Die Knochennäherin. Martin Arz
die anderen Überlebenden waren sie stundenlang am Strand herumgeirrt. Stunde um Stunde, auf und ab. Nives, fassungslos und unfähig zu sprechen, allen Blicken ausweichend, jede Begegnung mit anderen Menschen panisch meidend. Fritz, aufgeregt wie ein kleines Kind, alles filmend, alles kommentierend. Er fasste jeden Müll an und las (in seinen Augen) interessante Teile auf, betrachtete diese eingehend und warf sie anschließend wieder weg. Das Ausmaß der Zerstörung schien ihn völlig kaltzulassen. Nives fand keine Worte, um ihre Gefühle auszudrücken. Das viele Laufen, ihr eigenes Gewicht so ungewohnt lange auf den Beinen zu halten, hatte sie komplett ermüdet. Dennoch steuerte sie auf den kleinen roten Elefanten zu, der zwischen den Trümmern zahlloser Strandliegen stand.
»Komm her, kleiner Racker«, sagte sie leise und streckte die Hand aus. Sie betastete seine rote Haut. Es war Farbe, vermutlich Wandfarbe. Er war nicht vollkommen rot, eher wie eine buntscheckige Kuh gefärbt. Nives vermutete, dass das Tier von einem oder mehreren Eimern Farbe getroffen worden war. Vielleicht hatte es vor der Welle in einem Schuppen Zuflucht gesucht, in dem jemand Farbe aufbewahrte. Sicher konnte man es mit Wasser abschrubben. Das Elefäntchen löste sich aus seiner Starre und machte ein paar unsichere Schritte auf Nives zu. Es hob den Rüssel und schlang die Spitze um ihre ausgestreckte Hand. Sie führte das Tier ins flache Wasser. Rings um sie herum fischten Menschen Trümmer aus dem Meer, thailändische Soldaten und ein paar Mönche in orangen Wickelgewändern hatten begonnen, Leichen aus dem Wasser zu bergen. Einige Touristen in quietschbunten Shorts halfen ihnen wortlos. Da, wo vorher die Strandpromenade entlanggeführt hatte, warteten nun zwei Pritschenwagen, auf denen Helfer die Toten stapelten.
Im seichten Wasser stand Nives Marell, die die Umgebung ausblendete und mit bloßen Händen an einem roten Elefäntchen herumschrubbte. Die Farbschicht warf Falten und bekam mit jeder Bewegung des Tiers mehr und mehr Risse, sie ließ sich jedoch nicht richtig abwaschen. Nives hielt inne, weil ihr der Gedanke, der sich in ihr Hirn schlich, so absurd und doch so real vorkam: Alles eine Inszenierung. Hollywood drehte den Katastrophenfilm des Jahrhunderts mit gigantischen Spezialeffekten. Sie hob den Kopf und sah sich um.
Und Action!
Plötzlich kam ihr die Szenerie erträglicher vor.
Irgendwann gab Nives auf, packte das Elefäntchen am Rüssel und zog es zurück zum Strand. Sie sah sich nach Fritz um, der auf einem umgestürzten Palmstrunk saß und ins Display starrte. Er filmte sie, sie hasste ihn dafür und zeigte es ihm, indem sie die Kamera gewaltsam wegdrehte, bevor sie sich erschöpft neben ihm niederließ.
Unvermittelt sagte Fritz: »Wow, was für ein grandioses Schauspiel! Was für eine Inszenierung!«
Nives schlug ihm wortlos ins Gesicht. Einmal, zweimal. Der Elefant nickte mit dem Kopf.
»Du verstehst wieder mal gar nichts!«, schrie er sie an und rieb sich die Wange. »Weißt du, was Stockhausen gesagt hat, als er die Bilder vom 11. September im Fernsehen gesehen hatte? ›Was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.‹ «
»Diesen bodenlosen Unsinn kannst du auswendig referieren?« Nives konnte und wollte diese Art des Denkens nicht begreifen. Nur Fritz, der hatte sich schon damals mit Verve auf die Seite Stockhausens gestellt. Zum Glück geschah dies in einer Zeit, als die Medien sich für Fritz Roloff kaum noch interessiert hatten, als seine Karriere nach zwei grandiosen, millionenschweren Flops am Ende schien.
»Das ist kein Unsinn! Nur weil die Welt aus lauter Debilen besteht, die nichts kapieren, die keinen Sinn für die Schönheit der Katastrophe haben, ist es noch lange kein Unsinn. Der Anschlag auf das World Trade Center war das größte Kunstwerk aller Zeiten – bis das hier passierte!« Er machte eine weit ausholende Geste. »Und ich bin dabei! Was für eine Inszenierung!«
»Ich möchte mit dir diesen hanebüchenen Blödsinn nicht ernsthaft diskutieren«, sagte Nives leise und bestimmt. »Ein Ton mehr und ich bin weg. Für immer.« Sie schrubbte dem Elefäntchen kräftig über den Rüssel und pulte mit den Fingernägeln etwas Farbe ab.
