Der holistische Mensch. Johannes Huber
Die Kinder sollen zu Toleranz gegenüber Homo-, Bi- und Transsexuellen erzogen werden. Allein schon dieses Vorhaben, das per se nicht schlecht ist, stößt natürlich schon auf aggressive Kritik der extremen Rechten.
Doch dieses Buch ist so extrem, dass es unter anderem vom Verein Zartbitter kritisiert wurde, der sich gegen Kindesmissbrauch einsetzt. Die Anleitungen führen dazu, dass die Kinder verwirrt werden, ihre Hemmungen verlieren und für Pädophile zu leichten Opfern werden. Und das unter dem Deckmantel der Erziehung zur Toleranz.
Ich fasse mich kurz. Den im Buch vorgeschlagenen Übungen zufolge sollen die Kinder über ihre Lieblingsstellungen reden. Sie sollen lernen, dass der Penis auch woanders hineingesteckt werden kann als in die Vagina. Sie sollen verschiedene Gegenstände, vom Ehering über die Bibel bis zu Sexspielzeug aller Art, für die Bewohner eines Hauses ersteigern, in dem alle Arten von Lebensgemeinschaften vertreten sind außer einem heterosexuellen Paar mit Kindern. Ein »Puff« soll erdacht werden, in dem alle gleichermaßen zufriedengestellt werden sollen, mit Gang Bang, Spermaschlucken und so fort. »Verbotene Sexpraktiken« sollen durchdacht werden, indem sich die Kinder in Außerirdische hineinversetzen, für die die Normen der Erde nicht gelten.
So etwas ist tatsächlich Beihilfe zum Kindesmissbrauch. Dass traditionell-religiöse Gegenstände wie die Bibel auf dieselbe Stufe wie ein Dildo gestellt werden, ist in dem Fall das geringste Problem. Wer das für Aufklärung hält, schießt über sein Ziel hinaus und legt eine übertriebene Toleranz an den Tag. Und das befeuert wiederum die erzkonservativen Gruppen unserer Gesellschaft, die alles verteufeln, was nicht ihren Vorstellungen entspricht.
Dabei ließe sich zum Beispiel die Homosexualität ohne weiteres als eine vollkommen akzeptable Normvariante erklären, ohne dass gleich im selben Atemzug von Bordellen die Rede ist, die Gewalt implizieren.
Und ich habe auch etwas dagegen, dass Kindern und Jugendlichen eine Sexualität vermittelt wird, die so an dem vorbeigeht, was die Evolution hervorgebracht hat. Wenn jemand unbedingt das nachmachen will, was er in Pornos sieht und dafür eine Partnerin oder einen Partner findet, der das freiwillig mitmacht, dann bitte. Aber deswegen muss das noch lange nicht zur Norm erhoben werden. Lust am Geschlechtsverkehr ist wichtig, aber die Lust ist nicht alles. Ausgerechnet Kinder müssen nicht mit allem verwirrt werden, was es auf der Welt gibt.
Es gibt so etwas wie die Verfassung der Evolution. Und diese Verfassung ist zu akzeptieren.
Bedenken wir das große holistische Konzept, das die Evolution um die Reproduktion des derzeit höchsten Säugers gespannt hat. Betrachten wir es mit allen Vernetzungen, die bis ins Gehirn und die Psyche hineinreichen. Dann wird einem mulmig, wenn die seit der Aufklärung umworbene ethische Selbstbestimmung des Menschen derart radikal aufgefasst wird. Wenn die Konzepte einer neuen Gesellschaft, in der alles erlaubt sein soll, was vielleicht Spaß machen könnte, die Vorgaben der Evolution ausblenden und im selben Atemzug von Menschenrechten, Fortschritt, Freiheit und Verfassung reden. So wie ich das sehe, sind Menschenrechte, Fortschritt und Freiheit schon in der Verfassung der Evolution gegeben.
So wie Genmanipulation als ethisch falsch und gefährlich angesehen wird, so ist auch das Rütteln an der Evolution gefährlich.
Man muss nicht zum Agenten der Sittlichkeit werden, wenn man angesichts der neuronalen Vernetzung im Koitus mehr sieht als nur eine Möglichkeit, 300 Kalorien zu verbrauchen und sein kurzfristiges Verlangen zu stillen.
Wir können die Fantasie der Jugendlichen wirklich anders anregen, als damit, sie einen Puff bauen zu lassen. Wir könnten ihnen die Sexualität einmal von einer völlig anderen Perspektive aus zeigen. Nämlich als einen enormen Akt zwischen zwei Menschen, bei dem im Gehirn ein Tsunami abgeht. Und die Geschlechtsorgane sind so etwas wie Vorposten des Gehirns.
Aufklärung ist nicht nur eine Darstellung von Penisgrößen und Vaginatiefen in allen Konstellationen.
Mir ist das ein Anliegen. Besonders im Hinblick auf das, womit ich als Arzt täglich in unserer Klinik zu tun habe. Dort begegnen wir den Opfern einer egozentrischen Sexualität, wie sie derzeit gang und gäbe ist. Vom Missbrauch ganz zu schweigen. Mädchen, die aufhören zu menstruieren. Die aufhören zu essen und anorektisch werden, um irgendeinem Ideal zu entsprechen.
