlichkeit, mein Wirken nach aussen nachzudenken wie noch nie» (Student, Portfolio in Krämer 2019, S. 78).
Wege der Implementierung von Achtsamkeit
Bei der Weitervermittlung in der Schule gibt es zwei unterschiedliche Ansätze: