Neubayern. Florian F. Scherzer
Später an diesem Vormittag ging ich ins Badehaus und legte mich eine halbe Stunde ins heiße Wasser. Von der Elsi bekam ich frische Wäsche und etwas später vom Schwarzbauern, vom Saillerbauern und vom Traublinger ein paar aufs Maul. Der Hansi hatte wahrscheinlich von unserem nächtlichen Ausflug erzählt. Erst das heiße Bad und jetzt musste mir die Elsi mit einem nassen kalten Lappen die Lippe kühlen. Das frische Hemd war voller Blut. Elsi war sehr rücksichtsvoll und zart und ich lag trotz der schmerzenden Lippe gerne zwischen ihren Brüsten.
»Der Benno ist weg«, sagte ich.
»Ich weiß«, sagte sie.
»Der Schwarzhansi und ich haben ihn heute Nacht gesucht.«
Auch das wusste sie.
»Ist der nach München?«
Elsi stand auf und kam kurze Zeit später mit einer Salbe zurück. Die tupfte sie mir sehr vorsichtig auf die Wunde. Nach der Prügelei fühlten sich meine Lippen noch wallerhafter an als jemals zuvor.
»Ist der nach München gebracht worden, habe ich dich gefragt?«
»…«
»Der Schwarzbub scheißt sich in die Hose, weil er nicht weiß, was mit seinem Freund ist. Ist der in München?«
»Ich kann dir dazu nichts sagen.«
»Du tust doch immer so gescheit, was ist mit dem Saillerbuben, Elsi?«
»Ich weiß genauso wenig wie du, Kiener. Ich versteh ehrlich gesagt nicht, was dich das kümmert. Seit wann bist du mit den Buben so eng?«
»Du hättest den Schwarzbuben sehen sollen. Der hat geheult wie ein Kleinkind. Der Sailler ist sein bester Freund. Ich möchte nur wissen, was da los ist und wo der Bub gelandet ist.«
»Das würdest du eh nicht verstehen, Kiener. Was schert dich der Bub? Geh zurück zu deinen Fischen, bunker dein Geld, leg dich in die Sonne und spiel an dir rum, wie sonst auch immer und vergiss die Buben.«
Elsi war nicht zu bremsen. Das alte Sich-in-Rage-Reden: »Das wissen eh alle Frauen im Dorf. Was meinst du, was da geredet wird? Der Wallermaul liegt im Gras am Weiher und schaut sich die Mägde vom Schwarzhof und vom Saillerhof und vom Traublinger an. Wie sie in den Zulauf hüpfen. Und spielt an sich rum. Und jetzt heißt es sogar, dass du die beiden Buben an dir rumspielen lässt. Wie der Wimmer damals mit seinem Lehrbuben? Das fragen sich die Bauernweiber in Oberpfaffing. Hat der Wallermaul den Sailler verschwinden lassen, damit er nichts erzählt? Das reden die Weiber beim Waschen und deshalb hast du eine auf dein großes Wallermaul bekommen von den Männern. Und wo die Watschn herkommt, da wartet noch viel mehr auf dich, Kiener. Die sind in Alarmbereitschaft, seit du mit dem Schwarzbuben auf dem Wachten warst. Der Fischdandler muss bluten, sagen die, erst der Sailler, dann der Schwarz, wer ist der nächste? Der Fischdandler muss bluten!«
So schnell ging das also.
»Ich wollte nichts von dem Buben. Der ist zu mir gekommen. Ich habe neulich zum ersten Mal mit dem Schwarz geredet.« Ich bekam es mit der Angst. »Ich habe mich nur gefragt, was mit dem los ist. Was es mit diesem Teufel auf sich hat und ob das alles vielleicht etwas miteinander zu tun hat. Ich bin halt neugierig und habe mir Sorgen gemacht. Und der Schwarzbub hat mich angefleht, dass ich ihm helfe, seinen Freund zu finden. Ich bin nicht so kaltherzig wie die anderen in Oberpfaffing, was meinst du denn? Was würdest du denn machen, wenn der dich gefragt hätte?«
»Und das alles haben der Schandi und der Amtsdepp von Oberpfaffing mitbekommen und jetzt denkt das ganze Dorf, dass du ein Kinderficker bist.«
»Ich bin aber keiner!«
»Aber irgendwem taugst du nicht. Mit deinem Nachgedenke.«
»Ich denke nicht nach.«
»Das denkst du nur.«
So war das also. Die Dörfler dachten, dass ich, weil ich so ein schräger, hässlicher Hund bin und keine Frau abbekommen habe, mich an die Dorfbuben heranmachte. Erst das Wallermaul, dann der einzige Freund tot, jetzt auch noch ein Schwein.
