7 Milliarden für nichts. Günther Loewit

7 Milliarden für nichts - Günther Loewit


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Jahren sterben können. Weil noch niemand mit zwanzig Jahren eine Professur innehat. Die Ausbildung zum Friseur ist in der Regel mit neunzehn Jahren abgeschlossen. Das bedeutet, dass ein tödlicher Verkehrsunfall eines zwanzigjährigen Friseurs in die Sterbetafel der Friseure miteinfließt. Im Gegensatz zur Sterbetafel der Professoren, die erst viel später im Leben sterben können. Die steigende Lebenserwartung ist also zumindest auch ein Verdienst der Mathematiker.

      Wer bei einer Krankenkasse 2018 in der telefonischen Warteschleife minutenlang den monoton wiederholten Satz: »Wir vorsorgen Sie.« zu hören bekommt, hört nicht einen grammatikalischen Irrtum. Er wird Zeuge eines weiteren Systemfehlers. Vorsorge bedeutet nicht nur Gesundheit, sondern auch Krankheit.

      Durchwegs ernstzunehmende Studien3 belegen, dass vorgesorgte und nicht vorgesorgte Individuen statistisch gesehen am gleichen Tag sterben. Neben der rechtzeitigen Entdeckung schwerwiegender Krankheiten werden bei Vorsorgeuntersuchungen auch eine Unzahl von Nebenbefunden und Zufallsdiagnosen aufgedeckt, die dem Patienten niemals im Leben Schaden zugefügt oder gar das Leben verkürzt hätten.

      Der Beruf des Hausarztes ist inzwischen derart unattraktiv geworden, dass Ärztekammern, Landes- und Bundespolitiker nicht müde werden, vor einem Aussterben der Hausärzte zu warnen. Im gleichen Atemzug drehen sie aber die bürokratischen und wirtschaftlichen Daumenschrauben immer enger und enger.

      Ich hege schon lange einen Verdacht.

      Hausärzte erfreuen sich bei Umfragen in der Bevölkerung regelmäßig hoher Beliebtheitswerte. Nichts wäre für Beamte, Bürokraten und Politiker schöner, als ähnlich hohe Beliebtheitswerte zu erzielen. Dazu muss man aber zuerst die Hausärzte loswerden und durch selbst kontrollierte Institutionen mit angestellten Ärzten ersetzen. Die neu erfundenen PHCs (Primary-Health-Care-Versorgungszentren) stellen nichts anderes dar. Das 1978 in Kasachstan von der WHO aus der Taufe gehobene Versorgungskonzept einer wohnortnahen Basisversorgung (primary health care) stellt nichts anderes als die Beschreibung eines gut funktionierenden Hausarztmodells dar. Dass sich die Politik ausgerechnet vierzig Jahre später an dieses Konzept erinnert, hat einen guten Grund. Gesundheitsökonomen und Politiker versprechen der Bevölkerung die Neuerfindung des Rades und sichern sich ganz nebenbei den ersehnten Beliebtheitsbonus. Wenn die Medien positiv über den Obmann einer Krankenkasse berichten, weil er die finanziellen Mittel für ein PHC bereitgestellt hat, fällt ein wenig von dem Licht, das bislang die Hausärzte als Vermittler von Gesundheit und Wohlbefinden erscheinen ließ, auch auf ihn. Das gilt auch für Bürgermeister, Gesundheitsstadträte und Funktionäre der Sozialversicherungen und Ärztekammern.

      Nach dem Grundsatz »divide et impera«, »teile und herrsche«, wird ein jahrzehntelang gut funktionierendes kostengünstiges System einer wohnortnahen Basisversorgung systematisch zerschlagen. Und durch ein ähnliches System ersetzt.

      Die enge Bindung zwischen Patienten und Hausarzt, wie sie im derzeitigen Modell besteht, wäre damit Geschichte. Erste Erfahrungsberichte mit neu etablierten PHCs bestätigen auch, dass Patienten die enge und konstante Betreuung aus dem Hausarztmodell vermissen.

      Nach fast vierzig Jahren Tätigkeit im Gesundheitssystem erhärtet sich mein Eindruck, dass alle teilnehmenden Institutionen, Verbände und Berufsgruppen wirtschaftlich selbstständige und selbstbewusste Ärzte nur noch als lästige Konkurrenten wahrnehmen. Der Neid auf Ansehen, Position sowie ein gutes und sicheres Einkommen ist so alt wie die Menschheit selbst. Schon lange fragen sich zum Beispiel die Apotheker, warum sie nach einem Hochschulstudium zu Verkäufern von fertig abgepackten Medikamenten degradiert werden. Folgerichtig haben sie damit begonnen, den Patienten vereinzelt Blutdruck, Blutzucker oder verschiedene Harnwerte zu messen und bei Abweichungen von der Norm Behandlungsvorschläge auszusprechen. Noch in Zusammenarbeit mit den Ärzten. Ich erlebe aber immer öfter, dass Patienten einzelne medizinische Anliegen zur Gänze in der Apotheke abwickeln. Warum sollte man als Pharmazeut nicht ein größeres Stück vom Kuchen bekommen?

