7 Milliarden für nichts. Günther Loewit
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Dr. Günther Loewit:
7 Milliarden für nichts
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 edition a, Wien
Cover und Satz: Isabella Starowicz
Lektorat: Maximilian Hauptmann
Dieses Manuskript wurde von der Agentur
Wildner, Wien, vermittelt.
ISBN 978-3-99001-396-0
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Inhalt
Doppel-, Dreifach- und Zigfachbefundungen
Wie viel Euro kostet ein Menschenleben?
Hubschrauber
Wie wir täglich tausende Euro an Steuergeldern für völlig sinnlose Rettungseinsätze verschwenden
Juli 2011, sechs Uhr. Ein angenehmer Hochsommermorgen. Blauer Himmel. Die Sonne steigt gerade über den flachen Horizont im Osten. Ein Storch, den Schnabel schwer mit Grasbüscheln beladen, fliegt tief über die Hauptstraße zu seinem Nest. Sonst schläft der Ort noch. Erste Sonnenstrahlen treffen auf den Asphalt. Ein angenehmer Lufthauch erzeugt ein Gefühl von Kühle.
Vogelgezwitscher. Von weit entfernt kann man das Brummen eines Mähdreschers hören. Ein beinahe kitschiges Bild.
Ich höre auch ein anderes Geräusch, ein dumpfes Grollen, das langsam näherkommt. Noch kann ich es nicht richtig einschätzen. Ohnehin bin ich mit den Gedanken ganz woanders.
Ich bin zu Fuß unterwegs zu meiner neuen Ordination. Ein Luxus, den ich mir erst seit ein paar Tagen leisten kann. Denn seit dem 1. Juli bin ich Wahlarzt.
25 Jahre meines Lebens war ich Kassenarzt und damit stets auf Abruf erreichbar. Telefon, Notarztausrüstung und Auto immer in meiner unmittelbaren Nähe. Tag und Nacht. An vier, manchmal auch an sieben Tagen in der Woche. Einen Spaziergang konnte ich mir nur an freien Wochenenden erlauben, im Urlaub, oder wenn ich mir eine Vertretung leistete. 25 Jahre stand ich unter ständiger Anspannung.
Während ich über die neu gewonnene Freiheit nachdenke, wird mir allmählich bewusst, dass aus dem fernen Grollen ein Knattern geworden ist. Plötzlich ordnet meine Wahrnehmung das Geräusch klar zu. Ein Hubschrauber ist im Anflug. Das Kreischen der Turbine zerstört die morgendliche Idylle.
Während meiner Zeit als Kassenarzt gab es keinen Hubschrauberanflug im Ort ohne mein Mitwissen. Der Grund dafür ist einfach. Normalerweise habe ich den fliegenden Notarzt selbst angefordert. Zumindest wäre ich über einen Einsatz informiert worden. Andere Hubschrauber verirren sich kaum in meinen entlegenen Landarztsprengel.
Ich muss mich erst an die neue Situation gewöhnen, nicht mehr für alles rund um die Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich zu sein. Somit kann es auch einen Rettungshubschrauber geben, ohne mein Wissen und ohne mein Wollen.
Meine Neugierde ist aber geweckt.
Inzwischen kann ich den gelben Hubschrauber mit der schwarzen Aufschrift klar am Himmel erkennen. Er fliegt tief, die Kanzel vornüber, das Heck hochgestellt. Bedrohlich hängt er schräg in der Luft. Er dreht sich. Wie immer, wenn der Pilot einen geeigneten Landeplatz sucht.
Ich biege von der Hauptstraße in eine Seitengasse ein und sehe vier oder fünf Menschen, die sich um einen liegenden Mann geschart haben. Einer von ihnen erkennt mich und ruft aufgeregt in den ruhigen Morgen. »Herr Doktor, kommen’s schnell zu uns her. Da liegt der Vikerl, alles is’ voller Blut.«
Natürlich bin ich immer noch »der Doktor«. Jeder der fünf ringsum stehenden Männer kennt mich seit 25 Jahren. Genauso gut kennen Sie alle den Viktor Stettner, Mitte vierzig, Alkoholiker seit der späten Jugend. Jeden Abend betrunken. Die Menschen im Ort kennen die Geschichten über seine unzähligen Mopedunfälle. Seine Knochenbrüche. Jeder kennt seinen torkelnden Gang. Sein gesprächiges Lallen, wenn er getrunken hat. Und sein nüchternes Schweigen. Jeder weiß, wie er im Winter einmal fast erfroren wäre, weil er zu später Stunde am Heimweg vom Wirtshaus vierzig Meter vor seiner Haustür bei vier Grad Celsius auf der Straße liegen geblieben und eingeschlafen ist. Damals hat ihm der Zeitungsausträger um drei Uhr früh das Leben gerettet. Kinder zeigen mit den Fingern auf ihn. Und weichen seinetwegen auf die andere Straßenseite aus, wenn er spuckt und schreit. So gut wie jeder hat schon einmal beobachtet, wie ihn sein Vater, selbst im Trinken geübt, in einem Schubkarren spätabends von irgendwo nach Hause führt. Wie eine Fuhre Schotter.
Ich höre, dass der Hubschrauber am nahen Sportplatz gelandet sein muss, weil das Fauchen der Turbine abschwillt. Das Knattern der Rotorblätter hat aufgehört.
Ich beschleunige meinen Schritt und komme der aufgeregten Gruppe näher. Ein untersetzter Pensionist wird grob zur Seite gestoßen. »Lass den Doktor her.« Ich sehe, dass Vikerl wieder einmal stockbetrunken gestolpert sein muss und an Ort und Stelle liegen geblieben ist. Ein typischer Geruch steigt in meine Nase. Seit dreißig Jahren kenne ich diese Mischung von verschwitztem Gewand, Zigarettenrauch, Alkohol, Adrenalin und Blut nur allzu gut.
An seiner Schläfe sehe ich den Puls klopfen. Konstant und regelmäßig. Ich entdecke eine circa drei Zentimeter lange, leicht klaffende Wunde an seiner Stirn. Über dem rechten Auge. Sie blutet nicht mehr. Also liegt Vikerl schon eine Weile hier. Er atmet ruhig. Ich versuche, ihn anzusprechen und frage mit lauter Stimme: »Herr Stettner… Kennen Sie mich? Hören Sie mich?« Zuerst geschieht nichts. Ich wiederhole den zweiten Teil meiner Frage noch lauter: »Hören Sie mich?« Jetzt geht ein Zucken durch den gekrümmten Körper. Herr Stettner bewegt den Kopf, streckt die angewinkelten Beine mit einer ruckartigen Bewegung gerade und versucht,