7 Milliarden für nichts. Günther Loewit
WHO propagiert wird, ist so gut wie nie erreichbar. »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.«2
Das Gesundheitssystem ist ein dreißig Milliarden Euro schweres Geschäft mit der Illusion. Ein Perpetuum mobile erster Art. Es ist in der Lage, Gesundheit wiederherzustellen und zugleich neue Kranke zu produzieren.
Formuliert man den berühmten ersten Hauptsatz der Thermodynamik für die Medizin um, könnte er so lauten: »Es gibt keine gesunden, sondern nur schlecht untersuchte Menschen.«
Bei jeder Vorsorgeuntersuchung werden neue Abweichungen von der Norm festgestellt, sofort behandelt und später kontrolliert. So erhält sich das System selbst am Leben. Das ist die Wirklichkeit. Die beabsichtigte Nebenwirkung, das ist nicht zu leugnen, ist Hilfe für Patienten.
Aber das wäre auch billiger zu haben.
Zur Illustration das medizinische Kapitel »Lebensende«: Die Sterblichkeit der Menschen beträgt auch 2019 trotz der modernen Medizin immer noch hundert Prozent. Eine mathematische Gewissheit, die vom modernen Gesundheitssystem gerne ignoriert wird. Aus Sicht der Gesundheitsindustrie müsste niemand sterben, wenn nur die medizinische Versorgung ausreichend wäre. Das wird Bevölkerung, Ärzten und Politikern so lange suggeriert, bis es alle selbst glauben. Besuchen Sie einmal einen Kardiologen-, Chirurgen- oder Radiologenkongress. Alles wäre möglich. Wenn nur die öffentliche Hand genug Ressourcen zur Verfügung stellen würde.
Verschiedene Studien belegen, dass die letzten drei bis sechs Lebensmonate genauso hohe Ausgaben im Bereich der Gesundheitskosten verursachen wie das gesamte Leben zuvor. Um das 2018 stattfindende Sterben eines 1928 geborenen Menschen zu verhindern, wird vom Gesundheitssystem zehnmal so viel Geld in die Hand genommen wie für einen 1928 geborenen Patienten, der ein normales weiteres Lebensjahr hinter sich bringt und 2018 überlebt. Aber mit Geld lässt sich der Tod nicht verhindern.
Die Medizin behauptet, alles zu unternehmen, um den Tod zu bekämpfen und das Leben zu verlängern. Der Tod entpuppt sich als die Nemesis der Medizin.
Es hätte mehr Würde für den Patienten und wäre billiger für das System, den natürlichen Tod am Ende des Lebens anzunehmen. Es ist keine Schande, am Ende des Lebens zu sterben. Wie es auch keine Schande ist, am Anfang des Lebens geboren zu werden.
Es ist schlichtweg absurd, wenn hochbetagte sterbende Karzinompatienten während ihrer letzten Lebensstunden noch Chemotherapien um etliche tausend Euro intravenös verabreicht bekommen. Da wären wohl ein ehrliches ärztliches Wort mit den Angehörigen und eine sedierende Medikation für den Patienten weit sinnvoller und zweckdienlicher.
Doch mit offenen Worten ist kein Geschäft zu machen.
Und die Illusion, dass die Medizin in wirklich jeder Situation helfen kann, würde berechtigte Kratzer bekommen.
Wenn Politiker bei so gut wie jedem ihrer Auftritte monoton den Satz: »Für die Gesundheit darf uns nichts zu teuer sein!« wiederholen, zeigt das nur, wie sehr sie die Bedeutung des Gesundheitssystems als Machtfaktor erkannt haben. Auch für ihre eigene Stellung. Denn in einer diesseits- und körperorientierten Wohlstandsgesellschaft hat am meisten Macht und Ansehen, wer die körperliche Gesundheit garantieren kann. Wer als Volksvertreter wiedergewählt werden will, verspricht Gesundheit, Wohlstand, ein gut funktionierendes Sozialsystem, ein neues Krankenhaus und noch einmal Gesundheit.
Ein Blick auf die unkontrollierte Expansion des Gesundheitssystems insgesamt muss bei jedem Steuerzahler jedoch die Alarmglocken schrillen lassen.
1960, zwei Jahre nach meiner Geburt, hat es in Österreich circa 11.000 Mediziner gegeben, davon 6.135 Hausärzte. In den Geschichtsbüchern ist aber nichts davon zu lesen, dass zu jener Zeit die medizinische Versorgung im Land schlecht gewesen wäre. Immer wieder fällt im Zusammenhang mit dem propagierten medizinischen Fortschritt der Satz: »Dank der modernen Medizin können heute Patienten überleben, die früher nicht überlebt hätten.« Dieser Sicht zu widersprechen wäre dumm. Die Fortschritte bei der Entwicklung von Impfstoffen sowie in der Transplantations- und Unfallchirurgie sprechen für sich.
