Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book). Detlev Vogel
dann ermutige ich Sie, aus den Haltungen, die durch Achtsamkeit gefördert werden, den Anfängergeist immer im Vordergrund zu behalten, damit die ersten Schwierigkeiten nicht zum Aufgeben führen. Mit Anfängergeist meine ich das Hier und Jetzt, ohne die Störung durch Gedanken, vorgefasste Meinungen, Interpretationen und Bewertungen. Es ist der Moment, in dem Frische, Neugier und Kreativität möglich sind. An den Anfängergeist können wir uns immer wieder erinnern, wenn etwas nicht so läuft, wie wir es uns vorstellen, und unser Wissen uns nicht weiterbringt. Wenn wir als Anfänger und Anfängerinnen einer neuen Erfahrung auf diese Weise begegnen, dann werden wir unseren Geist weit machen und die Offenheit nicht verlieren, die uns ermöglicht, unsere Sinne immer wieder auf das Neue einzustimmen, auf das Wunder dieses und des nächsten Augenblicks, auf Veränderung und Wandel. Mögen wir alle den Anfängergeist in unserem Beruf, in unseren Begegnungen und in unserer Praxis pflegen und in jede Erfahrung den frischen Blick und unser authentisches Sein hineinbringen!
KULTIVIERUNG DES BEWUSSTSEINS – BILDUNGSAUFGABE FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT
Harald Walach
Unser Bildungssystem in Schule und Hochschule ist zweifellos leistungsfähig, wenn es um die Heranbildung des Intellekts und der Vermittlung von Wissen geht. Das sieht man daran, dass das System Fachleute hervorbringt, die in der Lage sind, in unserer komplexen Welt gekonnt zu handeln, Neues zu erfinden und insgesamt unser Leben immer komfortabler und sorgenfreier zu machen, zumindest in materieller Hinsicht. Mir scheint aber, dass das Bildungssystem recht unvorbereitet ist, wenn es darum geht, jungen Menschen die Ressourcen zu vermitteln, die sie brauchen, um in einer Welt voller Informationsüberflutung, schneller Taktung, hoher Anforderung an Unterscheidungsfähigkeit und soziale Kompetenz gut zurechtzukommen. Das verwundert niemand, denn in aller Regel sind komplexe soziale Systeme langsamer in ihrer Entwicklung als die Veränderungen der Umwelt, da sie vor allem darauf ausgelegt sind, Veränderungen zu absorbieren. Erst wenn das nicht mehr möglich ist, passen sie sich selbst an und das System selbst verändert sich (Capra & Luisi, 2014; Luhmann, 1984). Ein solcher Punkt, an dem sich das Bildungssystem selbst verändern muss, scheint mir gekommen zu sein, und ich will hier kurz skizzieren, wie ich diese Veränderung sehe, warum sie nötig ist, und worauf sie hinauslaufen könnte.
Ich diskutiere diese Veränderung des Systems unter der Überschrift «Kultivierung des Bewusstseins». Dies ist ein ungewöhnlicher Begriff und daher erklärungsbedürftig.
Bewusstsein und Aufmerksamkeit
Wenden wir uns zunächst dem Begriff «Bewusstsein» zu. Ich lehne mich an die Definition an, die Franz Brentano (1838−1917), einer der Gründerväter der deutschen Psychologie, gegeben hat und die die Entwicklung der Kognitionsforschung massgeblich beeinflusst hat (Brentano, 1982; Davis, Gillet, & Kozma, 2015; Guttmann, 2002). Bewusstsein ist die Fähigkeit eines Systems, sich zu eigenen Inhalten und Prozessen ins Verhältnis zu setzen, diese also intern zu repräsentieren, zu bewerten, zu wählen. Das gilt auch für die Aufmerksamkeit, die ein Mensch etwa auf einen Inhalt richtet, sie lässt sich deshalb in diese Definition als mitgemeint integrieren. Die komplexe philosophische Frage, ob Bewusstsein im Menschen allein durch neurologische Prozesse verstehbar ist oder nicht, klammern wir hier aus. Ich selbst bin der Meinung, dass das nicht möglich ist, wie ich an verschiedenen Stellen ausgeführt habe (Walach, 2007, 2014), ganz einfach deswegen, weil es sich bei Bewusstseinsprozessen und bei neuronal-materiellen Prozessen um kategorial unterschiedliche Vorgänge handelt. Ich schliesse mich hier der Argumentation von Hoche, Chalmers und anderen an (Chalmers, 1996; Hoche, 2008; Noë, 2009). William James (1842−1910), der Gründungsvater der amerikanischen Psychologie und Zeitgenosse von Franz Brentano, hat sehr genau gesehen, dass das Bewusstsein die zentrale Funktion des Menschen ist. Daher hat er gesagt, Psychologie könne definiert werden als die «Wissenschaft vom Bewusstsein als solchem» (James, 1984). Brentano hat ganz ähnlich formuliert: «Wo Bewusstsein ist, dort beginnt die Psychologie» (Brentano, 1895). William James wies darauf hin, dass das Bewusstsein einem Strom von immer wechselnden Inhalten gleicht, auf die wir zugreifen können, indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten. Daher ist für ihn die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu richten, zu