Demokratisierung von Organisationen – Erfolgsmodell Schweiz. Ralph Höfliger

Demokratisierung von Organisationen – Erfolgsmodell Schweiz - Ralph Höfliger


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ist er per se als Bürger.

      In vielen, insbesondere in grösseren Wirtschaftsorganisationen hingegen sind die Stakeholder einseitiger mit der Organisation verbunden. Beispielsweise hat die überwiegende Mehrheit der Kunden eines Computer- oder Automobilherstellers keine weiteren Stakeholder Rollen, d.h. sie sind nicht auch noch Mitarbeiter, Eigentümer, Lieferanten oder Mitinhaber der Organisation. Ausnahmen sind beispielsweise Vereine und Genossenschaften, die Leistungen für ihre eigenen Mitglieder erbringen, wie zum Beispiel Versicherungsgenossenschaften, die bestimmte Risiken auf die eigenen Mitglieder verteilen.22 Diese Organisationen sind vom Prinzip her tatsächlich staatsähnlich aufgebaut: Die Kundin ist zugleich Miteigentümerin, Mitgestalterin, Mitentscheiderin und ggf. sogar Mitarbeiterin.

       2.Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit

      Es ist deshalb kein Zufall, dass die Demokratisierung von Organisationen vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen begann. Die zurzeit umfangreichste Liste demokratisch geführter Organisationen und Unternehmen mit hohem Selbstorganisationsgrad, die «Bucket List» der Corporate Rebels23, enthält mit wenigen Ausnahmen KMUs, denn dort sind die Distanzen der Stakeholder zueinander bedeutend kleiner als in Grossorganisationen.

      Generell kann deshalb die Aussage gewagt werden, dass die Möglichkeiten und Grenzen der Übertragbarkeit der direkten Demokratie der Schweiz auf Wirtschaftsorganisationen abhängig ist von der Nähe und Distanz zwischen den Stakeholdern und ihrer Interessen.

      Bezogen auf die einzelnen Elemente der direkten Demokratie sind die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlich. Viele Praktiken können problemlos auch in Grossunternehmen eingeführt werden, wie z.B. der Initiativprozess. Näheres dazu in den entsprechenden Kapiteln zu den Kernelementen der direkten Demokratie.

       C.Mythen aufklären

      Bevor die einzelnen Elemente der direkten Demokratie beleuchtet werden, noch ein kurzer Blick auf einige Mythen dazu, die, wenn nicht aufgeklärt, den Blick auf das Wesentliche versperren könnten.

       1.Mythos jekami

      Damit ist der Mythos gemeint, dass Demokratie bedeute, jeder kann überall mitentscheiden.

      Tatsache ist, dass in einer Demokratie viel detaillierter geregelt ist, wer wo wie mitreden und mitentscheiden kann, als in einem feudalistischen System. Das liegt auch auf der Hand, da im Feudalismus einfach der Ranghöhere bestimmt, was zu tun ist, welche Regeln gerade gelten, wer Recht hat, etc., es braucht dazu also kein Regelwerk. In der Demokratie hingegen ist dies genau geregelt.

       2.Mythos Langsamkeit

      Zum Mythos, dass direkte Demokratie langsam sei: Es stimmt zwar, dass es in der schweizerischen Willensbildung bestimmte Geschäfte gibt, die sich tatsächlich über viele Jahre dahinziehen, ohne dass sich Wesentliches verändert, beispielsweise die AHV Revisionen. Doch wenn der Leidensdruck gross genug ist und es eilt, zeigt sich das System sehr agil: Beispielsweise wurde in der Bankenkrise die Grossbank UBS – too big to fail – innert weniger Tage durch die Eidgenossenschaft gerettet.24

      Dazu wurde das sogenannte Notrecht in Kraft gesetzt, dasselbe Recht, das bei der Corona Pandemie für den Lock-down eingesetzt wurde. Dieses Recht, verankert im Artikel 185 Absatz 3 der Bundesverfassung25 übergibt dem Bundesrat in Krisensituationen weitreichende Kompetenzen, um Lösungen zu entwickeln und umzusetzen, wenn es eilt. Ist die Krise vorbei, geht die Führung zurück ans Parlament (Details dazu siehe Kapitel «Notrecht, wenn es eilt»).

      Aber nicht nur in Notsituationen ist die direkte Demokratie viel schneller als ihr Ruf, sondern auch im Alltag. Beispielsweise war die Schweiz, knapp vor Kanada, das erste Land der Welt, das rechtliche Rahmenbedingungen für Block-Chain Technologien eingeführt hat. Dies mit dem Erfolg, dass ein regelrechter Boom von IT-Firmen zwischen den Städten Zug und Zürich entstand, was der Region bereits den Namen «crypto valley» eingebracht hat.

      Der grösste Irrtum des Mythos Langsamkeit liegt aber in den lokalen Veränderungen: Der Föderalismus und Dezentralismus erlauben in den Hoheitsgebieten der Gemeinden und Kantonen unglaublich viel schnellere lokale Lösungen, als wenn alle Vorschläge zuerst den Umweg über «Bern» (oder erst recht über «Brüssel») machen müssten.

       3.Mythos keine Hierarchie

      Zum Mythos, dass es in einer Demokratie keine Hierarchie gäbe: Möglicherweise wird dieser Mythos genährt durch Begriffe wie «Selbstorganisation», «Autonomie», «Empowerment» oder «flache Hierarchie».

      Tatsache ist, dass es sehr wohl erstens viele ordnungsbildende (thematische) Hierarchien gibt (z.B. die Hierarchie von Verfassung – Gesetz – Verordnung – Reglement – Verfügung) und zweitens auch Machthierarchien – sowohl die exekutiven als auch die judikativen Systeme sind praktisch überall machthierarchisch aufgebaut.

      Damit ähnelt das Schweizer System übrigens dem Konzept «duales Betriebssystem», von John Kotter, bzw. der organisationalen Ambidextrie oder «beidhändigen Führung», welche eine Hierarchie für Zuverlässigkeit und Effizienz und ein selbstorganisierendes Netzwerk für Innovation, Veränderung, Schnelligkeit und Agilität vorschlägt. Mehr dazu im Kapitel «Gewaltenteilung».

       4.Mythos keine Führung

      Der Mythos, dass es in der direkten Demokratie keine Führung gäbe, kommt wahrscheinlich daher, dass die Führung nicht so sichtbar ist wie in repräsentativen Demokratien wie beispielsweise die USA. Die schweizerische Kultur ist gegenüber personalisierter Macht – zu Recht, wie die meisten Beispiele zeigen – höchst misstrauisch. Wo immer es geht, wird die Macht verteilt. Es gibt sie sehr wohl, die Führung, aber eben, sie ist verteilt. «Leadership durch Followers»26, könnte man diese Art von Führung nennen: Wer eine gute Idee hat, der erhält Gefolgschaft. Führung entsteht durch Menschen, die folgen. Mehr dazu siehe Kapitel «Initiative und Referendum».

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