Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book). Detlev Vogel

Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book) - Detlev Vogel


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am Abend, in der man nicht mehr arbeiten konnte und musste, aber auch noch keiner anderen Betätigung nachgehen konnte; die sonntägliche Ruhepause, die zu einer gewissen Temporeduktion zwang; die eher langsame Informationsbeschaffung durch direkte Kommunikation im Gespräch oder durch Lesen; die Notwendigkeit, sich durch Imagination an Orte zu versetzen, von denen man gehört oder gelesen hatte, und die dort geschilderten Handlungen nachzuvollziehen; die Notwendigkeit, sich räumlich zu orientieren, sich Wege und Landmarkierungen zu merken. Und das sind nur einige Beispiele.

      Daraus folgt einigermassen zwingend: Das Bildungssystem – eigentlich angefangen mit dem Kindergarten – muss diese Grundfähigkeiten des Bewusstseins schulen: Aufmerksamkeit, Präsenz, Verweilenkönnen, Imagination und Vorstellungskraft, Wählenkönnen und innerliches Dranbleiben. Dies fasse ich als Gegenpol zu unserer allgemein verbreiteten Kultur der Zerstreuung unter dem Begriff der «Kultur» oder «Kultivierung des Bewusstseins».

      Die Kultur der Zerstreuung zeigt sich aber in einer weiteren, für das menschliche Bewusstsein fatalen Facette: Durch die hohe Anforderung der Informationsfülle, die auf uns hereinströmt, scheint immer mehr in immer kürzerer Zeit zu bewältigen zu sein. Waren früher etwa Nachrichten im Fernsehen gesprochene Texte der Information mit Bildausschnitten illustriert, sieht man heute nicht selten Bilder, die mit Texten von davon unabhängigen Meldungen als «Nachrichtenticker» unterlegt sind, und womöglich noch den Verlauf der Aktienkurse in einem dritten Fenster. Implizit werden wir durch diese und andere Situationen – Lautsprecherbotschaften oder Radiomusik im Einkaufszentrum, Fernsehen und Radio als Hintergrund in allen möglichen Situationen – dazu aufgefordert, unsere Aufmerksamkeit aufzuteilen. Das ist unter dem Titel «Multitasking» sogar mittlerweile populär. Wir denken, weil wir Maschinen entwickelt haben, die das anscheinend können, müssten wir das auch tun. Allerdings vergessen wir dabei: Die von uns entwickelten Computer können gar nicht wirklich Multitasking betreiben, genauso wenig wie wir. Vielmehr handelt es sich dabei um ein «Multiswitching», also ein schnelles Hin- und Herspringen zwischen unterschiedlichen Prozessen. Einen Computerprozessor kann man so programmieren, dass er partitioniert wird und in jeder dieser Partitionen unterschiedliche Prozesse laufen, auf die der Hauptprozessor dann in so raschem Wechsel zugreift, dass es für uns den Anschein der Parallelität hat. Auch unser Bewusstsein kann nicht mehrere bewusste Prozesse parallel ausführen. Vielmehr muss unser kognitives System von einem zum anderen Prozess springen und währenddessen den vorherigen anhalten und im Arbeitsgedächtnis bewahren, um darauf zurückkommen zu können. Das ist insgesamt aufwendiger und dauert länger, als wenn die Prozesse nacheinander ablaufen würden. Die kognitive Psychologie kennt das unter dem Titel «switching costs», die Kosten des Umschaltens (American Psychological Association, 2006; Rubinstein, Meyer, & Evans, 2001). Wir kennen das aus unserer Alltagserfahrung: Wir können, wenn wir eine Handlung sehr gut gelernt haben, so dass sie automatisch ablaufen kann – sog. überlernte Tätigkeiten wie Autofahren, Radfahren, Gehen – durchaus gehen, Autofahren, Radfahren und dabei mit jemandem eine sinnvolle Unterhaltung führen. Aber sobald der Weg anspruchsvoll wird, etwa im Gebirge, oder potenziell gefährliche Situationen auf der Strasse auftauchen, erlischt das Gespräch, weil wir uns voll auf die Situation konzentrieren müssen. Desgleichen merken wir oft, dass uns Information entgeht, wenn wir beispielsweise während eines Gesprächs in Gedanken abschweifen oder de facto uns einer anderen Informationsquelle zuwenden, z. B. rasch nach einer E-Mail schauen.

      Unser Alltagsleben macht derartige Ablenkungen, Reizüberflutungen und Zerstreuungen zum Normalzustand; wir haben uns so daran gewöhnt, dass uns die Absurdität vieler Situationen gar nicht mehr auffällt. Aus Sicht unseres Bewusstseins und unserer menschlichen Fähigkeiten ist diese Situation fatal. Sie führt nämlich nicht nur dazu, dass die Endergebnisse anfälliger für Fehler werden – denken wir etwa an jenes Zugunglück in Bayern vor nicht allzu langer Zeit, das deshalb geschah, weil der zuständige Fahrdienstleiter im Stellwerk gerade mit einem Computerspiel beschäftigt war und einige Hinweise übersehen hatte –, sondern auch dazu, dass wir ineffizienter werden, ausgelaugter und unzufriedener mit unserem Leben.

