Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book). Detlev Vogel

Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book) - Detlev Vogel


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Disputation antwortet er auf vermeintliche Gegenargumente. Eines davon lautet: «Was soll ich denn tun, wenn ich nicht an Gott und die Engel denken soll?» Hugo de Balma antwortet darauf: «Nicht denken, nur atmen – solum aspirabit, non cogitabit» (Hugo de Balma, 2017, V. 46).

      Intention

      Die richtige Intention ist etwas, was in jeder Ethik vorkommt. Die Ethik der christlichen Tradition legt sehr viel Wert darauf und kann sogar als Intentionsethik beschrieben werden. Denn nicht nur die Handlung an sich zählt, sondern die sie treibende Absicht. Auch in der buddhistischen Tradition ist die Absicht der Schlüssel. Sie wird hier sogar noch speziell geschult durch eigene Übungen, die aber in der Regel erst etwas später eingesetzt werden, weil sie voraussetzen, dass man die Aufmerksamkeit stabilisieren kann. Darunter fallen etwa Mitgefühlsbetrachtungen (Fredrickson, Cohn, Coffey, Peck, & Finkel, 2008; Kuyken et al., 2010; Trautwein, Naranjo, & Schmidt, 2016; Wallace & Shapiro, 2006). In der christlichen Tradition wären dazu äquivalent Fürbittgebete und die Übungen der Nächstenliebe, die oft als die sprichwörtliche «gute Tat» pro Tag verballhornt werden. Auch dieses Übungselement ist wichtig; ich lasse es hier etwas zu kurz kommen, weil ich die Voraussetzungen, Sammlung und Achtsamkeit, als Basis des Mitgefühls betonen will.

      Kultivierung des Geistes als Bildungsaufgabe

      Wissenschaftliche Belege

      Meine These ist nun, dass wir die oben beschriebene Kultivierung des Geistes nicht als Privatangelegenheit sehen sollten, sondern als zentrale Bildungsaufgabe unserer Gesellschaft. Um gleich ein Missverständnis zu vermeiden: Dies ist keine krypto-buddhistische Missionierung, wie manchmal zu hören ist. Zwar stammen die basalen Konzepte aus der buddhistischen Psychologie, aber sie haben mit Religion wenig zu tun, sondern sprechen grundlegende psychologische Sachverhalte an. Das ist auch der Grund, weswegen die Achtsamkeitsthematik in den letzten 30 Jahren einen beispiellosen Siegeszug durch die medizinische und psychologische Wissenschaft angetreten hat. Seit Jon Kabat-Zinn vor beinahe 40 Jahren eine säkulare Form des Meditationstrainings für Patienten entwickelt hat, die als «mindfulness-based stress reduction» (MBSR) bekannt wurde (Kabat-Zinn, 1982), hat dieses Training sich weit verbreitet (Kabat-Zinn, 1998). Wir haben 2004 die erste Meta-Analyse publiziert und die Wirksamkeit dieses Trainings belegt (Grossman, Schmidt, Niemann, & Walach, 2004). Seither sind mehr als 120 Überblicksarbeiten zu unterschiedlichen Bereichen der Wirksamkeit und Anwendung von MBSR publiziert worden und sogar eine Meta-Meta-Analyse über diese Reviews, die unsere ursprünglichen Befunde bestätigt: MBSR ist eine wirksame Methode, um klinische Symptome wie Angst, Depression oder Stressbelastung zu reduzieren (Gotink et al., 2014). Dies hängt damit zusammen, dass sich in den angesprochenen Themen und Prozessen ganz allgemein unsere Psychologie ausdrückt, die für alle Menschen relevant ist, unabhängig von ihren religiösen Neigungen oder davon, ob sie überhaupt religiös sind. Denn Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, präsent zu sein, sind allgemein menschliche Ressourcen, und wenn wir sie schlecht nützen, geht es uns psychisch schlecht, egal ob wir Buddhisten, Atheisten, Muslime oder Christen sind (Lutz, Slagter, Dunne, & Davidson, 2008).

      Achtsamkeitsbasierte Programme sind entwickelt worden, um den Rückfall in die Depression zu verhindern (Segal, Williams, & Teasdale, 2002). Sie sind mindestens so wirksam wie die Gabe von Medikamenten (Kuyken et al., 2016), und mittlerweile gibt es kaum ein Gebiet, angefangen bei Essstörungen über Gebären bis zu Kindererziehung, auf dem nicht achtsamkeitsbasierte Programme und Lehrgänge existieren. Wir haben vor Kurzem die Literatur gesichtet, die sich mit solchen Programmen für Schüler und Kinder beschäftigen. Wir konnten insgesamt 24 Studien aus dem pädagogischen Bereich in unsere Analyse einschliessen und fanden über alle Studien gemittelt eine signifikante Effektgrösse von g = 0.41 (Zenner, Herrnleben-Kurz, & Walach, 2014). Darin sind alle möglichen Erfolgsmasse enthalten, auch solche, die wenig Veränderung zeigen. Nimmt man nur diejenigen Masse, die die kognitiven Fähigkeiten bei Kindern abbilden, so findet man über alle Studien hinweg, die solche Masse verwendet haben, eine Effektgrösse von g = 0.80. Dies halten wir für eine beachtliche Grösse, zumal das Forschungsgebiet noch sehr jung ist und die Studien deshalb naturgemäss noch nicht ausgereift sind, oftmals unpassende Messverfahren verwendet haben und nicht dazu angelegt waren, endgültige Daten vorzulegen. Diese Meta-Analyse zeigt: Achtsamkeitstraining kann in den Schulkontext integriert werden und das kann hilfreich sein.

