Neubayern. Florian F. Scherzer
einer Pfafflgumpe zu baden und spritzen sich gegenseitig kreischend mit dem eiskalten Wasser an. Von der Angst in ihren Augen war nichts mehr zu sehen.
Das Schwalbennest
Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung
Kiener«, hörte ich hinter mir. Ich erschrak. »Kiener, komm.« Ich drehte mich um. Hinter mir begann das Dickicht des Waldes. Ich blickte vorsichtshalber wieder stur nach vorne. Das war die Stimme von Elsi. Ich drehte mich wieder um. Sie stand mitten im Unterholz im Dunklen und schaute mich an. Das helle Gesicht im dunklen Wald. »Ich konnte dich nicht alleine gehen lassen, Kiener. Du siehst ja, was dir dann passiert. Jetzt komm. Zum Engel.«
Als ich mich an das Dämmerlicht im Wald gewöhnt hatte, sah ich dass Elsi ungewöhnlich gekleidet war. Ein grober Janker, ein Jägerhut, eine wollene Bundhose und ein Rucksack. Wie ein Mann. Wie der Traublinger, wenn er ins Holz geht, um seine Fichten zu überprüfen und zufällig mit einer Wildsau und einem Mordsrausch heim kam. Vielleicht waren das sogar die Kleider vom Traublinger. »Komm, ich bring dich zum Engel. Das hätte ich eh besser gleich gemacht und dich nicht erst alleine loslaufen lassen sollen.«
»Elsi, was ist da gerade passiert?«
Elsi ging den Hang nach oben.
»Komm, Kiener.«
»Ich wollte in Russlach nach dem Weg zum Doben und nach Hinterwald fragen, und dann war da niemand und dann plötzlich die Perchtln und das Blut und die Kinder und die Musik.«
Elsi war ungeduldig: »Das muss dir alles der Engel erklären. Und mit Hinterwald wärst du so eh nicht weiter gekommen. So heißt der Engel, wenn er nicht Engel genannt wird.«
Wir gingen langsam. Bergauf ist noch nie meine Stärke gewesen. Elsi lief viel schneller als ich.
Wir stiegen bestimmt über eine Stunde durch den Wald. Als wir schließlich auf einer Lichtung zum Rasten kamen, konnten wir kurz über das ganze Tal blicken. Von Russlach aus stieg immer noch dunkler Rauch auf. Viel weiter hinten konnte ich den Kirchturm von St. Jakob in Rieding erkennen.
»Von ganz oben kannst du bis in die Stadt hinein sehen.« Elsi stieg schon weiter auf.
Wir gingen um einen kleinen Hügel herum und standen auf einer großen Weide. In Oberpfaffing gab es eine ganz ähnliche Stelle: Die Felswand des Wachten und darunter eine große Viehweide, auf der im Sommer die Rinder des Dorfes waren. Hier sah ich aber ganz andere Tiere. Wollrehe, wie vor einigen Monaten auf dem Kirchplatz. Weiße Wollrehe. Zehn oder fünfzehn Stück. Sie sprangen wie Ziegen davon, wenn man ihnen zu nahe kam. Ganz elegant. Nicht wie die normalen Rehe sondern eher wie Böcke. Nach allem, was ich heute gesehen hatte, wunderte mich nichts mehr. Die Tiere und ihre Bewegungen sahen jedenfalls sehr geschmeidig aus. Ich schaute zu Elsi, sie machte mir ein ungeduldiges Zeichen, ihr zu folgen und ging weiter.
Oberhalb der Weide sah ich ein ganz und gar ungewöhnliches Haus. Ein Haus, wie ich es noch nie vorher zu Gesicht bekommen hatte. Vielleicht das Haus einer Hexe oder eines Magiers, dachte ich damals. Es war direkt in die felsige Wand gebaut und hing wie ein Schwalbennest über der Wiese. Das Haus schien ganz und gar aus übrig gebliebenen Teilen alter Höfe und Stadthäuser zu bestehen: Schiefe Fenster, krumme Türen, quietschende Winden, verzierte Balken, zerbrochenes und ganzes Glas in bunten Kirchenfenstern, bemalte Bauernschranktüren. Etwas, das aussah wie eine Aussteuertruhe, klebte wie ein Balkon an einer der Wände. Ein wilder Haufen unterschiedlicher Teile, windschief und krumm zusammengeleimt, gebunden und genagelt. Alte Schränke und etwas, das aussah wie ein Sarg oder ein Aborthäuschen, wurden zu Türmchen und Erkern. Nichts passte zusammen und doch fügte sich alles zu einem seltsamen Gebäude zusammen. Das Ganze wurde gestützt durch eine Vielzahl von Baumstämmen und alten Dachbalken, die das Haus an den oberen Rand der Felswand drückten. Obwohl es fast windstill war, schienen die einzelnen Elemente immer in Bewegung zu sein und ich befürchtete, irgendeines der wackeligen Teile könnte sich lösen und auf uns herabstürzen.