      Wo, wenn nicht im Bildungssystem, sollen unsere Kinder und Jugendlichen lernen, mit dieser Situation umzugehen und ihre Bewusstseinsressourcen so einzusetzen, dass sie im Alltagsleben effizient und glücklich werden? Das gehört für mich zu einer Kultivierung des Bewusstseins.

      Die Überbetonung des Narrativ-Sequenziellen und der Verlust der Imagination

      Der englische Autor, Psychiater und ehemalige Oxforder Gelehrte Iain McGilchrist hat unlängst in einem monumentalen Zugriff eine für unser Thema wichtige kulturhistorische Entwicklung deutlich gemacht: Unsere gesamte moderne westliche Kultur kann gesehen werden als dominiert durch einen ganz bestimmten intellektuellen Stil, der die sequenzielllogische, algorithmische und narrative Deutung der Welt begünstigt und der auch der Arbeitsweise unserer Computer zugrunde liegt (McGilchrist, 2009). Es ist dies der kognitive Stil der dominanten Hemisphäre in unserem Gehirn, bei Rechtshändern ist es die linke. Denn nur sie ermöglicht es, uns sprachlich-begrifflich zu äussern, logisch zu analysieren, kausale Zuordnungen zu treffen und Dingen Prädikate zuzuschreiben. Eigentlich, so McGilchrists These, ist aber die rechte Hemisphäre, die viel stärker in Bildern operiert, netzwerkartig Sinnstrukturen und Muster verknüpft und erkennt, die für unser Leben und für ein glückliches Erfahren wichtigere. Denn in ihr erfolgt die Verknüpfung unserer biografischen Erfahrung – unseres Selbstgefühls, unseres nicht notwendigerweise explizierbaren Wissensfundus, unserer Lebenserfahrung – mit momentanen Anforderungen. Weil sie keine sprachlich-präzisen Äusserungen treffen kann, sondern eben durch Bilder und Gefühlstönung operiert, darum benötigt sie die linke Hemisphäre, gleichsam als Exekutive. Allerdings ist die rechte Hemisphäre eigentlich die zentralere Instanz. McGilchrist liest unsere Kulturgeschichte als eine heimliche Übernahme nicht nur der Ausführungs- sondern auch der Definitionsmacht durch die an sich nachgeordnete linke Hemisphäre. Daher auch der Titel des Buches von McGilchrist, «Der Herr und sein Gesandter – The Master and his Emissary». Bildhaft wird die Geschichte illustriert durch jene orientalische Erzählung von einem König, der gerne gutes Essen hatte und daher einen guten Koch beschäftigte. Als er seinen Koch für seine gute Arbeit belobigen wollte, fragte er ihn, ob er ihm einen Gefallen tun könne. Der Koch erbat sich als Gunst, für einen Tag König sein zu können. Das bewilligte der König gern. Als der Koch nun für einen Tag König wurde, setzte er als Erstes den eigentlichen König ab, liess ihn köpfen und machte sich selbst zum König.

      Diese Geschichte illustriert das Drama unserer Kultur, in der sich allmählich immer mehr der Diener als Herr aufspielt: Der logisch-sprachlich-sequenzielle Verarbeitungsmodus lässt uns glauben, er sei die einzige und beste Art, die Welt – rational und wissenschaftlich – zu betrachten. Die narrativ-sprachliche Vorgehensweise legt uns nahe, dass die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen und die wir explizit erzeugen können, die (einzig) wahren Geschichten über uns selbst und die Welt seien. Darüber vergessen wir nicht selten: Die Welt ist mehr als das, was wir logisch-analytisch von ihr begreifen, und wir sind mehr als die expliziten Geschichten, die wir von uns wissen und über uns erzählen können. Diese Dichotomie zwischen den beiden Verarbeitungsmodi zeigt sich phänomenologisch häufig in einem Konflikt zwischen «Kopf» und «Bauch» oder «Herz», und unsere Erfahrung lehrt uns, dass es nicht immer weise ist, den «Kopf» über das «Herz» zu stellen. Häufig äussert sich im Bauchgefühl unsere schlecht explizierbare Erfahrung, die eben nicht leicht verbalisierbar ist, sondern sich im Gefühl oder in Bildern zeigt. Sie ist eine äusserst wichtige Ressource in Alltagssituationen – ob es jetzt so einfache Dinge sind wie unser Geschmack oder ob es komplexe Fragen sind wie welcher Beruf oder Partner zu uns passt. Wie lernen unsere Kinder und Jugendlichen heute, Zugriff auf diese Ressource zu üben und sie zu nutzen?

      Neurophysiologisch wären alle kreativen und musischen Aktivitäten dazu angetan, die Aktivität der rechten Hemisphäre zu fördern. Sie finden immer weniger Raum in Schule und Alltag. Stattdessen befördern die Geschichten in Worten und Bildern – Fernsehen, Facebook, Computerbilder – die Aktivitäten unserer narrativen Seite. Das führt in den Zeiten, in denen unser Geist nicht mit externer Aufmerksamkeit beschäftigt ist, dazu, dass wir intern in diesen Geschichtenerzählmodus abdriften. Wir kennen das als Tagträumen – englisch «mind wandering» – und das innere Ausbuchstabieren von vorgestellten Inhalten (Smallwood & Schooler, 2006). Dabei ist das sogenannte


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