      Wir haben auch versucht, ein Achtsamkeitsprogramm für die Grundschule zu entwickeln und zu implementieren (Zenner, 2016). Da die Studie noch nicht publiziert ist, kann ich hier nur grob berichten: Es ist nicht trivial, im Schulkontext solche Modelle zu entwickeln, zumal man Kinder nicht extra belasten will. Es ist uns aber im zweiten Anlauf gelungen, indem wir eine Klasse ein halbes Jahr regelmässig begleitet haben. Das geschah zum Teil in eigenen Stunden, die die Klassenlehrerin abgetreten hat, zum Teil als kürzere Einheiten innerhalb einer Stunde, aber regelmässig zweimal wöchentlich. Wir verglichen die Effekte mit einer Parallelklasse. Am eindeutigsten waren die Daten der qualitativen Befragung und der Einschätzung durch die Lehrkräfte. Diese waren durchwegs positiv und belegen, dass sich die Haupteffekte vor allem in der Fähigkeit zur Sammlung und Konzentration zeigen, dass die Klasse ruhiger wurde – leider haben wir das Lärmniveau nicht gemessen –, und dass die Kinder hilfsbereiter und freundlicher zueinander wurden. Viele nahmen die Übungen mit nach Hause und wollten sie mit ihren Geschwistern, Eltern und Freunden machen.

      Mittlerweile hat in England eine breite Bewegung «Mindful Schools» eingesetzt. Diese wurde initiiert und möglich gemacht durch einen Parlamentsbericht «Mindful Nation», der die wissenschaftlichen Befunde zusammengetragen hat. Mittlerweile haben mehr als 100 Schulen begonnen, ein eigens für Kinder entwickeltes Programm «.be − dot be» umzusetzen, was derzeit in einer grossen cluster-randomisierten Studie untersucht wird. Dabei werden Schulen, die das Programm umsetzen wollen, zufällig entweder entsprechend geschult oder nicht bzw. erst nach Abschluss der wissenschaftlichen Dokumentation.

      Die Daten, die wir derzeit haben, lassen also durchaus vermuten, dass die systematische Übung von Achtsamkeit nützlich nicht nur für Patienten, sondern auch im Schulkontext sein kann.

      Pragmatische Aspekte

      Allerdings muss man vor allem im Schulkontext, aber auch anderswo, bedenken, dass Achtsamkeit keine Wunder bewirkt und ein dysfunktionales System mit einem Schlag wieder «zum Laufen bringt». Genauso wenig kann man Achtsamkeit und Bewusstseinskultur einfach als ein neues Methodenelement einführen. Es handelt sich vielmehr um eine Schul-, Lehr- und Lernkultur. Diese fängt bei den Lehrpersonen an. Silke Rupprecht hat in ihrer Doktorarbeit gezeigt, dass ein angepasstes MBSR-Programm für Lehrerinnen und Lehrer in der Weiterbildung von diesen begeistert aufgenommen wurde und Erschöpfung und Depression reduziert (Lomas, Medina, Ivtzan, Rupprecht, & Eiroa-Orosa, 2017; Rupprecht, 2015; Rupprecht, Paulus, & Walach, 2017). Allerdings wissen wir nicht, was geschieht, wenn mehr Lehrerinnen und Lehrer in ihren Unterricht Elemente von Achtsamkeitsübungen einstreuen und eine entsprechende Kultur entwickeln. Einzelerfahrungen wie die von Vera Kaltwasser aus ihrem eigenen Programm sind durchaus positiv (Kaltwasser, 2008, 2010; Kaltwasser, Sauer, & Kohls, 2014). Möglicherweise muss man im Schulkontext auch ganz neue Wege gehen, und es wird sich darum handeln, dass eine neue Schulkultur entsteht. Diese wird davon abhängen, ob und wie viele Lehrkräfte eine solche Bewusstseinskultur in ihr eigenes Alltagsleben integrieren.

      Das wird bedeuten, eine regelmässige Praxis der Sammlung und der geistigen Hygiene in den Alltag einzubauen. Was und wie genau das geschehen kann, muss jedem Menschen überlassen bleiben. Denn jeder ist anders. Für die eine ist vielleicht die traditionelle Methode des ruhigen Sitzens für 20 bis 30 Minuten täglich und das Achten auf den Atem die beste Option, während andere eher körperliche Methoden bevorzugen und lieber Tai-Chi- oder Yoga-Übungen machen oder morgens in aller Stille mit dem Hund spazieren gehen und aufmerksam die Umgebung wahrnehmen. Und in unterschiedlichen Lebensabschnitten werden vielleicht auch unterschiedliche Methoden wichtig sein. Entscheidend scheint mir, dass Menschen beginnen zu verstehen, wie zentral unser Bewusstsein und dessen Kultivierung für unser privates Leben und Glücklichsein, aber auch für das gesellschaftliche Leben und Gedeihen sind und entsprechende Massnahmen in ihr Leben integrieren. Denn schliesslich ist unser Bewusstsein das Einzige in der Welt, was wir wirklich unmittelbar verändern können. Bedenken wir, dass die Einführung der Hygiene in der Mitte des 19. Jahrhunderts der wichtigste medizinische


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