Ich konnte nicht erkennen, ob es von dort, wo wir standen, überhaupt einen Weg zu dem Schwalbennesthaus gab. Es hing bestimmt dreißig oder vierzig bayerische Fuß über der Stelle, wo die Weide auf die Felswand traf. Elsi wirkte erleichtert: »Willkommen auf dem Doben, Kiener. Gleich sind wir beim Engel.« Ich blickte nach links und rechts die Bergkette entlang. Das Schwalbennesthaus war die höchste Stelle der gesamten Bergkette. »Ist er der Engel, weil er so weit über uns wohnt?«, fragte ich. Elsi lächelte nur milde und sagte: »Wart ab, Kiener. Der Engel ist halt der Engel.«
Hinter einem Busch war eine vergitterte, eiserne Türe vor einer Öffnung im Felsen. Elsi nahm einen winzigen Schlüssel aus ihrem Hosensack, sperrte auf und wir konnten eine steile Treppe in einem in den Fels geschlagenen Gang hinaufsteigen. Oben öffnete Elsi eine Falltüre, die mitten in das Schwalbennesthaus führte.
Das Haus war noch wackeliger und weiter oben als es von unten ausgesehen hatte. Bei jedem Schritt stöhnte und ächzte es und ich hatte dauernd das Gefühl, in einem leichten Luftzug zu stehen. Aber was die Aussicht betraf, hatte Elsi nicht übertrieben. Ich sah Rieding mit St. Jakob und viel weiter hinten konnte ich am Fuß einer anderen Bergkette die Stadt sehen. Die Stadt mit den drei Kirchen, dem Dom und der Bischofsresidenz.
Ich ging ganz nah an eines der größeren Fenster. Der Boden stöhnte. Zwar war ich schon oft in Richtung Wachten gelaufen und hatte vom oberen Goaßweg Richtung Rieding geschaut, aber der Blick aus dem Schwalbennesthaus ließ mich nicht so leicht los. Ich konnte mich gar nicht satt sehen. Gleichzeitig scheute ich die ungewohnte Höhe. Über Russlach schien die Sonne, weiter hinten über Rieding und der Stadt ballten sich Wolken. Dazwischen Sonnenstrahlen, Regenschlieren, Licht, Dunkel, Blau, Grau, Grün, Berge, Hügel, Felder, Weiher, Wälder, Höfe und Dörfer.
Ich weiß nicht, wie lange ich da stand. Wahrscheinlich lange, denn es wurde langsam dunkel.
Jemand legte mir die Hand auf die Schulter. Es war Elsi. Ich drehte mich um und wusste, dass ich den Engel kennenlernen würde.
Ich erwartete, überrascht zu sein. Eine Lichtgestalt in Weiß oder ein weiser alter Mann. Aber der Engel, den ich mitten im Schwalbennesthaus stehen sah, war ganz normal. Vielleicht vierzig Jahre alt, weder dick noch schlank, schüttere farblose gescheitelte Haare, Schnurrbart, saubere graue Weste, weißes Hemd und graue wollene Hose. »Der Kiener«, sagte er ruhig und ging auf mich zu um mir die Hand zu schütteln.
»Elisabeth sagt, dass du einige Antworten bekommen möchtest. Sie hat das Gefühl, dass du einer bist, dem wir vertrauen können und der alles verstehen wird.«
Er schaute mich lange an und fuhr dann fort. »Elisabeth hat mir das Meiste über dich schon erzählt.« Der Engel ging einige Schritte ins Halbdunkel nahe der Felswand. Da standen zwei Sessel, auf die wir uns setzten. Der Engel schaute mich unverwandt an. Ich fühlte mich unbehaglich.
»Was weißt du über das Königreich Bayern, Kiener?«
Ich schaute irritiert zu Elsi, die mir aufmunternd zulächelte.
»Ich will dir erst mal ein wenig die Augen öffnen, Kiener, und dazu muss ich wissen, was du weißt, verstehst du?« Der Engel sprach sehr ruhig und fast nach der Schrift. Er wirkte herablassend und schaute mir direkt in die Augen. Ich fühlte mich trotzig.
»Halt alles, was wir in der Schule gelernt haben. Wiener Kongress. König Ludwig und die Wittelsbacher, Residenz in München und es gibt Altbayern und Franken und Schwaben und so etwas.«
»Aha, das ist ja nicht besonders viel, oder?« Der Engel lächelte. Ich mochte ihn nicht. Er blickte sich Beifall heischend zu Elsi um.
»Kennst du jemanden, der schon einmal in München war?«
Ich verstand den Sinn seiner Fragen nicht. Die Erwähnung Münchens weckte immer noch und immer wieder Unbehagen in mir.
»Der Dobler aus Oberpfaffing ist nach München, der war so gut in der Schule, dass der zum