Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book). Detlev Vogel
auch der «innere Lärm», den wir kennen, wenn einmal nichts passiert und wir uns einfach still hinsetzen und für einen Moment die Augen schliessen. Meistens erleben wir dann eben nicht Stille, sondern innere Unruhe und Lärm. Es gibt für unseren Zusammenhang zwei interessante Befunde aus der Gehirnforschung: Menschen, die später an Demenz erkranken, haben in jüngeren Jahren eine höhere Aktivität dieses Ruhe-Netzwerks (Roberson & Mucke, 2006; Ystad et al., 2011). Das scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass eine Überlast dieser Aktivität nicht gesund für uns ist. Menschen, die regelmässig Meditation betreiben, weisen eher eine niedrigere Basisaktivität dieses Netzwerks auf (Wells et al., 2013). Darin dürfte sich neurophysiologisch die grössere innere Ruhe spiegeln, die phänomenologisch zu beobachten ist, wenn man sich mit einer derartigen inneren Praxis beschäftigt. Hingegen macht Tagträumen tendenziell nicht nur unglücklich, sondern auch fehleranfälliger (Smallwood, Mrazek, & Schooler, 2011).
Unabhängig von McGilchrist hat vor einiger Zeit der deutsche Psychologe Julius Kuhl ein sehr ähnliches Modell entwickelt, gestützt auf einen monumentalen Überblick über die psychologische und neurowissenschaftliche Literatur. Auch hier spielt die Komplementarität zwischen zwei unterschiedlichen Bearbeitungsmodi, dem sequenziell-analytischen, sprachlich-bewussten und dem parallel-synthetischen, gefühlsbetonten und tendenziell unbewussten eine zentrale Rolle (Kuhl, 2000, 2001). Wir sehen daran: Dies ist nicht einfach ein beliebiger Befund, sondern wichtig für das Verständnis menschlicher Psychologie.
Kultur und Kultivierung des Geistes
Damit sind wir bei den praktischen Möglichkeiten: Kultur oder Kultivierung des Geistes scheint mir aus diesen Gründen die notwendige pädagogische und kulturelle Antwort auf die Fragen zu sein, die unsere momentanen Anforderungen an uns stellen. Weil die Belastungen unseres kognitiven Systems dermassen zunehmen, müssen wir auch pädagogisch und kulturell Massnahmen entwickeln, um uns innerlich gesund zu erhalten. Kultivierung des Bewusstseins wäre eine solche mögliche Antwort. Mit dem Begriff «Kultivierung», der sich vom lateinischen «colere – bebauen, bepflanzen, hegen» ableitet, ist das Bild des Gärtnerns verbunden. Der Gärtner weiss, was auf einem Boden gut wächst. Er sät, pflanzt, giesst, hegt, düngt und jätet, um das wachsen zu lassen, was er gedeihen sehen will, und das zu verdrängen, was diesem Gedeihen hinderlich ist. Insofern ist Kultivierung des Bewusstseins ein wesentlich weiterer Begriff als nur das Einführen einer neuen Methode. Es ist eine Haltung, zu der viele Methoden gehören.
Achtsamkeit und Sammlung
Vielleicht die wichtigste Methode, vergleichbar dem regelmässigen Bewässern, ist die Methode der täglichen Sammlung und Reinigung des Geistes. Das wird derzeit gerne unter dem Titel «Achtsamkeit» geführt. Um dies besser verstehen zu können, ist es nützlich, diesen Begriff von seinem Ursprung her zu sehen. Der Begriff «Achtsamkeit» ist eine – vermutlich unzulängliche – Übersetzung des Pali-Begriffes «sati». Dieser meint das volle Gegenwärtigsein und ein gutes Sicherinnern an diese Gegenwart. Achtsamkeit ist Teil der dreigliedrigen Kultur des Bewusstseins (Abb. 1). «Kultur des Bewusstseins» ist eine Übertragung des pali-Wortes «dhyana», das von den Indologen des 18. Jahrhunderts mit «Meditation» übersetzt wurde, weil dies der Begriff war, der in ihrem Erfahrungshorizont dem ursprünglichen Bedeutungsgehalt von «dhyana», der Kultivierung des Bewusstseins, am nächsten kam. Damit bezogen sie sich auf die alte Mönchstradition, in der die «meditatio» eine Stufe unter mehreren war, die den inneren mystischen Weg beschrieb. Meditation ist dabei eher das wiederholte Mit-sich-Herumtragen eines Bibelwortes, das dann geistig analysiert, aber auch «verkostet» wird, wie sich Ignatius von Loyola auszudrücken pflegte (Loyola, 1967). Aber «dhyana» ist mehr als das. Zu dieser Geisteskultur gehört neben Achtsamkeit auch noch die Sammlung – «samadhi». Dies ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit für längere Zeit auf einen Inhalt zu konzentrieren. Das dritte Element ist die richtige Intention, also das Kultivieren von Wohlwollen und Offenheit. Diese drei Elemente, Sammlung, Achtsamkeit und Intention, machen die zentralen Glieder der Kultivierung des Geistes aus. Sie setzen «sila», den ethischen Lebensvollzug, voraus, der aus rechter Rede, rechtem Lebensunterhalt und rechter Handlung besteht. Übt man den Geist regelmässig, entstehen daraus die beiden letzten Elemente: Einsicht und Weisheit. Interessanterweise sind Einsicht und Weisheit nicht direkt ansteuerbar und erzeugbar, da sie eher so etwas wie integrierte Fähigkeiten des Geistes sind, die entstehen, wenn der Geist ausreichend kultiviert ist (Buchheld & Walach, 2004). Man kann sie genauso wenig «machen», wie man die Schönheit oder das Blühen eines Gartens erzeugen kann. Man muss den Garten kultivieren. Dann entstehen Schönheit, Blüte und Frucht von selbst.
