Der holistische Mensch. Johannes Huber
Die marschieren fröhlich pfeifend durch die offenen Pforten und beginnen dort ihr katastrophales Geschäft.
Dort, das ist in erster Linie der Muttermund. Denn genau dort fährt die weibliche Immunabwehr ihre Hürden herunter. Deshalb ist der Muttermund so anfällig für die HPV-Infektion, die letztlich zum Zervix-Karzinom, dem Gebärmutterhalskrebs, führt. Da man Hallodris auch heute noch nicht auf den ersten Blick erkennt, rät die Medizin dringend zu einem Kondom.
Das Sperma beinhaltet zwar sehr viele Abwehrstoffe, die auch die Frau schützen, aber nur wenn es gesund ist. Zu diesen Abwehrstoffen gehören nämlich auch die sogenannten Granulozyten, und die kommen in besonders hoher Konzentration vor. Es sind Fresszellen. Und genau das ist die Schattenseite. Sie können nämlich schon mit allen möglichen Viren im Bauch angetanzt kommen. Dass man sich beim Geschlechtsverkehr auch mit Hepatitis oder dem HIV anstecken kann, wissen wohl die meisten.
Besonders in der jungen Generation wird aber so ein erhobener Zeigefinger äußerst ambivalent aufgenommen. Die einen sind betroffen und nicken. Ja, das Gefühl, wählerischer sein zu wollen, hätten sie ohnehin schon die längste Zeit, jetzt habe es nur einen Namen bekommen.
Die anderen sind betroffen und schütteln den Kopf. Nein, jung wie sie sind, wären sie genau im richtigen Alter, um à la carte zu lieben. Dass sie sich dabei nicht die ultimative Vielfalt gönnen sollten, wäre nur das, was die alten Leute sagen. Was solle denn schon groß passieren?
Die Wissenschaft gibt die Antwort: Schläft eine Frau ständig mit neuen Partnern, bringt sie ihren Körper wahrscheinlich durcheinander.
Erstens muss er quasi im Akkord immer wieder neue Blaupausen herstellen. Er weiß nicht mehr, auf welche davon es jetzt ankommt, und ist desorientiert.
Zweitens nimmt man an, dass die Anpassung des Immunsystems auch eine Neurogenese im Gehirn auslöst. Es entstehen neue Nervenzellen, die nicht mehr wissen, wozu sie jetzt da sind.
Das trifft aber auch auf den männlichen Körper zu.
Beim Mann sind die Auswirkungen naturgemäß geringer. Er modelt sich lokal und immunologisch nicht um wie die Frau, allerdings baut auch er Neurone im Gehirn auf. Außerdem scheidet der männliche Organismus beim Geschlechtsverkehr einen Schwall an Vasopressin aus. Das Hormon sorgt dafür, dass er ab jetzt wie eine Hyäne auf das gemeinsame Territorium aufpasst.
Damit agiert er wie recht viele andere Männchen von so manchem Fisch über die Vögel bis zu den Säugetieren. In sein abgestecktes Revier, in dem das Weibchen brütet, darf keiner hinein. Solange die Brut da ist, macht das Vasopressin den Mann zum Verteidiger der Familie.
Natürlich gibt es auch den Fall, dass es gar nicht zur Familie kommt oder dass einer der Partner sich vom anderen trennt. Mit oder ohne Kinder. Die Scheidungsrate ist ja kein Geheimnis. Obwohl sie seit 2007 stetig abnimmt, gehen immer noch vierzig Prozent aller Paare auseinander, und es sind heute auch nicht alle Paare verheiratet.
Worauf ich hinaus will, ist der Scheidungs- und Liebeskummer. Dem kommt kaum jemand aus. Das ist ein Phantomschmerz unserer Gesellschaft. Über dem kann man nicht einfach die Augen verschließen. So einfach macht es uns der Holismus nicht.
Schuld am Herzschmerz sind ein paar an der Fortpflanzung beteiligte Hormone wie das Territoriumshormon Vasopressin oder das Bindungs- und Treuehormon Oxytocin. In diese Mittel hat der Organismus im Hinblick auf die Vermehrung ausgiebige Mengen investiert. Völlig unnötig, wie sich bei einer Trennung herausstellt. Der Partner ist weg. Über Nacht werden die Botenstoffe nicht mehr gebraucht, sie verschwinden, wie der geliebte Mensch verschwunden ist.
Den Entzug nennt man Liebeskummer.
Darüber hinaus werden die Neurone, die sich im Vertrauen auf die neue Zwei- und mögliche Dreisamkeit im Gehirn assoziiert haben, mitten in ihrer Begeisterung gestoppt. Wird ein Mensch vom Partner verlassen, unterbricht das die Aktivität dieser neuen Neuronen von außen. Für den Körper ist das eine Stresssituation, die das ganze Desaster mit dem Liebeskummer erst in Gang bringt. Tiefe Traurigkeit, schwere Depressionen, Burn-out, man kennt das ja.
