Neubayern. Florian F. Scherzer
und die meisten anderen aus unserer Gegend sonst eher mieden. Die Egenkofener galten als verschroben. Sie hatten einen Brauch, der dem Rest von uns Pfaffltalern ein bisschen Angst machte: Das Himmelskreuzeln. Ich wusste damals nicht, was genau darunter zu verstehen war. Aber mir war klar, dass es etwas seltsames sein musste.
Als ich im Dorf ankam, war es früher Abend und ich kehrte beim Wirt ein. Dort gab es ein kaltes Essen und ein Strohlager, in dem ich die Nacht verbringen konnte. In der Gaststube waren außer mir noch drei Männer. Jeder saß alleine an einem Tisch vor seinem Bier und schwieg. Es war kalt, ungemütlich und still. Ich trank ein Bier und aß ein Schweinefleisch. Später im Strohlager war nur noch ein weiterer Gast. Der Wieder. Ein uralter Mann, der die ganze Nacht über gurgelnde Geräusche machte. Ich konnte kaum schlafen. Noch schlimmer wurde es, als er zwischendurch gar keine Geräusche mehr machte. Dann dachte ich jedesmal, er sei gestorben, stand auf und fühlte seinen Puls.
Am Morgen war der Wieder fort.
Ich wollte mich schnell auf den Weg nach Russlach machen. Der Wirt bot mir noch Kaffee und ein Musbrot an. Ich nahm nur das Brot und trank eine wässrige Milch dazu. Ich wollte möglichst rasch wieder aus dem Dorf sein. Weiter nach Russlach. Aber etwas versperrte mir den Weg. Eine Art Prozession. Ungefähr dreißig Männer liefen langsam in einer langen Reihe hintereinander her. Alle blickten wie gebannt nach oben. Alle murmelten ein monotones Gebet. An der Spitze der Prozession lief ein Ministrant. Er trug eine Stange, die fast dreimal so lang war wie er selbst. Daran hing, wie an einer Angel, ein Kreuz. Etwa fünf bayerische Fuß lang und ebenso breit. Jedoch nicht mit einem Ende nach unten zeigend, sondern das Kreuz hing waagerecht. Es streckte quasi alle Viere von sich. Der Ministrant hatte ein Rohr oder eine Pfeife in seinem Mund stecken, die, wenn er hineinblies, ein rauschendes Geräusch machte. Als einer der Männer aus der Prozession direkt an mir vorüberging, konnte ich sein gemurmeltes Gebet hören: »Heiliges Himmelskreuz, kehre zu uns zurück und gib uns deinen Segen. Heiliges Himmelskreuz, wir beten, um deine Wiederkehr und deinen Segen für unser Dorf. Heiliges Himmelskreuz, erbarme dich unser …«
Neben mir tauchte der Wirt des Egenkofener Gasthauses auf. Ich schaute ihn an. Und er erklärte mir das Egenkofener Himmelskreuzeln.
Früher, als er, der Wirt, noch ein Kind war, erzählte er, ging es den Egenkofenern gut. Sie waren damals die reichste Gemeinde im Pfaffltal. Die Kühe gaben die fetteste Milch, die Felder hatten das beste Getreide. Egenkofen war bekannt für seinen sahnigen Käse und die Bäuerinnen kamen kaum mit dem Käsen hinterher, so schnell wurde er ihnen damals auf dem Riedinger Markt aus der Hand gerissen, so der Wirt. Der Egenkofener war allen Feinschmeckern und Käsefreunden in Rieding ein Begriff. Die Leute aus dem Dorf glaubten damals, dass das mit dem Himmelskreuz zusammenhing. Einem mystischen Kreuz, das jeden Sonntag und jeden Mittwoch über dem Dorf auftauchte. Wie eine göttliche Erscheinung. Der Wirt erzählte, dass er sich noch gut daran erinnern konnte, obwohl er damals noch ein Kind gewesen sei. Es war ein schwebendes Kreuz, das sonntags von hinter den Bergen im Osten kam, sich langsam über das Dorf bewegte und im Westen hinter den anderen Bergen wieder verschwand. Mittwochs in die entgegengesetzte Richtung. Die Kinder freuten sich jedesmal und jubelten schon, wenn man das leise Rauschen des nahenden Kreuzes ganz leise zu hören begann. Egenkofener Neugeborene wurden nur getauft, während sich das Himmelskreuz über dem Dorf befand. Für die Dörfler war das Kreuz ein Zeichen dafür, dass sie vom Herrgott besonders gesegnet waren. Wenn das Kreuz einmal nicht zu sehen war, wegen zu starker Wolken, galt das als böses Omen.
Dann, eines Tages, blieb das Himmelskreuz aus. Und mit ihm ging der Wohlstand Egenkofens. Keine fette Milch mehr und drei Missernten in Folge. Obwohl das Wetter in diesen Jahren weder besonders gut, noch besonders schlecht war. In Rieding lachten die Leute schon über die plötzlich so armen Egenkofener und man musste die Milch zum Käsen bald in Russlach kaufen, weil die Egenkofener zu mager war.
Seitdem versuchten die Egenkofener verzweifelt, das Himmelskreuz und damit verbunden das Glück zurück zu beschwören. Jeden Tag drei Mal ging eine Prozession bestehend aus allen Egenkofener Männern durch das Dorf und folgte einem an einer Stange schwebenden Kreuz. Dazu murmelte man Gebete und Formeln.
