Die Knochennäherin. Martin Arz

Die Knochennäherin - Martin Arz


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Vater hinüber, der zusammengesunken am Küchentisch saß und das Gesicht in den Händen vergraben hielt.

      »Papa?!«, rief die junge Frau.

      »Du hast deine Mutter gehört«, kam nach einer schieren Ewigkeit die gebrochene Stimme zwischen den Fingern hervor. »Du … Ich kann nichts mehr für dich tun.«

      »Papa?!«, wiederholte sie mit weit aufgerissenen Augen und streckte die Hand in Richtung Küchentisch. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber auf den staubigen Holzboden. Eine Wolke kleiner Partikelchen stob auf und tanzte irrwitzig im grellen Licht der Deckenbeleuchtung. Die Frau trug nur ein langes, grünlich-verwaschenes T-Shirt, das um ihren mageren Körper schlabberte, sowie eine hautfarbene Strumpfhose.

      Die Mutter sah kurz zu ihr hinüber. Sie zog sich einen der einfachen Holzstühle heran und ließ sich schwer darauf fallen. Der Stuhl knarzte unter ihrem Gewicht. Sie musste dringend noch mehr abnehmen, schoss ihr durch den Kopf. Wenn sie wollte, konnte sie sehr diszipliniert sein. Es machte ihr sogar Spaß, jeden Morgen auf der Waage zu kontrollieren, wie die Pfunde purzelten. Zwar brach sie nun nicht mehr bei jeder Bewegung in Schweiß aus, doch es reichte noch nicht. Sie musste unbedingt die Achtzig knacken. Sie wollte wieder wer sein!

      Und sie hatte die Chance dazu. Sie blendete die Szenerie um sich herum komplett aus. Sie wusste, dass er dort irgendwo im Verborgenen saß und alles beobachtete. Und sie wusste, dass er vermutlich schon längst betrunken war, wie immer um diese Uhrzeit. Sie meinte sogar, seine Fahne bis hierher riechen zu können. Seine Bier-Jägermeister-Fahne und diesen unangenehmen säuerlichen Körpergeruch, den er ausdünstete. Sie musste sich endlich etwas einfallen lassen. Es durfte einfach nicht sein, dass er sich weiterhin in ihrem Leben breitmachen konnte. Sie musste … – sich zusammenreißen! Sie öffnete die Augen und horchte auf das Keuchen der Tochter, die sich auf dem Dielenboden wand.

      Konzentriere dich, dumme Kuh, schalt sie sich. Versau nicht diese Chance.

      Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Vater zuckte zusammen und blickte endlich auf.

      Die Tochter hustete am Boden und wälzte sich auf den Rücken. »Er hat gesagt, dass er mich heiratet«, stammelte sie schwach.

      »Hat er das?« Die Stimme der Mutter schnitt messerscharf durch den Raum. »Nun nicht mehr! Schau an, was er aus dir gemacht hat!«

      »Nein.« Die junge Frau am Boden bäumte sich auf. »Nein, das hast du aus mir gemacht. Du allein!«

      »Meine Tochter eine Hure, die sich von einem dahergelaufenen Kanaken schwängern lässt. Was habe ich zum Heiligen Zachäus von Palmyra gebetet!« Die dicke Frau faltete so energisch ihre Hände, als wollte sie Kartoffeln zerquetschen, nicht beten, dann erhob sie sich schwerfällig und griff sich an die Brust.

      »Meine Tochter, das Türkenliebchen! Meine Tochter …« Sie brach ab. Ihr Blick schweifte durch den Raum, sie ließ die Arme schlaff hängen und begann leicht zu zittern. Sie fuhr sich mit der Rechten über das Gesicht. Als hätte sie einen Schleier weggezogen oder eine dicke Make-up-Schicht abgewischt, veränderte sich ihr Ausdruck schlagartig. Alle Härte wich aus ihren Zügen. Die Augen, eben noch türkiskalte Eisschollen, füllten sich mit Tränen und flammten warm auf. Ihr ohnehin sehr blasser Teint schien in Sekundenschnelle alle Reste von Farbe zu verlieren, schimmerte zartweiß, fast transparent wie die Oberfläche einer kostbaren Porzellanpuppe. Ihre Lippen, eben noch schmal zusammengepresst, entspannten sich und erblühten zu einer sinnlichen Knospe. Nun konnte man nicht nur erahnen, dass diese Frau einmal wunderschön gewesen war – man sah, dass sie es immer noch war.

      »Ich …«, stammelte sie und sank neben der Tochter auf die Knie, »ich … will dich nicht verlieren, hörst du? Die Schande … mein einziges Kind …«

      Die Worte sprudelten aus ihr heraus. Sie beugte sich vor und schlang vorsichtig die Arme um die junge Frau. Sie hob die Sterbende ein wenig an, zog sie auf ihren Schoß und wiegte sie leicht hin und her. Dabei verrutschte das lange T-Shirt der Tochter und gab ihren Unterleib frei. Blut rann die Schenkel herunter.