Unterschätzen sollte man das nicht. Alles im Körper war auf Partnerschaft eingestellt, da ist es eigentlich nicht verwunderlich, wenn die Umstellung somatische, also tatsächlich körperliche Folgen hat. Liebeskummer belastet die Gesundheit, mitunter ein Leben lang. Im angelsächsischen Bereich ist das eine anerkannte Erkrankung, an der die Frauen statistisch gesehen mehr leiden als die Männer. Nicht weil sie romantischer oder bindungsfreudiger wären, wie man das landläufig oft so dahinsagt. Es hängt mit der immunologischen Anpassung zusammen, welcher der Mann nicht ausgesetzt ist. Die Blaupause war letztlich für nichts.
Zweiter Akt unseres Naturschauspiels: die Dauerbindung.
An der Handlung beteiligt: das Oxytocin, das Gehirn, das Stickmonoxid, das Herz.
Kurzinhalt: Der Geschlechtsakt bringt im Gehirn neue Neurone hervor, das Oxytocin regt das Herz an, sich zu regenerieren und sogar neues Muskelgewebe zu bilden.
Ohne das Oxytocin würde die Liebe nicht viel mehr Spaß machen, als sich am Schienbein zu kratzen. Es gebe keine Schmetterlinge, keine Zärtlichkeit, keine Treue. Kein Mensch hätte Vertrauen zum anderen. Jede Geburt wäre ein Desaster. Und jedes Baby würde als vergessenes Straßenkind aufwachsen. Das alles wegen des Fehlens eines einzigen Hormons.
Das ist natürlich ein bisschen übertrieben, aber nicht viel. So könnte die Welt durchaus aussehen, ohne dieses Oxytocin, das uns zu dem sozialen Wesen macht, das schon Platon in uns erkannt hat, obwohl er nie etwas von Hormonen gehört hatte.
Mittlerweile wissen wir so einiges über das Oxytocin. Es ist der Stoff, der so ziemlich bei allem mitspielt, was zwei Menschen brauchen, um einen dritten in ihr Leben treten zu lassen. Liebe. Vertrauen. Treue. Solidarität. Nachhaltigkeit. Kraft. Gesundheit. Und insbesondere ein starkes Herz.
Die Sexualität stellt all das bereit, indem sie beim Geschlechtsakt das Oxytocin hinausschleudert, das den Rest erledigt. Das sind schon so einige beachtliche Jobs, die die Natur einem einzigen Hormon zutraut. Schauen wir uns kurz seinen Lebenslauf an.
Das Oxytocin ist ein Hunderte Millionen Jahre altes Molekül. Entdeckt hat man es beim Caenorhabditis elegans, einem Fadenwurm. Der hat diesen Namen, weil er so elegant dahinschwänzelt. Der grazile Wurm musste einen ganzen Haufen Oxytocin-Experimente über sich ergehen lassen, weil er trotz seiner Winzigkeit von nicht einmal einem Millimeter Länge den Säugetieren in manchem ähnlich ist. Genauso wie beim Menschen dient Oxytocin auch bei diesem Fadenwurm dazu, die Fortpflanzung einzuleiten.
Erkennen und paaren. Bei den alten semitischen Völkern war das ein- und dasselbe. Ihr Synonym für die Paarung war das Erkennen. Adam erkannte Eva, und sie gebar den ersten Sohn. Es gehört zum Uraltwissen der Menschheit, dieses Erkennen. Wie richtig und wie poetisch. Ein weiteres Indiz dafür, dass der Geschlechtsakt mehr ist als nur Gerammel.
Freigesetzt wird dieses Oxytocin vom Hinterlappen der Hirnanhangdrüse, und dort hat es, neben vielen anderen, eine zum Erkennen passende Funktion. Sie befähigt den Menschen, Gesichter zu schärfen und sie sich zu merken. Bei den Säugetieren und dem Homo sapiens ist diese Fähigkeit weit ausgebaut.
Das Oxytocin hat auch zwei ganz andere Funktionen, die aber holistisch nicht vom Rest seiner Talente zu trennen sind. Es bewirkt, dass die Gebärmutter sich bei der Geburt zusammenzieht. Das sind die Wehen, die das Kind aus dem Bauch hinausdrücken. Daher kommt auch der Name des Oxytocins, der auf Altgriechisch gleichermaßen »Wehen bei der Geburt«, aber auch »schnelle Geburt« bedeuten kann. Außerdem ist es dafür verantwortlich, dass die Brustdrüse Milch absondert. Darüber hinaus hat es die Natur für Zärtlichkeit und Zuneigung verantwortlich gemacht. Vor der Geburt zu kuscheln hilft also, die Wehen einzuleiten. Beim Stillen zu kuscheln fördert den Milchfluss. Nach dem Orgasmus macht es die beiden Liebenden müde und bewirkt, dass sie nicht gleich getrennter Wege von hinnen spazieren.
Die Natur, so vorsichtig wie vorausschauend, hat sich da auf keine halben Sachen eingelassen. Sie hat nicht mit Vorhandenem herumprobiert. Sie entschied, dass das Hormon für seinen Auftrag gleich auch im Gehirn eigene Neurone, also Nervenzellen, herstellen soll, die die physische Grundlage für die Verbindung