»Kiener, ich glaube, du musst zum Engel und mit dem Engel reden. Der kann dir das alles erklären. Und dann kannst du das alles regeln. Mit dem Buben.« Elsi wirkte erschöpft. Die Rage war wieder verraucht. »Der Engel kann dir weiterhelfen. Mit dem Benno und deinem Leben und allem, versprochen.«
»Ein Engel? Ich bin noch nicht mal mit dem Teufel fertig.«
»Geh zum Engel. Ich sag dem Hansi, dass er sich solange um deine Fische kümmert. Das ist ja nicht gerade eine schwierige Arbeit. Das ist dann sein Beitrag zur Suche, oder?«
»Jetzt ohne Schmarrn? Ich soll zu einem Engel und der Bub, den ich angeblich schände, kümmert sich um meine Fische. Zum Glück habe ich keine Aale.«
Elsi schaute sich um, im Badhaus war niemand mehr. Sie drehte sich und hob ihre Bluse. Leider nicht sehr weit. In ihrem Unterrocksaum auf dem Rücken (der für ein Wallermaul wie mich schon mehr war, als ich jemals von Elsi zu sehen erhofft hatte) steckte ein Zettel. Den zog sie heraus und gab sie mir. In Schwarz stand darauf: Russlach. Doben. Hinterwald. Nur die drei Worte. Daneben hatte jemand ein Symbol gezeichnet, das aussah wie das seltsame Wollreh auf dem Wappen im Königsmonument in Rieding. Ein sitzendes oder ein sich aufbäumendes Wollreh. Elsi zog ihre Bluse wieder nach unten. Sie nickte mir zu und sagte noch einmal: »Geh zum Engel, Kiener. Das ist der Weg. Zeig ihn niemandem.«
Ich nickte zurück. Sie küsste mich auf die Wange. Ich stand auf. Sie auch. Ich nickte noch einmal und ging hinaus. Von der Dorfmatratze in einem leeren dampfigen Badhaus einen mitleidigen Kuss auf die Wange zu bekommen, war nicht gerade ein Zeichen, dass aus dem Wallermaul ein begehrter Junggeselle geworden war. Trotzdem. Ein Wallermaul nimmt, was es bekommen kann.
Ich holte einen Sack mit Kleidung aus meiner Hütte und steckte mein ganzes Geld (immerhin 342 Gulden) in mein Stiefeltuch. Ich spürte damals schon, dass ich nicht mehr zurückkommen würde, nach Oberpfaffing. Auch wenn ich es mir nicht eingestanden hätte. Deshalb nahm ich alle Andenken an meine Familie mit, die ich nach dem Feuer noch hatte. Das war mir fast das Wichtigste in meinem Leben. Die Haube der Mutter, »Tollo«, der aus Fetzen gebastelte Perchtl, den sich der Bruder und ich geteilt hatten, ein Heiligenbildchen aus dem Gebetbuch der Oma und das Foto der Familie, das wir in Rieding hatten machen lassen. Nur wenige Tage bevor das Schlimme passiert war. Mit der Mutter, dem Vater, dem Bruder, der Großmutter und sogar dem Knecht, dessen Gesicht ich aber aus dem Foto gekratzt hatte. Der verfluchte Selbstmörder. Wenigstens hatte er das Feuer auch nicht überlebt. Und wenigstens hatte er kein Grab auf dem Gottesacker bekommen, sondern war irgendwo verscharrt worden. Ganz besonders wichtig war es mir, die Sammlungen meines Bruders mitzunehmen. Er hatte oft an der Pfaffl gesessen, wie ich heute und ins Wasser geschaut. Dabei hatte er oft seltsame Gegenstände und Dinge gefunden. Sachen über die wir uns gemeinsam gewundert oder sogar gegruselt hatten, weil wir sie nicht verstanden: Eine ganze Sammlung gezackter Metallstücke, auf deren glatter Seite mal deutlich mal undeutlich das Wort ›Imperial‹ zu lesen war. Nur ein Metallstück der Sammlung war anders. Darauf stand sehr deutlich zu lesen: Schneider. Vielleicht die Werkzeuge eines Schneiders? Zum Stoffanritzen. Wir hatten es nie herausgefunden. Und dann natürlich die Supersolzettel. Alle neun, die mir noch geblieben waren. Ich nahm mir vor, bald damit zu beginnen darauf zu zeichnen. Das hätte dem Bruder bestimmt gefallen.
Seit die Geschichte mit dem Benno und dem Schwarzbuben bei mir angekommen war, fiel es mir immer schwerer, nicht an den Bruder zu denken. Ich konnte gut verstehen, dass man seinen besten Freund brauchte und dass man alles dafür tut, um ihn zu finden. Ich wollte dem Schwarzbuben helfen. Ich musste ihm helfen. Was wäre geworden, wenn mir einer der Scheiß-Oberpfaffinger, die um unseren brennenden Hof herumgestanden waren und zugeschaut hatten, wie alles in sich zusammengestürzt ist, dabei geholfen hätte, die Türe aufzubrechen, damit die Familie rausgekommen wäre. Eine Art Kiener wenn da gewesen wäre und die Türe mit geöffnet hätte ... Ich musste dieser Retter für den Schwarzbuben sein, es half nichts. Von den Oberpfaffingern würde es keiner sein. Das hatte ich schon beim Feuer am Kienerhof erlebt. Und dem Bruder hätte es auch gefallen.
An diesem Tag schaffte ich es bis