Toleranz darf nicht zu etwas werden, das nicht mehr zu tolerieren ist.
Das Mächtigste auf der Welt soll die Liebe sein. Omnia vincit amor. Die Liebe besiegt alles. Behalten wir doch vor allem diesen einfachen Wahlspruch der Minnesänger im Herzen.
Die Ära der hormonellen Innenpolitik
Willkommen in einer der spannendsten Zeiten der Medizin. Wir befinden uns in der Welt des Holismus und betreten fast täglich Neuland. Die Forschung überrascht uns, die Zusammenhänge beeindrucken uns. Gängige Abläufe werden mit Aha-Effekten gespickt. Bekannte Stoffe zeigen sich von bisher völlig unbekannten Seiten. Es ist, als säßen wir in einem immer dichter werdenden Spinnennetz, in dem mit jeder Erkenntnis ein neuer Faden erscheint. Die Vernetzung lässt uns keine Pause beim Staunen.
Nehmen wir an, wir könnten am Stand der Dinge einmal kurz innehalten und zur Abwechslung nicht nach vorn, sondern zurückschauen. Zu den Anfängen. Gab es überhaupt einen Anfang? Wann hat sie begonnen, die Vernetzung des Menschen?
Wenn wir die Evolution nach dem entscheidenden Moment absuchen, stoßen wir auf eine große Geschichte, die sich Mutter Natur etwa vor 150 Millionen Jahren ausgedacht hat. Mit ihr ist der erste Tag einer neuen Zeit angebrochen. Es ist sozusagen die Guten-Morgen-Geschichte für die Spezies der Säuger. So sind sie entstanden, und als Prachtstück in dieser Reihe, als Krönung der Gattung, ist der Mensch aus ihr hervorgegangen.
Die Geschichte beginnt mit einer mutigen Eizelle, der ein Experiment gelang, das eine radikale Umgestaltung des weiblichen Körpers bewirkte. Ein Schmetterlingseffekt, da haben wir ihn wieder. Ein Schmetterlingseffekt von unermesslichem Ausmaß. Da muss ein Falter mit einer sagenhaften Flügelspannweite aufgeflattert sein.
Die mutige Eizelle lebte in einer Zeit, da die Fortpflanzung es nicht in die Top Ten der reizvollsten Freizeitbeschäftigungen geschafft hätte. Sex war nicht besonders aufregend. Genauer gesagt: Oft genug war es gar kein Sex, was vor Millionen von Jahren für Reproduktion sorgte.
Lebewesen haben sich vermehrt, wie sie alles andere auch gemacht haben. Fressen, kämpfen, flüchten, schlafen, fortpflanzen, was eben gerade anstand. Emotionslos, pragmatisch, gehorsam. Weil es in den Genen so eingetragen war. Irgendwie stand es so auf dem Stundenplan, damals in den evolutionär so umstürzlerischen Tagen der Kreidezeit.
Ursprünglich mussten nicht einmal zwei Organismen an diesem Nicht-Sex beteiligt sein. Das Weibchen produzierte ganz für sich ihre Eier und deponierte sie im Stillen. Irgendwo an einem geschützten Ort machte sie ein Häufchen aus ihnen, und das war’s. In manchen Fällen wurden sie von der Sonne bebrütet. In anderen vom Muttertier. Oder auch gar nicht.
Waren doch zwei Lebewesen zuständig, brauchten sie sich überhaupt nicht zu kennen. Sie mussten sich niemals begegnet sein, sie mussten einander nicht einmal gesehen haben, geschweige denn berührt. Viele Fischarten zum Beispiel halten für die Befruchtung nicht einmal inne, sie erledigen das heute noch im Vorbeigleiten. Das Weibchen setzt an irgendeiner Wasserpflanze ihren Laich ab. Darauf, wer das letzten Endes ist, der da des Weges daherschwimmt und seine Spermawolke darüber ablässt, kommt es ihr nicht so an.
Ähnlich ist es bei den Reptilien und allerlei Federvieh. Sympathie ist kein Kriterium bei der Vermehrung. Erst recht keine Leidenschaft. Wäre das heute auch bei den Säugern, wie ja letztlich der Homo sapiens einer ist, noch so, hätten wir eher einen Orgasmus, wenn uns jemand ein Hühnerauge entfernt. Irgendwas dürfte selbst der Natur dabei gefehlt haben. Vielleicht hatte sie auch nur zu viel Energie, möglicherweise sehnte sie sich nach ein bisschen Liebe. Oder ihr war fad, weil alles so gut im Laufen war, und sie wollte einfach nur herumprobieren. Jedenfalls beschloss sie, dass das so nicht weitergehen konnte.
Wenn die Fortpflanzung das zentrale Lebensziel war, könnte sie doch auch mit ein wenig mehr Verve betrieben werden. Sex könnte Spaß machen, das war nicht verwerflich. Im Gegenteil, ein Ansatz von Romantik sollte