      »Mein Kind«, flüsterte die Tochter. »Weg. Ausgeblutet.«

      »Mein Gott!« Der Vater sprang auf und gab ein herbes Schluchzen von sich. »Ich kann das nicht mehr mit ansehen!«

      »Ich auch nicht!«, mischte sich eine weitere männliche Stimme barsch ein.

      Viola richtete sich seufzend auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nives und Werner beschirmten sich die Augen mit den Händen gegen das gleißende Licht und versuchten, im Dunkeln des weiten Raums hinter dem Licht etwas zu erkennen.

      »Ich kann das auch nicht mehr sehen«, wiederholte die Stimme resigniert.

      Viola erhob sich, strich das schlabberige T-Shirt zurecht und half dann der dicken Nives auf die Beine.

      »Was ist nun schon wieder?«, fragte Werner ungeduldig. »Und würdest du bitte irgendwo ins Licht kommen, damit wir dich sehen können? Das Probelicht ist einfach scheiße. Blendet total.«

      »Viola, du chargierst, du outrierst! Ich dachte, das hätten wir bereits ausdiskutiert. Das ist irgendwie echt … too much. Nives … brillant. Ehrlich, ich war … Gänsehaut. Echt. Gänsehaut! Du hast mir richtig Angst gemacht. Behalte das bitte bei! Viola, Süße, vielleicht hilft es dir, wenn du dir noch mal den Film mit Nives anschaust, wie sie damals die Rolle der Tochter angelegt hat.« Der Sprecher näherte sich, endlich konnten die drei auf der Bühne ihren Regisseur Hannes Wachsmuth sehen. Der großgewachsene, schlaksige Mann mit der schlechten Haltung strich sich durch die dichten, halblangen weißgrauen Haare und nahm seine Brille ab. Er wirkte müde.

      Viola Bruhns verdrehte die Augen. »Wozu soll ich mir diesen Film mit Nives ansehen? ICH spiele die Tochter! Ich kann es nicht mehr hören, Hannes. Wirklich! Die große Nives Marell, unsere Frau in Hollywood. Wann war das noch einmal? Entschuldige, Nives, Schätzchen, du weißt, dass ich dich und deine Arbeit … nun … brillant, zweifelsohne, Hannes hat absolut recht … Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, du hast die Rolle der Tochter in der Verfilmung von ›Kanakenbraut‹ ganz eigen angelegt, ganz speziell … Aber damals, als du die Rolle gespielt hast … ich meine, da … « Sie machte eine viel- und gleichzeitig nichtssagende Handbewegung und ließ den Satz unvollendet.

      »Da wog ich eine Tonne weniger, wolltest du sagen?« Nives Marell sah ihrer Kollegin offen in die Augen. »Sicher, Viola, Liebes. Aber ich habe die Bundesfilmpreise, den César und den Goldenen Löwen von Venedig damals nicht wegen meiner Figur bekommen. Ich habe die Tochter übrigens nicht nur im Film, sondern auch in der Theaterfassung gespielt …«

      »Das wissen wir alle.« Viola Bruhns lächelte falsch. »Unter Fritz Roloff persönlich!«

      »Zickenalarm«, seufzte Werner Androsch, der den Vater spielte, und setzte sich auf die Tischkante. Mit beiden Händen fuhr er erst über sein Gesicht, dann über seine schütteren, nach hinten pomadisierten Haare.

      »Habe ich ein Wort über ihr Gewicht verloren?« Viola sah sich um, suchte Augenkontakt mit ihren Kollegen. Alle wichen ihrem Blick aus. »Ein Wort, Hannes? Werner?«

      »Lass mich da raus!«, antwortete der Schauspieler und stierte auf seine Schuhe.

      »Wenigstens war ich damals, als ich die Tochter spielte, tatsächlich im glaubwürdigen Tochteralter«, sagte Nives Marell.

      »Wie bitte?«, fuhr Viola hoch. »Nives, meine Liebe, auch wenn du es nicht wahrhaben willst, ich könnte tatsächlich deine Tochter sein.«

      »Könnte«, seufzte Nives. »Gott sei Dank nur könnte!«

      »Können wir uns wieder konzentrieren«, ging der Regisseur Hannes Wachsmuth mit lauter Stimme dazwischen. An seiner Autorität gab es keine Zweifel, schließlich war er nicht nur Regisseur dieser Inszenierung, sondern auch Intendant des Theaters. »Viola, Süße, du …«

      »Ich habe mit keinem Wort ihr Gewicht erwähnt, Hannes!« Violas Stimme bekam etwas Mädchenhaftes, Einschmeichelndes.

      »Nein, sicher, hast du nicht.« Hannes Wachsmuth ließ die Schultern


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