7 Milliarden für nichts. Günther Loewit

7 Milliarden für nichts - Günther Loewit


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is’ eh nix.«

      Ich kenne den Satz. Nicht nur von ihm. Nächtliche »Alkoholleichen« säumen den Lebensweg eines jeden Landarztes.

      Ich knie mich zu ihm hinunter.

      Nach einer ersten groben Untersuchung muss ich dem Patienten auch recht geben. Außer der kleinen Rissquetschwunde ist nichts passiert. Der Blutverlust hat sich in Grenzen gehalten. Aber Blut schaut immer grässlich aus. Für Laien auch in kleinen Mengen am Asphalt.

      Inzwischen dämmert mir, was es mit dem Hubschrauber auf sich haben könnte.

      »Hat jemand von Ihnen den Hubschrauber gerufen?«, frage ich neben dem Patienten kniend in die frühmorgendliche Runde. Mit einer Hand fühle ich seinen Puls, mit der anderen ziehe ich seine Unterlider nach unten, um zu sehen, wie das einfallende Morgenlicht seine Pupillen ordnungs- und erwartungsgemäß verengt. Einer der umstehenden Männer gibt mit leicht vorwurfsvollem Ton die Antwort: »Na ja, Herr Doktor, Sie sind ja seit diesem Monat nicht mehr zuständig für uns, und da habe ich mir gedacht, ich rufe den Notarzt.« Ich erkenne sofort die Stimme eines immer überengagierten Feuerwehrmannes. Ohne meinen Kopf zu heben, frage ich ihn: »Und, was haben Sie gesagt?« Dann höre ich von oben die fatalen Worte: »Na, dass wir einen Bewusstlosen auf der Straße liegen haben, und eben, dass alles voller Blut ist, und dass ich glaub’, dass es ein Schädelhirntrauma sein könnte.«

      Ohne den Gedanken auszusprechen, denke ich mir: Ja, das sind die richtigen Zauberworte.

      Inzwischen höre ich auch das Folgetonhorn eines Rettungstransportwagens. Parallel zur Alarmierung eines Hubschraubers wird von der Leitstelle stets auch die örtliche Rettung zur Hilfe vor Ort mitinformiert. Ich knie immer noch am Boden, fühle mit der rechten Hand immer noch den Puls von Herrn Stettner. Meine Linke berührt seinen Kopf. Ich streichle ihn, weil ich spüre, wie das den Vikerl beruhigt. Während die Umstehenden der Meinung sind, ich würde erste Hilfe leisten, habe ich mich innerlich schon längst absentiert. Verstecke mich auf meinen Knien inmitten der immer größer werdenden Menschentraube. Den Kopf halte ich bewusst gesenkt. Ich will nicht gesehen werden. Wie ein Kind, das sich hinter den vorgehaltenen Händen versteckt und glaubt, nicht da zu sein. Die Gedanken gleiten ab.

      Ich bin nicht mehr Arzt.

      Denn der Vikerl braucht eigentlich keinen Arzt.

      Er bräuchte entweder seinen Vater mit dem Schubkarren, oder sonst jemanden, der ihn nach Hause bringt und in sein Bett legt. Oder eine Mutter, die ihn geliebt hätte. Noch besser, denke ich, neben dem Vikerl kniend, wäre gewesen, er hätte einen Vater gehabt, der ihm ein besseres Vorbild gewesen wäre. Und ja, das schießt mir auch noch durch den Kopf, vielleicht würde ich eine Naht in seine Wunde setzen.

      Eine.

      Mehr wäre sicherlich nicht notwendig. Ohne Lokalbetäubung. Weil der Vikerl eh schon nichts mehr spürt. Wegen des Alkohols. Und dann denke ich noch an meinen Vorgänger, der mit Sicherheit nur ein Pflaster über die Wunde geklebt hätte. Den Angehörigen hätte er dabei in seiner ruppigehrlichen Art gesagt: »So wie der Vikerl schon ausschaut, wird ihn die eine Narbe auch nicht hässlicher machen.«

      Die rot gekleideten Sanitäter laufen aufgeregt auf uns zu, als ginge es um Leben oder Tod.

      Mit rotweißen Tornistern und Rucksäcken beladen.

      Reflektorstreifen in Form des Kreuzes blitzen im Morgenlicht auf.

      Ein Sonnenstrahl fällt auf mein Gesicht.

      Dann höre ich: »Der Herr Doktor ist eh schon da.«

      Ich schweige.

      »Brauchen wir ein EKG?«

      Ich schaue auf, weil ich die vertraute Stimme eines Sanitäters höre, den ich seit zwanzig Jahren kenne.

      Wir haben uns immer gut verstanden und unzählige Einsätze zu jeder Tages- und Nachtzeit miteinander erlebt.

      Ich spüre, dass ich ein Grinsen nicht unterdrücken kann.