bündeln und zu halten, eine der zentralsten Fähigkeiten des Menschen und Bildungsaufgabe für die Pädagogik schlechthin. James drückte es so aus: «The faculty of voluntarily bringing back a wandering attention, over and over again, is the very root of judgment, character and will. … An education which should improve this faculty would be the education par excellence. But it is easier to define this ideal than to give practical directions for bringing it about. – Die Fähigkeit, eine wandernde Aufmerksamkeit willentlich zurückzuholen, immer wieder, ist die Grundlage von Urteilskraft, Charakter und Wille. … Eine Erziehung, die diese Fähigkeit verbessern würde, wäre die Erziehung schlechthin. Aber es ist einfacher, dieses Ideal zu definieren, als praktische Hinweise zu seiner Umsetzung zu geben» (James, 1981, S. 424). Implizit in dieser Diskussion ist auch das Verständnis, das durch die Neurowissenschaft unserer Tage bestätigt wird, dass eine Vielzahl von internen Prozessen der Wahrnehmung, des Wünschens und Vermeidens, des Bewertens und der Kategorisierung in unserem Geist ablaufen, deren wir uns nicht bewusst sind, weil sie zu rasch ablaufen und weil unsere wachbewusste Zugriffsmöglichkeit beschränkt ist (Berner, 2002; Kihlstrom, Barnhardt, & Tartaryn, 1992). Unser Bewusstsein gleicht nämlich einem Flaschenhals von endlichen Möglichkeiten dessen, was wir bewusst vor unserem inneren Auge halten können (Slagter et al., 2007). Dieses Verständnis von Bewusstsein geht also von einer bewusstseinsfähigen, aber nicht immer bewussten Basis kognitiver und emotionaler Prozesse aus. Wir sind uns beispielsweise nicht immer und jederzeit unserer Zehen bewusst, einfach deshalb, weil es nicht immer nötig ist und weil meistens andere Inhalte unsere Aufmerksamkeit fordern. Aber wir können unsere Aufmerksamkeit bewusst darauf richten und spüren dann die Temperatur in unseren Zehen, ob sie bequem im Schuh ruhen oder nicht, ob wir alle fünf Zehen spüren können oder nur manche usw.
Daher ist eine zentrale Aufgabe jedes Bildungssystems die Schulung der Fähigkeit, aufmerksam zu sein und diese Aufmerksamkeit für eine bestimmte, idealerweise selbstgewählte Zeit auf einen Inhalt zu richten. Denn Aufmerksamkeit ist die Basis für andere wichtige kognitive Prozesse wie etwa Gedächtnis, Bewerten und Kategorisieren, also das Verknüpfen mit anderen wichtigen Inhalten. Aufmerksamkeit und die Fähigkeit der inneren Wahrnehmung von emotionalen Zuständen – Gefühlstörungen, Affektzustände, Körpersensationen – sind auch die Basis für die Regulation von Emotionen und für Impulssteuerung und Handlungskontrolle (Jha, Krompinger, & Baime, 2007; Jha, Stanley, Kiyonaga, Wong, & Gelfand, 2010; Stadtmüller & Gordon, 2011). Ohne die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu lenken, sind Impulskontrolle und Handlungsfähigkeiten beeinträchtigt. Das können Menschen bezeugen, die mit Kindern zu tun haben, die das Etikett «Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom» verpasst bekommen haben. Vielleicht ist es eine der Signaturen unserer postmodernen Zeit, dass die Zahl solcher Kinder zunimmt, auch wenn man steigenden Inzidenzziffern in diesem Bereich gegenüber skeptisch bleiben muss (Boyle et al., 2011). Denn die vermeintliche Möglichkeit der pharmakologischen Behandlung erzeugt auch das Bedürfnis nach Diagnose und führt leicht zur Überdiagnostik, auch wenn diese medikamentöse Behandlungsmöglichkeit langfristig nachweislich weniger wirksam ist, als viele meinen (Gøtzsche, 2015; Jensen et al., 2007).
Die allgemeine Kultur der Zerstreuung
Überlegen wir uns, in welcher Hinsicht unser Bildungssystem Kindern und Jugendlichen aktiv die Fähigkeit vermittelt, mit ihrem Bewusstsein und dessen Ressourcen gezielt umzugehen, sie darin zu schulen und fürs Leben vorzubereiten, so merken wir rasch, dass dies allenfalls implizit geschieht: durch die generische Anforderung, sich in Klassenstunden, bei Übungen, Haus- und Prüfungsaufgaben über einen längeren Zeitraum einer Sache zu widmen. Das setzt die Fähigkeit der Aufmerksamkeitsbündelung eigentlich voraus als eine Fertigkeit, die die Schülerinnen und Schüler aus ihrer Familie mitbringen sollten, so wie sie die Fähigkeit der körperlichen Sauberkeit und Hygiene mitbringen. Was aber, wenn Kinder diese Fähigkeiten eben nicht mehr mitbringen, weil sie beispielsweise durch die allgegenwärtige Kultur der Informationsüberflutung im Fernsehen, Radio, mit elektronischen Medien gar nicht mehr gewohnt sind ihre Aufmerksamkeit länger auf einen Inhalt zu richten oder sich zu einer Sache zu motivieren? Innerhalb einer Generation wurden unsere Gesellschaften mit dermassen