Zu ihrer Überraschung schwieg er tatsächlich und sah sich zum x-ten Mal die Welle an, die seinen Doppelgänger verschlungen hatte. Stop, rewind, play, stop, rewind, play …
»Was, wenn ich das da wäre«, fragte er dann wie nebenbei und kratzte sich am Bart. »Was, wenn ich tot wäre?«
»Du bist es aber nicht.« Nives seufzte.
»Man würde es glauben, wenn man diese Bilder hier sehen würde. Stell dir mal vor, ich könnte abtauchen. Untertauchen. Eine neue Existenz aufbauen. Den Beweis für meinen Tod könnte man …«
»Hör auf!«, rief sie. »Bist du so krank? Warst du schon immer so krank?!«
»Nur so als Spaß, verstehst du nicht, Maus? Für eine Woche oder zwei. Du zeigst den Film. Lass mich tot sein. Und dann tauche ich wieder auf. Was für eine Publicity für unseren nächsten Film! Wahnsinn, das ist überhaupt die Idee! Wenn im März die Dreharbeiten beginnen, haben wir im Vorfeld jede Menge Medienpräsenz. Du machst den Anfang und trauerst öffentlichkeitswirksam um mich …« Er brach ab und setzte sich seine Sonnenbrille auf. »Was ist das denn für ein Elefant?«
Nives starrte ihn an. Die Frage, ob sie ihn liebte, fiel ihr wieder ein. Nun wusste sie die Antwort.
»Das öffentliche Trauern für die Kameras kann Viola sicher besser als ich«, sagte sie dann kühl. Sein neuer Film! Sie könnte wieder die Wände hochgehen. Nach Jahren hatte er endlich einen Produzenten gefunden, der das Wagnis eingehen wollte, einen neuen Fritz Roloff-Film zu finanzieren. Nach den letzten Roloff-Flops grenzte das an ein Wunder. Und Nives Marell sollte wie in guten alten Zeiten die Hauptrolle spielen. Und ganz wie in alten Zeiten sollte sie auch mindestens eine Nacktszene sowie eine Bettszene haben. Sie, als fette alte Frau. Ihre Proteste waren ungehört verhallt.
»Schau dir Altmanns ›Prêt-à-porter‹ an«, hatte Fritz sie angeschnauzt. »Da haben Sophia Loren und Marcello Mastroianni eine zischend heiße Bettszene. Okay, Marcello schläft dabei ein, aber Sophia ist sensationell. Sie ist sechzig, und es ist keine Sekunde lächerlich!«
»Sophia Loren ist auch kein Wal!«, hatte sie zurückgegiftet.
»Vielleicht sollte ich Sophia fragen, ob sie die Rolle spielen will.«
»Bitte! Nur zu.«
Seit Fritz den Produzenten gefunden hatte – eben erst zwei Monate her –, hatte Nives mit einer heimlichen Abmagerungskur begonnen. Sie wollte nicht als nackter Freak auftreten, also hungerte sie so, dass er es nicht merkte, denn er wollte die Freakshow. Ein schwieriges Unterfangen, aber immerhin hatte sie schon fünf Kilo geschafft. Noch fiel es niemandem außer ihr auf.
Ein älterer Mann mit beiger Shorts und labbrigem weißen Unterhemd, das am Bauch spannte und gleichzeitig die schlaffe Brust freiließ, blieb stehen und starrte Nives an. Dann schwirrte sein Blick zu dem ziegelroten Elefäntchen und wieder zurück. Er näherte sich zögernd und lächelte. An der linken Hand zerrte er einen kleinen Thaijungen hinter sich her. Das Kind, das höchsten zehn Jahre alt sein mochte, blickte mit toten Augen auf seine Füße, dann in Nives’ Augen, dann wieder auf die Füße.
»You are Nives Marell, right?«, fragte der Mann mit leiser Stimme. Er sagte »Näivis Märell«.
Nives nickte.
»I’m Geoff from Boston. I recognized your eyes! Your beautiful eyes.« Der Mann strahlte und schüttelte ihre Hand mit beiden Händen, dabei ließ er den Thaiboy nicht los. Er zerdrückte fast die Hand des Knaben zwischen seiner und Nives’. Nives spürte die zarte Kinderhaut auf ihrem Handrücken und fühlte sich unangenehm berührt.
Ihre Augen. Die berühmten türkisen Katzenaugen der Nives Marell – früher hatte man sie deswegen mit der jungen Simone Signoret verglichen.
»I’m your biggest fan! Really, believe me.« Geoff aus Boston strahlte sie an. »I’ve seen all your movies, all of them. All, all. Even those old German ones. I’m your biggest fan. Never dared to dream meeting you … specially in this … this dramatic circumstances …«