      Endlich erhebe ich mich und sage: »Nein, wir bräuchten überhaupt nichts. Es ist wieder einmal der Vikerl, und außer einer kleinen Rissquetschwunde auf der Stirn fehlt ihm überhaupt nichts. Er hat einfach zu viel Alkohol im Blut. Dagegen wird der Hubschrauber auch nicht helfen. Oder?«

      Jetzt lächelt auch der Rettungsmann.

      »Wahrscheinlich nicht«, sagt er und zwinkert mir zu, »aber Herr Doktor, ärgern Sie sich nicht, gehen Sie einfach, wir machen das schon.« Er fügt noch ein »Danke!« hinzu.

      Ich fühle mich ohnmächtig.

      Ohnmächtig vor Wut. Wut über die Sinnlosigkeit der Situation. Wut darüber, dass der Hausverstand auf allen Ebenen verloren geht. Wut darüber, dass unsere Gesellschaft gedankenlos tausende von Euros für einen Bagatellunfall eines Alkoholikers ausgibt, aber letztlich nichts zu seiner Rettung unternimmt. Wut darüber, dass der Beruf des Hausarztes ganz gezielt ausgehungert wird. Entgegen allen öffentlichen Beteuerungen.

      Ich drücke meinem Rettungsfreund die Hand und sage: »Er hat sicher kein Schädelhirntrauma. Sie haben recht, es ist besser, wenn ich mich jetzt zurückziehe.« Aus der Ferne sehe ich auch schon das Team vom Rettungshubschrauber. Immer im Laufschritt. Immer hundert Prozent. Strotzend vor Selbstbewusstsein.

      Ich verlasse den Unfallort.

      Dem Rettungshubschrauber kehre ich den Rücken zu und mache freiwillig einen kleinen Umweg zu meiner Ordination.

      Heute möchte ich mich nicht mit dem Kollegen aus dem Hubschrauber über den Fall und die notwendigen Rettungsmittel unterhalten. Die ewigen Diskussionen über realitätsfremde Alarmierungsketten und sinnlose Hubschraubereinsätze bei Bagatellverletzungen haben noch nie etwas gebracht. »Herr Kollege, Sie haben ja recht, aber wissen Sie, ich mache auch nur meinen Job.«

      Ich versuche noch, die Stimmung des Morgens wiederzufinden. Es gelingt mir nicht. Der angenehme Windhauch hat sich gelegt, die Sonne beginnt zu stechen.

      Später höre ich, wie der Hubschrauber ein zweites Mal die morgendliche Stille zerreißt und abhebt.

      Mit dem Patienten an Bord. Wie ich per SMS erfahre.

      Zwei Stunden später wird Vikerl übrigens wieder mit einem normalen Rettungswagen nach Hause gebracht. Aus dem Unfallkrankenhaus. Auf seiner Stirn, über dem rechten Auge, befindet sich eine Naht. Mehr nicht. Die Sanitäter legen ihn in sein Bett. Im Arztbrief steht, dass das Schädelröntgen und die Computertomographie unauffällig gewesen sind und dass ein stationärer Alkoholentzug als sinnvoll erachtet würde.

      Zur Klarstellung: Bis zum 1. Juli 2011 ist mir von der Krankenkasse pro Hausbesuch der Betrag von 27 Euro zugestanden. Im Kassenvertrag hieß es dazu lapidar und präzisierend: »Der Aufforderung zur Visite ist Folge zu leisten.«

      Also Tag und Nacht, ob Husten oder Unfall. Ob notwendig oder nicht.

      Wenn wir, um fair zu bleiben, jetzt auch noch den Zuschlag für eine Nachtvisite (bis sieben Uhr), und die anfallenden Doppelkilometer in unsere Rechnung miteinbeziehen wollten, kämen wir für die Versorgung des gestürzten Patienten Viktor Stettner auf einen Gesamtbetrag von circa sechzig Euro, mit Naht in der Ordination auf hundert Euro.

      Die Kosten für den Rettungshubschrauber liegen hingegen pro Minute bei neunzig Euro. Je nach geflogener Distanz also circa zwischen 3.000 und 4.000 Euro. Auch die Kosten für das zusätzliche Rettungsteam vor Ort und den Heimtransport vom Unfallkrankenhaus werden über die Krankenkasse abgerechnet.

      Dabei ist es bedeutungslos, ob die Krankenkasse, oder, wie im Falle eines Unfalls, die AUVA, die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, die Kosten für den Hubschraubereinsatz übernimmt, letztlich handelt es sich um Steuergeld.

      Denn die öffentliche Hand kann nur Steuergeld ausgeben.

      Der ÖAMTC gibt auf seiner Website an, im Jahr circa 18.000 Flugrettungseinsätze zu fliegen.

      Streng medizinisch betrachtet sind achtzig bis neunzig Prozent dieser Einsätze nicht notwendig. Das bedeutet, dass dem Patienten durch den Flug mit dem Hubschrauber kein zusätzlicher


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