Die Knochennäherin. Martin Arz
Kolonien – von Java über Surinam bis Ghana – vorweisen konnte, knöpfte langsam Pfeffers Hemd auf. Sein Kupferteint schimmerte im Halbdunkel. Auf der Nase tanzten dunkle Sommersprossen. Er ließ die Hände tiefer gleiten. »Und um die gute alte Mae West zu zitieren: Is that a gun in your pocket or are you just glad to see me?«
»Beides«, sagte Pfeffer heiser und hielt Tims Hände fest. Dabei streichelte er zärtlich über den kleinen Stumpf an der Stelle der rechten Hand, wo einst Tims Ringfinger war. Der fehlende Finger blieb für alle Zeiten eine Erinnerung an die grausame Entführung, die Tim im vergangenen Jahr nur knapp überlebt hatte. Jene Horrortage, die Tim in einem dunklen Verließ verbringen musste, dem er nur entkommen konnte, indem er einen Menschen tötete. Einen geisteskranken Psychopathen zwar, doch Tim kam noch immer nicht darüber hinweg, dass er einen Menschen auf dem Gewissen hatte. Einen positiven Nebeneffekt jedoch hatte die Tragödie: Es hatte Tim finanziell nicht geschadet. Der freiberufliche Coach, der für große Unternehmen hauptsächlich Konfliktlösungsseminare hielt oder als Monitoring-Experte arbeitete, schrieb seitdem für verschiedene Verlage populärwissenschaftliche Bücher zum Thema Coaching, Selbstmotivation und Konfliktlösung. »Tschakka-Schwarten« nannte Tim sie. Dadurch konnte er mehr Zeit zu Hause verbringen – zumindest solange ihn die Verlage nicht auf Lesereisen oder Vortragstouren schickten. Und auch für das Privatleben hatten sich Vorteile aus dem Horror ergeben: Seitdem war nicht nur die einst kriselnde Beziehung gekittet, seitdem hatten sie auch wieder ein funktionierendes Sexleben.
»Nicht so schnell«, flüsterte Pfeffer. »Lass mich erst duschen. Ich bin unrasiert und ziemlich verschwitzt.«
»Du weißt immer noch, wie du mich auf Touren bringen kannst. Du wirst gleich erleben, was verschwitzt heißt!« Tim riss ihm regelrecht die Kleider vom Leib. »Duschen können wir nachher zusammen.«
Später, als sie schwer atmend auf dem Wohnzimmerteppich lagen und in wohligem Dämmern eng umschlungen vor sich hinträumten, hob Tim träge seinen Kopf von Pfeffers Brust und fragte: »Willst du rauchen?«
»Graag.« Pfeffer brauchte nicht lange zu überlegen, was »gerne« auf Niederländisch heißt, es war eines der ersten Worte, das er gelernt hatte.
»Goed, wacht even, ik haal iets.« Tim stand auf und ging ins Nebenzimmer.
Aus den versteckt angebrachten Lautsprecherboxen jazzte Keiko Lee rauchig ›You’d be so nice to come home to‹. Pfeffer sah hinüber zu dem antiken laotischen Buddha auf dem Sideboard, der im flackernden Kerzenlicht besonders milde lächelte, und dachte daran, wie schön es war, jemanden zu haben, zu dem man nach Hause kommen konnte und sang leise mit. »You’d be so nice, you’d be paradise to come home to …«
Tim kam mit einem Joint wieder und zündete ihn an der Kerze an.
»Ich dachte eigentlich an eine normale Zigarette«, sagte Pfeffer. »Außerdem musst du nicht unbedingt einen Seemann umbringen.«
Tim warf ihm ein Päckchen Gauloises Blondes zu und hielt ihm dann die Kerze hin. »Weißt du, woher dieser Nonsens kommt, dass man einen Matrosen umbringt, wenn man eine Zigarette mit der Kerze anzündet? Früher haben Seeleute, die keine Heuer hatten und die Zeit in den Häfen totschlagen mussten, Zündhölzer in den Kneipen verkauft. Damit haben sie überlebt, bis die einen neuen Job gefunden haben. Und wenn nun jemand seine Zigarette mit einer Kerze anzündete, brauchte er keine Streichhölzer. Also verdiente ein arbeitsloser Seemann nichts und musste verhungern.«
»Das wusste ich wirklich nicht.« Pfeffer nahm einen Zug an seiner Zigarette.
»Frag einfach einen aus einer Hafenstadt.«
»Gelobt sei die Arbeitslosenversicherung.«
»Amen.«
»Hör mal, wir sollten uns wirklich keine Drogen reinpfeifen, wenn die Kinder …«
»Sollten wir wirklich nicht, Maxl. Hier.« Tim reichte Pfeffer den Joint. »Tun wir aber.«
»Genau.« Pfeffer inhalierte tief.