      Das gilt auch für Politiker, wenn sie neben dem Gemeindearzt Strukturen wie die »gesunde Gemeinde« erfinden, oder ein Spital vergrößern, obwohl internationale Studien Österreich eine Überkapazität an viel zu teuren Spitalsbetten bescheinigen. Die Profilierungsgier im Gesundheitssystem gilt auch für medizinisch nicht ausgebildete Laien, die im Rahmen von Wochenendworkshops Gesundheitstipps geben. Um prognostizierte zehn bis elf Prozent des BIP 2019.

      Im Jahr 1987, dem Zeitpunkt meiner Niederlassung als Landarzt, haben die Gesundheitsausgaben in Österreich – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – 7,1 Prozent betragen.

      Was bedeutet das?

      Eine ökonomische Faustregel besagt: Mit zwanzig Prozent der Ressourcen sind achtzig Prozent der gesteckten Ziele erreichbar. Für die restlichen zwanzig Prozent müssen achtzig Prozent der Mittel aufgewendet werden. Völlige und lebenslange Gesundheit bleibt leider Utopie. Wie lange kann es sich eine Gesellschaft unter diesem Aspekt leisten, horrende Geldsummen für ein Ziel auszugeben, dem man sich nur annähern, das man aber nie erreichen kann? Es ist krank, wenn ein Gesundheitssystem immer mehr Geld ausgibt, um immer mehr kranke Menschen zu produzieren.

      Nur um sich selbst damit zu rechtfertigen.

      Der österreichische »Kompetenzdschungel Gesundheitssystem« mit seinen unzähligen Institutionen, Finanztöpfen und Querfinanzierungen ist selbst für Insider schwer zu durchschauen. Jeder Versuch einer Reform des Systems scheitert am Widerstand mindestens einer Gruppe. Jedes Land will seine Krankenanstalten behalten, jede Krankenkasse ihre Autonomie, der Bund die Kontrolle, die Ärztekammern die alleinige Vertretung der Ärzteschaft und die Gebietskrankenkassen ihre finanziellen Zuflüsse.

      Es bräuchte schon einen Alexander den Großen, um diesen Knoten mit dem Schwert zu durchschlagen.

      Rettung

      Jeder will ein Stück vom Kuchen, selbst wenn das Patientenwohl darunter leiden muss

      Als älterer Hausarzt kommt mir das langjährige Wissen um die Lebensumstände meiner Patienten in der täglichen Arbeit zugute. Viele Fragen müssen nicht mehr gestellt werden, weil die Antworten durch die jahrelange Betreuung bekannt sind. Die gleiche Erfahrung schärft den Blick auf die Veränderungen in den einzelnen Teilbereichen des Gesundheitssystems. Die Rettungsdienste haben sich in den letzten Jahrzehnten erstaunlich emanzipiert und erfreuen sich bester finanzieller Gesundheit.

      Irgendwann im Laufe des Jahres 2017 wird einer meiner Patienten im Rahmen einer Übergangspflege in einem Landespflegeheim aufgenommen, weil die pflegenden Angehörigen schon längst einen Urlaub benötigen.

      Er ist 82 Jahre alt. Nach einem Schlaganfall vergesslich, leicht dement, aber in keiner Weise aggressiv oder fordernd. Mir gegenüber klingt das aus dem Mund der Angehörigen so: »Herr Doktor, wir möchten unbedingt auf Urlaub fahren. Wir sind schon völlig fertig mit den Nerven. Jeden Tag ist mit dem Papa was Neues. Können wir ihn nicht zwei Wochen lang irgendwohin schicken? Vielleicht in ein Spital? Damit er einmal richtig durchgecheckt wird.«

      Ich erkläre dem überforderten Ehepaar, dass dem Vater medizinisch nichts fehlt. Der Blutdruck ist gut eingestellt, die Laborwerte sind in Ordnung, er muss nicht durchgecheckt werden. »Richtig durchgecheckt« in seinem Alter schon gar nicht. Immer öfter glauben Angehörige, dass die Elterngeneration bis zum letzten Lebenstag voll fit sein müsste. Die Werbung suggeriert ein zunehmend unwirkliches Bild vom Alter. Ich lehne die Idee mit dem Spital klar ab, eröffne aber die Möglichkeit einer Übergangspflege. Weil es keine Alternativen gibt, wird dieser Vorschlag angenommen.

      »Papa, du wirst sehen, das wird dir gefallen. Das ist wie ein Urlaub für dich. Da lernst du einmal andere Leute kennen.«

      Aber der alte Mann will keinen Urlaub. Wovon auch. Und sein Bedürfnis nach neuen Bekanntschaften hält sich in Grenzen.

      Schließlich übersiedelt er widerwillig in sein Urlaubsdomizil. Alte Menschen übersiedeln nicht gerne. Sie lieben es, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben.

      Er tut es nur seiner Tochter zuliebe, vertraut er mir an. Wegen dem angespannten Verhältnis zum Schwiegersohn. Die Ehe der beiden leidet unter seiner Pflege.

      Um 2.15 Uhr


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