Die Knochennäherin. Martin Arz
dem aktuellen Wind richtete – kurz ein idealer Lokalpolitiker. Noch dazu nicht von der Staatspartei, sondern von den Freien Wählern. Außerdem hatten sie mal, als sie vierzehn und er siebzehn war, bei einem Dorffest ein klein wenig geknutscht. Seitdem nannte er sie ›Schneck‹. Später ging er dann dazu über, alle Frauen im Ort, die nicht älter als er selbst waren, ›Schneck‹ zu nennen. So konnte er nicht durcheinander kommen, bei den vielen, mit denen zumindest rumgeknutscht hatte. Fast alle nannten ihn Bäri, nicht nur wegen seiner Erscheinung, sondern weil er mit Nachnamen Baeringer hieß.
Was der Bürgermeister ihr damals bereits anvertraute, war, dass der Gemeinderat beschlossen hatte, Zacherlkirchen ins 21. Jahrhundert zu katapultieren, mit Breitbandinternet und Glasfaser und allem, was dazugehörte. Jedenfalls waren diese Schlagworte nur so aus ihm herausgepurzelt.
Da sie keine Ahnung von solchen technischen Finessen hatte, musste sie ihm glauben. Aus irgendeinem Grund war es also nötig, einen Graben von der Ortseinfahrt bis zur Kirche zu ziehen. Hintenrum, quer durch die Gärten, nicht vorne an der Straße. Denn wie sähe das denn aus, wenn die Pilger kommen, ohnehin schon schlimm genug, dass die Kirche gerade eingerüstet war – und dann die Unfallgefahr! Außerdem gäbe es da schon eine Trasse mit Kanalisation und anderen Versorgungsleitungen. Zudem sei eine Kanalsanierung dringend erforderlich. Also zwei gute Gründe zum Graben.
»Weißt, Schneck«, erklärte der Bürgermeister, »die anderen Anrainer haben schon zugestimmt, dass wir hintenrum graben. Da müssen wir nur durch sieben Gärten. Vorne an der Straße wäre das viel zu teuer. Ich wollt es dir nur jetzt schon sagen, bevor du den offiziellen Brief bekommst.«
»Die andern Anrainer, wie du es nennst, sind bis auf mich alles deine Verwandtschaft, Bäri«, entgegnete sie ohne aufzusehen.
»Das kann man so oder so sehen.«
»Das kann man nur so sehen. Ich habe also eh keine Wahl, oder?«
»Komm, Schneck, tu nicht so, als würd ich von dir was Unmögliches verlangen. Es wird anschließend alles wieder in den Originalzustand versetzt.«
»Wie schön.« Nives Marell schob sich eine Gabel voll Blaukraut in den Mund und kaute langsam. »Hat es einen Sinn, wenn ich dich daran erinnere, dass ich einer der größten Steuerzahler dieser Gemeinde bin? Ach, was heißt einer der größten. Die Größte.«
»Eben drum, Schneck. Eben darum informiere ich dich ganz persönlich vorweg auf dem kleinen Dienstweg. Du bist für unsere Gemeinde unentbehrlich. Es soll natürlich dein Schaden nicht sein. Weißt ja, wenn du mich mal brauchst …« Er ließ den Satz im Raum stehen.
»Ich bin nicht ganz blöd«, sagte Nives Marell. »Wenn ihr hinten in den Gärten aufgrabt, heißt das, dass die Felder jenseits des Bachs nun doch Bauerwartungsland geworden sind, oder?«
»Schneck«, flüsterte der Bürgermeister mit aufgerissenen Augen. »Das hat an der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Noch ist nichts beschlossen! Der Gemeinderat hat vorerst nur der Erneuerung der Kanalisation für die Kirchengebäude und der Verlegung der Glasfaserkabel zugestimmt. Alles andere ist Zukunftsmusik …«
»Die Bebauung hinter der Kirche und jenseits des Bachs ist verboten.«
»Das ist eine Bestimmung von 1864, Schneck. Und ich sage dir doch, dass noch nichts beschlossen ist.«
»Ich werde also bald keinen freien Blick mehr über die Felder haben, die im Wesentlichen dir gehören, Bäri, oder?«
»Ach, Schneck! Alles ist offen.«
»Das ist schön. Gut, grabt, aber das letzte Wort dazu haben wir noch nicht gesprochen.«
»Prost, Schneck, trink ma noch a Hoibe auf meine Rechnung.«
Sie trank noch eine Halbe, ihre letzte seither, denn am andern Morgen kam die Anfrage des Residenztheaters, ob sie in der Jubiläumsinszenierung der »Kanakenbraut« die Rolle der Mutter spielen wollte. Natürlich wollte sie und begann sofort mit ihrer Abnehmkur. Nach ihrer Rückkehr aus Thailand hatte sie zwar ein wenig Gewicht verloren. Aber sie hatte sich nicht wirklich bemüht, es schien ihr völlig sinnlos. Im Gegenteil, der JoJo-Effekt setzte ein, und sie nahm wieder zu. Doch nun war alles anders. Wochen später, als dann der offizielle Brief der Gemeinde kam, dass man für das neue Glasfaserkabel die hinteren Gärten und Wiesen von der Ortseinfahrt bis zum Pfarrhaus aufgraben müsse, war sie schon sechzehn Kilo leichter, als die Grabungsarbeiten endlich begannen, sogar neunundvierzig. Von hundertsechsundvierzig auf siebenundneunzig. Noch mindestens fünfzehn sollten folgen, dann wäre sie wieder annähernd bei ihrem Wohlfühlgewicht. Nives, der Barockengel.
