Die Knochennäherin. Martin Arz

Die Knochennäherin - Martin Arz


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Villen gebaut und genossen die ländliche Idylle einen Katzensprung vor den Toren Münchens. Bei der Fahrt in den Ort war Pfeffer die Armada von nicht geländefähigen Geländewagen deutscher und skandinavischer Luxusautobauer aufgefallen, die an der Straße und vor den Supermärkten parkte.

      Pfeffer riss seinen Blick von der eingerüsteten Wallfahrtskirche los, die hinter den Obstbaumwipfeln sichtbar war. Sie thronte auf dem Hügel hinter der meterhohen natursteinernen Friedhofsmauer. Pfeffer trat an den Rand des Grabens und blickte hinunter. Zwei Köpfe tauchten auf, dann richteten sich die beiden Personen im Graben ganz auf.

      »Nichts«, sagte Rechtsmedizinerin Doktor Gerda Pettenkofer. »Ich habe wirklich nichts mehr gesehen.« Sie streckte Pfeffer ihre beiden Hände entgegen, damit er sie herausziehen konnte. Der Graben war zwar nur ungefähr hüfttief, doch Gerda Pettenkofer folgte der Devise, dass Sport Mord sei und hatte Essen zu ihrem Hobby erklärt. Allein würde sie es nie herausschaffen.

      »Gerda in der Grube«, sang Max Pfeffer leise zu der Melodie von »Häschen in der Grube« und half ihr aus dem Graben. Ihre dünnen Einmalhandschuhe quietschten leise.

      »Du, mein starker Held«, schnaufte die Medizinerin. »Also, ich glaube nicht, dass wir da drin weitere Knochen oder sonstige Hinweise finden werden.« Sie klopfte sich etwas Erde von der Hose. »Sie, Doktor Keppler?«

      »Nein«, antwortete der magere grauhaarige Mann mit den schlecht sitzenden Kakihosen und dem rostfarbenen Rollkragenpullover, der nun behände aus dem Graben kletterte. Er mochte um die fünfzig Jahre alt sein. Sein fransiger, kleiner Schnurrbart war vom Rauchen vergilbt. Auf dem Kopf trug er eine billige, verblasste rote Baseballkappe, auf der in schmutzig gelben Lettern ›MacGyver‹ stand. »Nein, ich bin auch sicher, dass wir alles haben.«

      Die Rechtsmedizinerin zündete sich eine Zigarette an. Sie bot Pfeffer einer alten Gewohnheit folgend auch eine an und murmelte dann: »Ach, du rauchst ja nicht mehr.« Doch zu ihrer Überraschung nahm er an. »Doch wieder?«, fragte sie mit aufgerissenen Augen.

      »Ja. Frag nicht. Es passierte einfach so.«

      »Das hast du auch damals behauptet, als du einfach so aufgehört hast. Nichts passiert einfach so.«

      »Doch. Ich rauche wieder seit zwei Monaten. Einfach so. Weil ich eines Morgens Lust drauf hatte. Übrigens – diesmal nicht heimlich. Wir haben uns auf fünf am Tag geeinigt, und ich kann es einhalten. Kein Problem.« Pfeffer inhalierte und konzentrierte sich auf den beißenden Zigarettenqualm in seinem Rachen, denn er fand, dass der Mann, der aus dem Graben gestiegen war, höchst unangenehm roch. Er schwoaßelte nicht, wie man auf Bayrisch über einen ungepflegten, nach altem Schweiß riechenden Menschen sagte – das wäre zu harmlos gewesen. Er stank. Nach wochenlang getragener Unterwäsche und Seifenallergie, einfach nach Stink.

      Kommissarin Annabella Scholz gesellte sich zu der Gruppe. »Das sind vielleicht zwei Herzchen.« Sie deutete zu den beiden Blaumännern und verdrehte die Augen.

      »So, Frau Doktor«, sagte Pfeffer, »erzählen Sie doch bitte mal, was wir wissen sollten.«

      »Darf ich erst einmal Doktor Jens-Uwe Keppler vom Landesamt für Denkmalpflege vorstellen?« Man schüttelte sich die Hände. »Okay, folgendes Szenario: Unsere beiden Blaumänner dort graben einen Graben, heben mit der Schaufel schön Kubikmeter für Kubikmeter Erde heraus und häufeln sie neben dem Graben auf, denn der Graben soll ja später wieder zugeschüttet werden. Da plötzlich fällt dem Baggerführer auf, dass mit dem letzten Aushub nicht nur Steine und Erde aus der Schaufel fallen, sondern auch ein Knochen. Er denkt sich noch nichts dabei. Könnte ja auch von einer Kuh sein. Doch zwei Schaufelstiche später ist ein Schädel dabei, der eindeutig keiner Kuh zuzuordnen wäre. Nun denkt sich der Mann: Holla, da sollte ich mal zu baggern aufhören und die Polizei anrufen. Voilà, da sind wir.«

      »Du solltest Polizeireporterin werden«, sagte Pfeffer. »So packend, wie du erzählst.«

