Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book). Detlev Vogel

Achtsamkeit in Schule und Bildung (E-Book) - Detlev Vogel


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diese Studie macht deutlich, dass von Seiten der Lehrpersonen eher das Vorleben des in der Gesellschaft herrschenden Drucks stattfindet und eine Neuorientierung nur durch die Bewusstseins- und Verhaltensänderung der einzelnen Lehrpersonen möglich ist, dass dazu aber ebenso das System hinterfragt und umstrukturiert werden sollte, um die nötigen Freiräume zu ermöglichen. Sich diese Freiräume zu erobern, kann die Haltung der Achtsamkeit unterstützen.

      Achtsamkeitsprogramme für Lehrpersonen und deren Auswirkung

      Es lag nahe, hier das besterforschte säkulare Achtsamkeitsprogramm «Mindfulness-Based Stress Reduction» (MBSR) zu nutzen, das in den 1970er-Jahren von Dr. Jon Kabat-Zinn an der University of Massachusetts entwickelt wurde und seither in über 100 Studien u. a. Effekte wie Stressreduktion und erhöhtes Wohlbefinden zeigte (ausführliche Zusammenstellung von Wirkungen auf www.achtsamleben.at/forschung).

      In einer jüngst erschienenen Studie aus dem Freiburger «Musse»-Projekt konnten durch die Implementierung von MBSR-Kursen für 49 Lehrerinnen und Lehrer zwar keine unmittelbaren Effekte auf ihre Gesundheit nachgewiesen (Gouda, 2017), aber subtile Veränderungen auf Prozessebene festgestellt werden, welche die Bewältigungsressourcen, Lebenszufriedenheit und die sozial-emotionalen Kompetenzen von Lehrkräften unterstützen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam bereits eine Studie von Silke Rupprecht. Es entstand weniger Resignation bei Misserfolgen, wodurch Angst, Stressgefühle und Depression abnahmen. Durch die verstärkte Präsenz im Körper stieg die Entspannungs- und Erholungsfähigkeit an, wodurch Wohlbefinden, Ruhe und Ausgeglichenheit zunahmen (Rupprecht, 2015).

      Ausgehend vom MBSR-Programm wurden zahlreiche inhaltlich und strukturell auf den Schulkontext abgestimmte Programme entwickelt und empirisch überprüft.

      Betrachten wir nun genauer, welche Auswirkungen diese Forschungsergebnisse auf die Handlungsspielräume der Lehrpersonen haben.

      Mithilfe der achtsamen Haltung wird die Entwicklung der kognitiven Flexibilität (Kashdan & Rottenberg, 2010) gefördert, ebenjener Fähigkeit, die im Unterricht die Basis eines situationsadäquaten Vermittelns darstellt. Sich spontan von einer festgelegten Struktur zu lösen, um auf die Bedürfnisse und Nachfragen der Schülerinnen und Schüler zu reagieren und zu einer flexiblen Neugestaltung des Lerninhalts zu kommen, wird auf diese Weise unterstützt. «Wenn ich mich auf eines verlassen kann», beschreibt ein Kollege, «dann darauf, dass immer alles anders läuft als geplant.» Je grösser die kognitive Flexibilität, desto leichter sind situationsadäquate Veränderungen in Struktur oder Vermittlungswegen möglich (in Krämer, 2019, S. 32).

      Durch die Förderung der Selbstreflexion (Farb et al., 2007) können Achtsamkeitsprogramme Lehrkräften dabei helfen, die «Tendenz zu emotionaler Impulsivität (als Reaktion auf Schülerverhalten) zu überwinden, welche zu emotionaler Erschöpfung und Burnout führt» (Chang, 2013, Jennings & Greenberg, 2009) und so «die Zyklen negativer Impulsivität zu durchbrechen» (Safran & Segal, 1990 In: Jennings, 2017, S. 52−54). Das kurze Innehalten der durch Achtsamkeit entwickelten Impulsdistanz führt zu der Fähigkeit, selbstbestimmt zu agieren und sich «mit effektiven Problemlösungsstrategien zu beschäftigen» (ebd.). Wie stark sich die Fähigkeit der Emotionsregulation auf das tägliche Unterrichtsgeschehen auswirkt, wird durch die Relation zur Beziehungsfähigkeit klar: «Die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung hängt zum Teil davon ab, wie die Lehrperson negative Emotionen ausdrücken bzw. steuern kann» (George & Solomon, 1996). Und welche Relevanz die Beziehung auf das Classroom-Management hat, wird in einer Metastudie von Marzano et al. (2003) deutlich: «Lehrpersonen, deren Beziehungen zu SuS eine hohe Qualität aufweisen, haben 31 % weniger auffälliges Verhalten in ihren Klassen.»