»Das letzte Mal ist außerdem schon über ein Jahr her.«
»Als du den ersten Tag aus dem Krankenhaus draußen warst? Stimmts? Da saßen wir im Garten unter dem großen Walnussbaum, Flo war bei deiner Mutter in Amsterdam und Cosmas mit seiner damaligen Flamme Natalie in der Türkei.«
»Hey, Max Pfeffer, du erinnerst dich so genau daran? Du bist also doch ein Romantiker.«
»Das täuscht. Ich kann nur perfekt so tun, als ob.«
»Alle mal herhören: Max Pfeffer, knallharter Superbulle, ist ein Romantiker!«
»Schnauze, oder ich verhafte dich wegen Drogenbesitz.«
»Wäre ja nicht das erste Mal.«
Die beiden lachten. So hatten sie sich vor über acht Jahren kennengelernt. Bulle verhaftete Kiffer – und verliebte sich dann in ihn.
Pfeffer wurde kurz ernst: »Ich bin Kriminalbeamter, nicht vergessen. Und ich möchte nicht, dass die Kinder abrutschen. Vor allem Cosmas.«
»Relax, Max Pfeffer. Schau mich an. Du weißt, dass ich mit vierzehn eine klassische Drogenkarriere gestartet und bis auf Heroin fast alles genommen habe. Und schau mich heute an!«
»Du liegst mit einem Kerl nackt auf dem Wohnzimmerboden und kiffst.«
»Stimmt. Aber ich habe einen guten Mann, der mich fast nie schlägt, zwei entzückende Kinder, ein Haus …«
»… und die Megaperls.«
Die beiden kugelten sich vor Lachen.
»Im Ernst, Maxl, meine Eltern haben damals auch gedacht, ich lande irgendwann auf dem Bahnhofsstrich. Damals habe ich es nicht verstanden. Ich wollte ja einfach nur leben. Aber ich habe trotz allem studiert und verdiene heute mehr als der beste Bahnhofsstricher.«
»Tausendmal mehr.«
»Millionenmal mehr.«
Pfeffer kicherte und Tim schwieg. Plötzlich riss sie ein unangenehmes Piepsen aus dem Gemeinsam-Atmen.
»Was ist denn das?«, fragte Tim.
»Was wohl? Mein Handy.«
»Hast du etwa Bereitschaft? Wir haben aber noch gar nicht gegessen, ich habe was vorbereitet.«
»Das könnten wir auch später noch essen. Wird außerdem sicher nicht die Arbeit sein. Positiv denken! Wir haben heute schon ein Skelett gefunden, draußen auf dem Anwesen der Nives Marell. Das wars heute mit den Leichen. Ist bestimmt einer von den Jungs.« Pfeffer stand auf und holte sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Auf dem Display stand ›Arbeit‹. Er seufzte und nahm ab.
07
Werner Androsch ließ das Textbuch von »Kanakenbraut« auf den Schoß sinken und seufzte. Er hatte immer noch Textunsicherheiten, obwohl sie sich schon mit riesigen Schritten den Endproben näherten. Besonders im zweiten Akt kam er immer wieder raus. Er konnte und wollte sich einfach nicht darauf verlassen, dass Nives ihm als Souffleuse diente. Sie beherrschte alle Dialoge auswendig, flüsterte ihm die Stichworte zu, wenn er hing. Auch er hätte eigentlich den kompletten Text von »Kanakenbraut« auswendig können müssen, schließlich hatte er früher auf der Bühne und im Film den Türken gespielt.
Werner Androsch starrte aus dem Fenster. Die beleuchteten Türme der Giesinger Kirche zeichneten sich gegen den indigoblauen Nachthimmel ab. Der Schauspieler liebte diesen Blick, er hatte damals den Ausschlag gegeben, diese Wohnung am Roecklplatz zu kaufen. Bei Tag konnte man die ganzen Isarauen überblicken, bei Föhn rückten die Alpen greifbar nah heran.
Der Schauspieler trommelte nervös mit den Fingern der rechten Hand auf die Sesselarmlehne. Nicht hinsehen, sagte er sich, nicht hinsehen. Es funktionierte nicht. Natürlich musste er hinsehen. Die Autosuggestion, die ihm sein Therapeut, zu dem er längst nicht mehr ging, in jeder Sitzung aufs Neue empfohlen hatte, funktionierte einfach nicht. Werner Androsch sah hin – er sah zu dem naturweißen Vorhang, der links neben dem großen Panoramafenster in akkuraten Falten hing. Sein Blick wanderte