      »Spotte nur, Maximilian Pfeffer. Kurz gesagt, wenn der Gute etwas früher aufgehört hätte zu baggern, dann hätten wir auf jeden Fall mehr in der Hand. Aber so! Er hat ganz eindeutig ein komplettes menschliches Skelett aus der Erde geholt und schön verstreut.« Sie deutete hinüber auf die Wiese, wo auf einer schwarzen Plastikplane ein Skelett lag. »Die Kollegen von der Spurensicherung haben alles durchwühlt und jeden Knochen dort zusammengetragen. Ich habe mal grob die natürliche Lage nachgelegt und nachgezählt, es dürfte alles da sein. Es scheint komplett. Ohne Gewähr. Und nun die große Rätselfrage!« Sie zeigte auf das Becken. »Wir haben: schmaler Beckeneingang, kräftige Schambeine, schmale Einbuchtung zwischen der hinteren Sitz- und Darmbeinkante.« Ihr Zeigefinger wanderte zum Schädel. »Recht vorstehende Brauenwülste, stumpfe Orbitalränder und große Knochenleisten …« Sie brach ab und sah Pfeffer auffordern an. »Was schließen wir daraus?«

      »Alles klar.« Pfeffer tat so, als wüsste er Bescheid. Männlein oder Weiblein. Seine Chancen standen fifty-fifty. »Also ein Bilderbuchmann.«

      »Treffer, Pfeffer. Ein Mann. Außerdem nicht sehr groß, vielleicht um die einssechzig bis einsfünfundsechzig. Nach dem Zustand der Schambeinfugen würde ich sagen, dass er zwischen dreißig und vierzig Jahre alt gewesen sein dürfte. Aber da lege ich mich noch nicht fest. Da das Skelett komplett scheint, hat es meiner Meinung nach also wenig bis keinen Sinn, wenn die Kollegen nun noch das Loch weiter ausgraben und weitersuchen. Zumal es so scheint, als wärt ihr ganz umsonst gekommen, Maxl.«

      »Wieso?«

      »Nun, mir kam gleich ein Verdacht. Darum habe ich den Staatsanwalt gebeten, Doktor Keppler zu informieren. Wir erinnern uns? Er ist vom Landesamt für Denkmalpflege. Normalerweise schicken die bei solchen Funden einfach einen Grabungsleiter oder Grabungstechniker, doch Doktor Keppler ist sogar Archäologe.«

      »Wir leiden momentan unter Personalmangel«, mischte sich nun der Archäologe ein, während er eine Pfeife stopfte. »Außerdem lebe ich hier in Zacherlkirchen, da lag es nahe, dass ich vorbeischaue. Frau Doktor Pettenkofer war so freundlich, mich rufen zu lassen, denn allem Anschein nach haben wir es hier mit keinem aktuellen Todesfall zu tun.« Er deutete auf die Grabenführung. »Sehen Sie, der Bagger hat das komplette Skelett ausgehoben. Ein Zufall, sicherlich, der jedoch gut zu meinem Verdacht passt. Wenn es sich um eine normale Bestattung gehandelt hätte, wäre die Leiche ausgestreckt in der Erde gelegen, ein kompletter Aushub wie dieser wäre also ein sehr, sehr großer Zufall. Praktisch unmöglich. Doch die Schaufel hat mit nur wenigen Bewegungen das komplette Skelett ausgehoben. Meiner Ansicht nach handelt es sich hier eindeutig um eine Sekundärbestattung. Die Knochen wurden als kleines Bündel arrangiert und dann in einem flächenmäßig recht kleinen Grab beigesetzt. Es gibt keine Spuren an den Knochen, zumindest soweit wir das bisher beurteilen konnten. Außerdem keine Beigaben, keine Kleidung, kein Schmuck, nichts. Erstaunlicherweise ist das Gebiss fast komplett, nur der obere linke Schneidezahn fehlt, dafür haben fast alle Backenzähne Karieslöcher. Weder Plomben, noch Kronen oder Füllungen. Nichts.« Er steckte sich die Pfeife in den Mund und zündete sie umständlich mit einem silbernen Feuerzeug an.

      »Auch keinerlei Gewebeanhaftungen, keine Hautreste, Fleisch oder Ähnliches«, ergänzte die Rechtsmedizinerin. »Alles weg.«

      »Der Tote wurde schon einmal woanders begraben, ausgegraben und dann wieder hier beigesetzt?«, fragte Annabella Scholz und notierte etwas auf ihrem Block.

      »Höchstwahrscheinlich bis sicher«, antwortete Doktor Keppler. »Nun macht das Fehlen jeglicher Kleidung, jeglicher Beigaben eine Zuordnung und vor allem eine Altersbestimmung wahnsinnig schwer. Außerdem hat der Bagger zwar die Erdschichten freigelegt …« Er deutete in den Graben. »Doch wir wissen bekanntlich nicht, in welcher Schicht die Knochen lagen. Wir können daher auch nicht nachvollziehen, ob jemand erst kürzlich eine Grube ausgehoben hat. Der Bagger hat für meine Arbeit zu großen Schaden angerichtet. Außerdem ist die Fundstelle ausgerechnet ein Gemüsebeet.« Er bückte sich und hob eine verschrumpelte Karotte hoch. »Offenbar gelbe Rüben. Da sind die obersten Schichten vermutlich eh oft umgegraben worden. Dazu noch der Bach da hinten, die Laff. Die hat in den letzten zehn Jahren viermal starkes Hochwasser geführt, da war alles bis fast an die Häuser heran überflutet. Da wurden sicher Erdschichten abgetragen oder angeschwemmt. Sie sehen, gar nicht so einfach. Doktor


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