      Ergänzender Faktor für die Beziehungsfähigkeit ist neben der Emotionsregulation auch die sich entwickelnde Präsenz, die der Gymnasiallehrer Max Althammer beschreibt: «In den zwei Jahren, in denen ich jetzt Achtsamkeit an der Schule praktiziere, konnte ich beobachten, wie sehr sich die Beziehungen (zu Kollegen, Eltern und Schülern) verbessern, und meine Erklärung dafür ist ziemlich einfach. Jeder Mensch will wahrgenommen werden und jeder Mensch will als der, der er ist, wertgeschätzt werden. Achtsamkeit ermöglicht es mir im Unterricht nicht nur, mich mit mir selbst zu verbinden, sondern auch jeden einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen und zumindest einen kurzen Moment wirklich wahrzunehmen. Das spüren die Schüler. Und das führt dann dazu, dass sich ein höheres Mass an Vertrauen bildet. Auf diese Lehrer-Schüler-Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und der Wertschätzung lässt sich dann auch ein guter, produktiver Unterricht gestalten» (Althammer, 2016).

      Ebenjene Auswirkungen auf die Beziehungsfähigkeit sind entscheidende Faktoren für die Lehrerinnen- und Lehrergesundheit. Joachim Bauer benennt im Freiburger Modell die Beziehungsarbeit als einen der drei Bestandteile des «magischen Dreiecks» der Lehrerinnen- und Lehrergesundheit (neben der Identität und sozialen/kollegialen Unterstützung). «Da fortgesetzt gestörte Beziehungsabläufe den Menschen krank werden lassen, kommt in Berufen, in denen das Beziehungsgeschehen eine herausgehobene Rolle spielt, vorbeugenden Massnahmen gegen psychosomatische Erkrankungen eine besondere Rolle zu. Dies betrifft in besonderem Masse den Lehrerberuf» (Bauer et al., 2007, S. 4).

      In diesem Sinne ist es ganz besonders erfreulich, die ersten veröffentlichten Ergebnisse aus dem NRW-Landesmodellprojekt GIK (Gesundheit − Integration − Konzentration) zu lesen, welches in 21 Solinger Grundschulen stattfand. SchulleiterInnen und LehrerInnen, welche Interesse an den adaptierten mehrwöchigen MBSR-Kursen zeigten, wurden in einem Umfang von 20 h weitergebildet, um sie damit in ihrer «gesundheitlichen und beziehungsrelevanten Selbstkompetenz» zu stärken. Im darauffolgenden nächsten Schritt wurden in einem Team von Lehrpersonen und AusbilderInnen achtsamkeitsbasierte Interventionen für die Kinder ausgewählt, selbst entwickelt und eingeübt und deren Umsetzung im Schulalltag begleitet (Altner et al., 2018). Als Ergebnisse konnten klare Verhaltensveränderungen beobachtet werden, die sich ausgehend von der Selbstwahrnehmung und -regulation insbesondere auf die Kommunikation im Kollegium und mit den Schülerinnen und Schülern ausgewirkt haben: Bedürfnisse und Grenzen werden klarer ausgedrückt. Es wurden gemeinsame Kommunikationsregeln vereinbart, z. B. «ein bewusster Verzicht auf gegenseitiges Abwerten und Klatsch, den Fokus auf das Mitteilen der eigenen Wahrnehmung, Gefühle und Wünsche zu legen, anstatt dem Jammern über Zustände und System-Blaming, wird ein gemeinsames Finden von kreativen Lösungen angestrebt» (Altner et al., 2018, S. 6).

      In der Folge wurde eine ganze Liste an konkreten, kreativen Neuerungen in den einzelnen Kollegien beschlossen, um eine Kultur des entstressenden und gesundheitsfördernden Miteinanders zu entwickeln (nachlesbar auf www.achtsamkeit.com/gik).

      Auf das gleichermassen von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern geäusserte Bedürfnis nach mehr Ruhe wurden ganz konkrete Massnahmen eingeführt:

      

eine Reduktion der Schulklingel nur zu Unterrichtsbeginn und -ende sowie nach der Hofpause

      

alle Schulkonferenzen beginnen mit drei Minuten gemeinsamer Stille

      

ins Lehrerzimmer wurde eine Couch der Stille gestellt

      

die Lehrpersonen signalisieren einander und den Kindern z. B. durch rote Klötzchen, wenn sie einen Moment für sich brauchen

      

Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler bitten mit einem Gong im Klassenzimmer einander zur Ruhe

      Diese Ergebnisse sind auch relevant, um die oft vorgebrachte Kritik an Achtsamkeitsprogrammen zu entschärfen, dass die akzeptierende Grundhaltung zu einer Duldung von ungerechten Zuständen führt. Diese würden zwar helfen, die eigene Balance wieder zu einem Grad herzustellen, der einen nicht erkranken lässt, aber dadurch das Verharren in unmenschlichen, nicht


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