Aus meiner Sicht muss diesem Satz ein zweiter Satz gegenübergestellt werden: »Wegen der modernen Medizin sterben heute Patienten, die früher nicht gestorben wären.« Denken wir dabei nur an die circa 30.000 bis 35.000 Toten in Europa, die zum Beispiel nach einer überstandenen Operation an einer Infektion mit Spitalskeimen sterben. Diese Keime hat die moderne Medizin selbst produziert.
Auf den Punkt gebracht könnte man formulieren: Während früher ein nierenkranker Patient aufgrund einer Nierenspende von einem Unfallopfer überleben konnte, überlebt heute das Unfallopfer selbst.
2019 gibt es mehr als 44.000 ausgebildete Mediziner. Das entspricht einer Vervierfachung der Ärztezahl. 14.000 von ihnen sind inzwischen als Allgemeinmediziner tätig. Dabei ist in dieser Zeitspanne die Gesamtbevölkerung des Landes lediglich von 7 auf 8,5 Millionen Menschen angestiegen. Während sich 1960 159 Ärzte um die Gesundheit von 100.000 Einwohnern bemüht haben, sind es 2019 deutlich mehr als 500 Ärzte. Bei den Allgemeinmedizinern erleben wir in diesem Zeitraum eine Verdoppelung der Versorgungsdichte.
Und trotzdem sind Patienten und Ärzte unzufrieden. Gesundheit und Wohlbefinden erscheinen unerreichbarer als je zuvor. Ambulanzen sind dauerhaft überfüllt, technische Geräte weit über die Kapazitätsgrenzen ausgelastet. Niedergelassene Ärzte und Spitalsärzte klagen über noch nie dagewesenen bürokratischen Aufwand und den Mangel an Zeit für ihre Patienten.
Weder hat sich in dieser Zeitspanne die Lebenserwartung verdoppelt, noch ist die individuelle Gesundheit um den Faktor vier verbessert worden.
Im Gegenteil.
Es gibt mehr Kranke es je zuvor.
600.000 bis 700.000 Diabetiker, fast zwei Millionen Bluthochdruckpatienten, viele von ihnen laut Fachgesellschaft noch gar nicht entdeckt, geschweige denn ausreichend behandelt. Jeder zehnte Österreicher leidet statistisch gesehen an einer Depression, das wären weitere 800.000 Patienten. Jeder vierte Einwohner des Landes, vom Kindergarten bis ins Seniorenheim, soll einmal oder öfter in seinem Leben an einem Burn-out-Syndrom leiden. Das wären noch einmal zwei Millionen Kranke. Circa 400.000 Osteoporose-Patienten, mehrere 100.000 Bewohner leiden an Abnützungserscheinungen der Wirbelsäule und der Gelenke, von Jahr zu Jahr steigen die Zahlen der Demenzerkrankungen, Schwerhörigkeit und Sehkraftverlust, die Statistik führt jeden Teilbereich der normalen Körperalterung akribisch als Einzelkrankheit auf. Jeder dritte Österreicher erkrankt aufgrund der fortgeschrittenen Lebenserwartung im Laufe seines Lebens an einem Karzinom. Jede einzelne Fachgesellschaft dokumentiert ihre eigene Bedeutung mit möglichst hohen Fallzahlen und einem eigenen bürokratischen Netzwerk. Lassen Sie den Begriff: »Dachverband der Österreichischen Osteoporose-Selbsthilfegruppen« und die Konsequenzen seiner Sitzungen und Beschlüsse auf sich wirken!
Addieren wir diese Zahlen.
Dann leben in diesem Land mathematisch gesehen weit mehr Patienten als Einwohner. Möglich wird das nur dadurch, dass viele Menschen an mehreren Krankheiten zugleich leiden.
Auch der Zugewinn an durchschnittlicher Lebenserwartung nimmt sich, im Vergleich zum finanziell betriebenen Aufwand, vergleichsweise bescheiden aus. Dabei ist es keineswegs bewiesen, dass dieser Zugewinn ausschließlich und linear mit besserer medizinischer Versorgung zusammenhängt. In den USA werden zurzeit circa 17 Prozent des BIP für Gesundheit ausgegeben. Bei sinkender Lebenserwartung. Die Statistik erklärt das damit, dass die Anzahl der fettleibigen Individuen, die früher sterben, kontinuierlich steigt.
Rein statistisch gesehen bedeutet schon die Verringerung der Säuglingssterblichkeit eine höhere Lebenserwartung für alle übrigen Menschen eines Jahrganges. Weniger Säuglinge bedeutet auch weniger sterbende Säuglinge. Damit wieder höhere Lebenserwartung. Die durchschnittliche Lebenserwartung hängt also auch von den angewandten Statistikmethoden ab.
Auch die Behauptung, dass Bildung bessere Gesundheit und höhere Lebenserwartung bedeutet, darf hinterfragt werden. So leben Universitätsprofessoren statistisch gesehen länger als Friseure. Das hängt aber nicht mit einem verbesserten Zugang der Professoren zum Gesundheitssystem