Der holistische Mensch. Johannes Huber

Der holistische Mensch - Johannes Huber


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Brüten sie inspiriert haben. Denn heraus kam: Wir verlegen das Brüten einfach in den Körper.

      Ab jetzt, dachte die Natur, wird in einer gemeinsamen, lustbringenden Aktion befruchtet, das nennen wir Koitus, und dann reift der Nachwuchs innen heran, im weiblichen Organismus, den nennen wir Eva.

      Der Gedanke war revolutionär. Bisher waren es die Eier, die den Körper eines Lebewesens verließen, um außen ausgebrütet zu werden. Eine Indoor-Variante war reine Science Fiction. Junge, die im Körper der Mutter reiften und erst ans Tageslicht kamen, wenn sie einigermaßen fertig waren, das war genial. Gewagt, keine Frage, aber grandios.

      Und es war machbar, da war sich die Natur sicher. Es gab ein paar Probleme zu lösen, das schon. Aber im Problemlösen war die Natur immer ein Ass. Sie setzte sich in die Abenddämmerung, kaute an einem Grashalm herum und dachte die Sache durch.

      Genau da passierte etwas, das quasi den Startschuss zur Reproduktion im Inneren gab. Eine Eizelle ging ein Experiment ein.

      Es war eine ausgesprochen mutige kleine Eizelle. Ein paar Viren, die damals schon überall vorhanden waren, hatten sie aufs Korn genommen und schlichen sich in sie ein. Normalerweise versucht der Wirt, solche Viren sofort zu deaktivieren. Feind, Gefahr, Zerstörung, das Gesetz des Überlebens.

      Aber diese Eizelle tat nichts dergleichen. Sie rührte sich nicht, rief niemanden um Hilfe. Ließ keinen Piep zum Immunsystem vordringen. Sie entschied, die Viren in sich arbeiten zu lassen.

      Was immer ihr dabei eingefallen ist, der Effekt war vorerst verheerend. Es entstand eine krebsartige Geschwulst, also von vornherein einmal nichts Gutes. Die Viren hatten freie Hand. Ungehindert bildete sich neues Gewebe, das wuchs und wuchs und war zunächst nicht zu stoppen. Irgendwann hielt es dann inne, und aus dem bösartigen Virusbefall ist der Mutterkuchen geworden.

      Die Plazenta war entstanden. Ein Blutschwamm. Nichts Ansehnliches, aber in der Lage, mit sehr vielen Blutgefäßen in das weibliche Individuum hineinzuwachsen. Was sie auch tat.

      Mit wenig Sauerstoff auszukommen, sich nicht von Nachbarzellen hemmen zu lassen und den Abwehrkräften des Wirtes zu trotzen, das haben der Mutterkuchen und der Krebs gemeinsam. Deshalb ist die Plazenta etwas wie ein Pseudo-Malignom, sie ist ein Pseudo-Krebs. Erst vor der Geburt stellt er sein Wachstum ein.

      Die Viren, die damals am Werk waren, lassen sich nach wie vor identifizieren. Nach 150 Millionen Jahren. Wir können sie heute noch im Labor erkennen. Die Eizelle hat ihr Experiment überlebt und mithilfe der Viren etwas völlig Neues hervorgebracht.

      Die Plazenta war der erste bescheidene Begleiter des Kindes, der in der Lage war, einen Kontakt zur Mutter herzustellen. Nicht außerhalb, irgendwo in einem Ei, sondern in einem weiblichen Körper, in Eva. Diese Eva war ein kleines Tierchen, das einer Maus ähnlichsah: die Eomaia scansoria.

      Das war der Quantensprung in der Reproduktion. Mit einer fundamentaleren Leistung hat sich die Evolution weder vorher noch nachher in das Gästebuch der Natur eingraviert.

      Getan war es damit natürlich noch nicht. Damit die Sache funktionieren konnte, musste einiges umgekrempelt werden. Notwendigerweise vor allem das Immunsystem, das total aus dem Häuschen war nach dieser epochalen Umwälzung. Viren, die nicht bekämpft wurden. So etwas hatte es noch nie gegeben. Eva hat einen Teil eines fremden Organismus in sich aufgenommen, der toleriert und weitergezüchtet werden musste. Das war immunologisch keine Kleinigkeit.

      Auch das Herz konnte sich auf weit mehr Arbeit gefasst machen. Die Herzleistung hat sich tatsächlich fundamental geändert. Evas Herz musste auf einmal für zwei schlagen, für sich und das Kind in ihr. Da brauchte es ein komplett neues kardiovaskuläres System. Herz und Gefäßsystem der Frau sind deshalb anders als die des Mannes. Was für sie den Vorteil hat, dass sie in ihrer fruchtbaren Zeit kaum einen Herzinfarkt bekommt.

      Ein anderer Vorteil für die Frau ist ein niedriger Cholesterinspiegel. Der entsteht, weil das Kind Cholesterin für die Zellmembran braucht, und Mutter ihm das ihre zur Verfügung stellt. Das hat den feinen Nebeneffekt, dass die Verkalkung im weiblichen Körper nicht so schnell voranschreitet.