Abbildung 1: Dhyana – Kultur des Bewusstseins – im Kontext des 8-fachen Pfades
Intention, Achtsamkeit und Sammlung bedingen sich gegenseitig. Achtsamkeit, also die Fähigkeit, mit allen unseren Sinnen und Prozessen im Augenblick gegenwärtig zu sein, setzt die Fähigkeit zur Sammlung voraus. Umgekehrt erleichtert Achtsamkeit als Haltung die Fähigkeit, sich zu sammeln. All das ist aber wertlos und kann auch in eine destruktive Richtung gelenkt werden, wenn die richtige Intention fehlt.
Sammlung und Achtsamkeit
Sammlung könnten wir als die grundlegende Fähigkeit ansprechen. Daher ist die basale Übung jeder geistigen Kultivierung, ob sie aus buddhistischen oder anderen Kontexten kommt, die Fähigkeit, zu fokussieren. Die grundlegende Übung dazu ist das Achten auf den Atem, entweder als Betrachten der Aus- und Einatemzüge, indem man die körperlichen Prozesse beobachtet, das Heben und Senken des Bauchraumes, die Sensationen im Körper oder an der Nase, oder indem man das Atmen selbst zählt, z. B. von 1 bis 10, und dabei die Atemzüge beobachtet. Dies läuft gemeinhin als «Atemachtsamkeit». Die Übung besteht nicht im Gelingen dieses Beobachtens, sondern im kontinuierlichen Zurückkehren der Aufmerksamkeit zum Atem, sobald sie abschweift und man sich bei diesem Abschweifen ertappt.
Andere Möglichkeiten bestehen in der Körperachtsamkeit, indem man aufmerksam durch den Körper geht, dabei Körperstrukturen, Muskelspannungen, Schmerzen etc. wahrnimmt und benennt. Auch andere Körperübungen, wie Yoga-Übungen, Chigong oder Tai-Chi-Übungen, Eutonie bieten die Möglichkeit, die Sammlung zu üben und zu vertiefen, wenn sie in dieser Haltung der neugierigen gegenwärtigen Aufmerksamkeit gemacht werden. Die Gefahr bei Körperübungen ist allerdings immer die, dass unser instrumentell-analytischer Geist übernimmt und die Übung zu einem inneren Wettbewerb gegen sich selbst umgestaltet: noch weiter, noch schneller, noch fester, noch mehr … Genau dieser Haltung aber soll durch einfaches Beobachten, Geschehenlassen und neugieriges Teilhaben Einhalt geboten werden.
Die Schulung der Sammlung ist die Voraussetzung für Achtsamkeit bei allen möglichen Handlungen im Alltag. Alles, sogar das Hetzen, kann man achtsam oder unachtsam tun. Wenn wir etwa achtsam hetzen, bemerken wir die aufkeimende Angst oder Panik, die mit der Sorge, etwas zu verpassen – den Termin, den Zug, die Verabredung –, verbunden ist; wir bemerken die körperliche Spannung, die Gedanken der inneren Schuldzuweisung («immer das gleiche, ich bin so doof, wieder nicht rechtzeitig losgegangen…»). Wenn wir das oft genug achtsam tun, werden wir vermutlich irgendwann etwas unternehmen, um diesem unangenehmen Zustand nicht mehr so ausgeliefert zu sein. Aber man kann auch ganz einfache Dinge des Alltags vollziehen und dabei Achtsamkeit üben: die Wohnung säubern, Geschirr spülen, auf eine Bahn warten, von A nach B gehen. Wir können dabei Achtsamkeit üben, indem wir einfach komplett in dem sind, was wir tun. Wir werden dann erstaunliche Wahrnehmungen und Entdeckungen machen.
Häufig hört man, dies alles seien ja östliche, buddhistisch-religiöse Konzepte, die in einem westlichen, vor allem säkularen Schulkontext nichts verloren hätten. Das halte ich für eine zwar verständliche, aber falsche Wahrnehmung. Achtsamkeit und Sammlung sind menschlichpsychologische Fähigkeiten. Die buddhistische Psychologie hat sich vielleicht als erste und am systematischsten damit auseinandergesetzt. Dass es sich dabei nicht um ein exklusiv östlich-buddhistisch religiöses Konzept handelt, können wir etwa an einem mystischen Text des Mittelalters sehen. Er stammt vom Kartäusermystiker Hugo de Balma, den ich vor einer Weile übersetzt und mit einer historischen Einleitung versehen neu editiert habe. Dieser unbekannte Autor, der alle mystischen Autoren nach ihm – Meister Eckhart, die spanische Mystik, die devotio moderna – nachhaltig beeinflusst