Doch das Kreuz war nie wieder zurückgekommen.
Ich war froh, als die Prozession vorbeigezogen war und ich weiter konnte. Egenkofen war ein trauriger Ort. Schon Oberpfaffing war alles andere als fröhlich. Aber gegen das hier strahlten wir das reine Glück aus.
Das Andreasfeuer
Bericht von Joseph Kiener. Fortsetzung
Bis mittags schaffte ich es fast bis nach Russlach. Vor Betreten des Ortes wollte ich mich noch waschen und frische Kleidung anziehen. Ich ging also vom Weg ab immer dem Rauschen der Pfaffl nach. Ein Wildwechsel führte durch das Unterholz bis ans Ufer. Dort konnte ich mich säubern. Das Wasser war sehr kalt. Barfuß ging ich durch den seichten Bach und hoffte, so den Weg abzukürzen. An einer Furt sah es so aus, als würde ein Pfad vom Ufer in den Wald und dann weiter in Richtung Straße führen. Ein großer moosiger Baumstamm lag quer über den Fluss und ich glaubte, einen Einstieg am runtergetretenen Gras am Bachufer und dem abgerissenen Moos zu erkennen. Vielleicht wieder nur ein Wildwechsel. Aber ich kam zurück ins Trockene, raus aus dem eiskalten Wasser. Nach wenigen Fuß durch Farn und feuchtes Gras öffnete sich eine Lichtung, auf der ich etwas sah, das ich vorher noch nicht gesehen hatte: Ein ungefähr zweimannhoher Pfahl steckte im Boden. Offensichtlich hatte er in der Mitte eines großen Feuers gestanden, denn rings um den Stamm lag noch verkohltes Holz und der Pfosten selbst war ebenfalls rußig schwarz. Die Feuerstelle musste schon uralt sein, denn es roch nicht verbrannt und die Regengüsse und der Schnee vieler Monate oder sogar Jahre hatten von Kohle und Asche kaum noch etwas übrig gelassen. Außerdem war die Feuerstelle bereits stark mit Gras und Farnen eingewachsen und an manchen Stellen vom Gebüsch vollkommen verdeckt. Ich begann langsam um den Pfahl herumzugehen. Auf der anderen Seite sah ich den Wildwechsel, der tiefer in den Wald und hoffentlich wieder auf die Russlacher Straße führte. Vorsichtig schlich ich weiter um die ehemalige Feuerstelle herum. Die verkohlten Stücke sahen seltsam aus. Regelmäßig. Nicht wie Äste mit Rinde und kleinen Zweiglein, eher wie Knochen. Und dann lag da auf einmal ein zerbrochener Schädel. Und noch einer. Und ein dritter. Ich ging schneller. Nur vorbei. Ein vierter Schädel. Ich rannte. Stolperte. Rannte weiter. Bis ich wieder die Straße sah. Ich zitterte vor Angst. »Russlach, Doben, Hinterwald. Russlach, Doben, Hinterwald. Russlach, Doben, Hinterwald …«, sagte ich mir vor, um mich zu beruhigen.
In meiner Vorstellung war Russlach immer so ähnlich wie Rieding gewesen. Viel größer als Oberpfaffing. Mehr wie eine Stadt als ein Dorf. Ein Marktplatz, ein Brunnen, ein großes Amtshaus. Als ich aber bleich und noch immer zitternd in den Ort rannte, kam es mir erst kurz so vor, als sei ich zurück in Oberpfaffing. Oder in einer noch mickrigeren Version von Oberpfaffing. Nur vier oder fünf Ortshäuser an einer schlammigen Straße, eher eine Kapelle als eine Kirche, kein Kramer, kein Bäcker und kein Wirt. Die Häuser waren schmutzig und schon lange nicht mehr geweißelt, die Türen hingen schief in den Angeln und die Viecher schrien hungrig. Die Pfaffl war durch den Regen in den Bergen sehr stark angeschwollen und rauschte laut und kalt durch den Ort. Auf der Straße war kein Mensch. Und man roch auch nicht das übliche Ofenfeuer, das sonst nach einem Regen, gerade im Frühjahr, in der Luft hing. Alles war kalt und leer. Wo waren alle hin? Meine Angst wurde nicht kleiner durch die fehlenden Russlacher. Lange konnten die noch nicht weg sein. Sonst würden die Viecher noch lauter brüllen. Aber warum brannten keine Herdfeuer? Mir war unwohl.
Neben der Kirche sah ich das Amtshaus. Oder vielmehr die Amtshütte. Ich schob die Türe auf und betrat den kalten Raum. Das vertraute Bild einer Amtsstube: Ein Schreibtisch, das fotografische Portrait des Königs, das in allen Amtsstuben hing, Stempel, ein ordentlich unter den Tisch geschobener Stuhl, Siegellack und die dazugehörigen Siegel im verglasten und abgesperrten Kasten, die Brotzeit sauber verpackt im Brotzeitpapier auf der Fensterbank, der leere Huthaken: Eine Amtsstube halt. Ich rief vorsichtig »He«, eine Kuh schrie etwas lauter als vorher. Sonst nichts.
Langsam erholte ich