      Aber für diese Leistung braucht Eva auch zusätzliche Energie. Für neun Monate Schwangerschaft und drei Monate Stillzeit 140.000 Kalorien, um genau zu sein. So hat sich die Natur das ausgerechnet. Diese zusätzliche Reserve muss sie in ihrem Körper irgendwo speichern und deponiert Last vorsorglich in der Regio glutealis und der Regio femoris, wie man das im Medizinjargon nennt. Landläufig sagt man Oberschenkel und Po dazu. Das sind die weiblichen Fettdepots für die Reproduktion.

      Interessant dabei ist, dass diese evolutionären Pölsterchen auch ein sichtbares Signal für das andere Geschlecht sind, daran ändert auch die Mode unseres so androgynen Schönheitsideals nichts. Wenn sich die Kurven einer jungen Frau in der Pubertät ausgeformt haben und sie dem Mann damit ihre Geschlechtsreife deutlich macht, ist er instinktiv empfänglich. Es ist eine Art Ich-Tarzan-du-Jane-Code.

      Nach und nach wurde Evas Organismus zu dem holistisch perfekten Körper, den es für die Fortpflanzung braucht. Mit einem neu aufgesetzten Stoffwechsel, einem verbesserten Blutgerinnungssystem, einem neu vernetzten Gehirn – wir werden dem noch im Detail begegnen. Natürlich designte die Natur auch den männlichen Körper um, allerdings nicht ganz so bahnbrechend. Immerhin ist die tragende Rolle der Reproduktion die weibliche.

      Es war ein großes Experiment, das die Natur da mithilfe der kleinen Eizelle anstellte. Überraschend gelang es. Wer in dieser Geschichte gern unter den Tisch fallen gelassen wird, sind die Viren. Ohne ihren Beitrag in der mutigen Eizelle wäre aus dem ehrgeizigen Plan nie was geworden. Ohne sie wäre die hormonelle Ära der Innenpolitik überhaupt nicht angebrochen. Sie sind nicht nur Handlanger der Evolution, sie sind Mitverschwörer des Holismus.

      Ich finde, es ist an der Zeit für eine Ehrenrettung der Viren.

      Wer oder was sind diese Partikelchen eigentlich? Unter den Begriff »Lebewesen« lassen sie sich nicht ganz einordnen, weil sie selbständig nicht zur Fortpflanzung fähig sind und auch keinen eigenen Stoffwechsel haben. In beiden Belangen sind sie auf ihre Wirtszellen angewiesen. Sie können sich nur intrazellulär, also bloß innerhalb der Wirtszelle vermehren.

      Würde man eine Straßenumfrage starten, würden die meisten Menschen sie als Auslöser von Erkrankungen deklarieren, die sie tatsächlich auch sind. Aber nicht nur.

      In Wahrheit sind Viren weder Freund noch Feind. Sie lösen nicht ausschließlich Krankheiten aus, sie sind aber natürlich auch keineswegs harmlos, weil sie für Unmengen von verschiedenen Krankheiten verantwortlich sind.

      Bei so einem Ruf geht natürlich leicht unter, was die Viren für die Gesundheit, die Evolution und allerlei biologische Reaktionen tun. Geflissentlich wird dabei vergessen, dass acht Prozent des menschlichen Erbguts viralen Ursprungs sind.

      Tatsächlich haben Viren in vieler Hinsicht etwas sehr Nützliches an sich. Grundsätzlich wünscht sich niemand eine chronische Virusinfektion, und doch hat der Körper auch was davon. Sie ist ein hervorragender Drill-Sergeant fürs Immunsystem. Eine Art Bootcamp für dendritische Zellen. Die Wissenschaft vermutet, dass die harmlosen Viren unsere körpereigene Abwehr auf die gravierenderen Infektionen vorbereiten.

      In ruhigen Zeiten, wenn sich im Körper einmal keine Katastrophe anbahnt, die das Immunsystem in Alarmbereitschaft versetzt, wird den Abwehrzellen mitunter langweilig. Ohne Herausforderung wächst der Übermut, und die ansonsten so disziplinierte immunologische Security im Organismus glaubt, Feinde zu sehen, wo gar keine sind. Im Überschwang greifen die fadisierten Truppen dann sogar körpereigene Zellen an. Auch vor solchen Autoimmunreaktionen bewahren uns die Viren, indem sie das Immunsystem zur Ordnung rufen.

      Ganz klar leisten Viren nützliche Dienste an Neugeborenen. Eingeschleust über die Mutter verabreichen sie dem Säugling eine erste Impfung, die es auf andere Virusinfektionen vorbereitet, auch davon werden wir noch mehr hören. Die bakterienfressenden Viren, die sogenannten Bakteriophagen, kontrollieren dann in weiterer Folge auch die Balance unter den Bakterien.

      Einige Viren schützen selbst vor pathogenen Viren. Eines davon ist das Pegivirus C, das offenbar die Konsequenzen einer HIV-Infektion mildert.

      Günstig


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