Die Diva setzte sich auf die Teakbank neben dem dunkelroten Oleander und schlürfte Hibiskustee. Es wurde kühl. Der nahe Bach brachte etwas Feuchtigkeit.
Was für ein herrlicher Herbsttag, dachte sie, zog den Kragen ihrer Strickjacke hoch und ließ den Blick über den Bach schweifen. Die begrenzende Hecke hatte bei den letzten Hochwassern arg gelitten. Auch der Bagger und die ausgehobenen Erdhäufchen bremsten den Blick. Sie lächelte gedankenverloren.
Die Polizisten hatten das Skelett und die Funde, die auf der gelben Folie lagen, eingepackt und mitgenommen. Ein rot-weißes Absperrband, an vier Pflöcken weiträumig um die Fundstelle befestigt, schwankte ein wenig im Abendwind. Weil es schon dunkel wurde, hatte die Spurensicherung die Arbeit eingestellt. Man hatte sie wissen lassen, dass man morgen weitermachen würde. Morgen, so hatte man ihr ausgerichtet, wolle man sie zudem zu dieser Sekundärbestattung vernehmen. Das Wort Sekundärbestattung hatte es Nives angetan. Man bat sie, ins Präsidium zu kommen. Der Herr Kriminalrat Maximilian Pfeffer würde sich darum kümmern.
Soll er mal, der Herr Kriminalrat Maximilian Pfeffer, dachte sie. Netter Nachname. Ob er auch selbigen im Hintern hat?
Als sich hinter ihr Schritte näherten, drehte sie sich nicht um. Sie wartete, bis er sanft seinen Arm um ihre Schulter legte und sich herabbeugte, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.
»Hallo, mein Schatz«, sagte Nives und wandte sich ihm zu, damit sie dem jungen Mann ins Gesicht sehen konnte. Sie streichelte zärtlich seinen Arm. »Anstrengenden Tag gehabt?«
»Geht so«, antwortete er mit seinem schwer verständlichen Tonfall, dem die Sprachmelodie fehlte. Oft betonte er Silben falsch oder vernuschelte etwas, doch Nives bewunderte ihren Sohn, der beinahe taub, nur mit minimalem Restgehör geboren wurde und sich das Sprechen mühsam angeeignet hatte. »Heute haben sich Sepp und Sebastian gewaltig in die Wolle gekriegt.« Er setzte sich neben sie auf die Bank und sah sie dabei unverwandt an. »Sepp war wie üblich blau und wollte wie üblich blaumachen und hat irgendeine Krankheit vorgeschoben. Asozialer Schmarotzer, der.«
Mutter und Sohn lachten. Wenn er auch sonst nicht viel von ihr geerbt hatte, denn Rocco war ein langer Schlaks, so ließen doch die türkisen Katzenaugen keinen Zweifel über ihre Verwandtschaft.
»Wenn du was essen willst«, sagte Nives, immer darauf bedacht, dass ihr Sohn problemlos ihre Lippen erkennen konnte, »im Kühlschrank ist noch ein wenig Auflauf von gestern. Ich habe in der Kantine eine Kleinigkeit gegessen und bin restlos satt.«
»Bald sieht man dich gar nicht mehr, so hast du schon abgenommen, Mama. Wie waren die Proben?«
»Anstrengend. Hannes hat keine wirklich zündenden Regieideen, Werner ist absolut nicht textsicher und Viola hält sich für göttinnengleich. Lass uns lieber ein andermal darüber reden, sonst bekomme ich Kopfweh.«
»Okay.« Rocco deutete in die Dunkelheit, in der das Absperrband zu erahnen war. »Was ist denn da los?«
Nives berichtete ihrem Sohn von dem Skelettfund und der Polizeiaktion.
»Und jetzt?«, fragte er und sah sie ernst an.
»Wie und jetzt?« Nives zuckte bemüht gleichgültig mit den Schultern. »Nichts. Überlass der Polizei nur ihre Arbeit.«
»Hast du keine Angst?«
»Ich? Warum sollte ich Angst haben?« Sie sah ihren Sohn überrascht an.
»Warum nicht?« Rocco runzelte die Stirn. »Jemand hat eine Leiche in unserem Garten