Die Knochennäherin. Martin Arz
historischer Fund?« Pfeffer sah die Rechtsmedizinerin fragend an. »Dann wären wir hier wirklich überflüssig.« Er erinnerte sich an einen ähnlichen Fall in seiner Karriere. Da hatte man in einem noblen Münchner Vorort mitten im Vorgarten der Doppelhaushälfte eines Lehrerehepaares bei Kanalarbeiten ein Skelett gefunden. Pfeffer war damals als ermittelnder Kommissar hinzugezogen worden. Doch dann fand die Spurensicherung einen goldenen Ring sowie zwei Tonkrüge. Ein herbeigerufener Mitarbeiter des Landesamts für Denkmalpflege hatte die Fundsachen sofort ins erste Jahrhundert nach Christus datieren können, und damit hatte das Lehrerehepaar in seinem Vorgarten einen toten Kelten, kein Mordopfer.
Daher fragte Pfeffer: »Was meinen Sie? Keltisch? Bronzezeit?«
Der Archäologe schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Es fehlen die Grabbeigaben. Natürlich kann es sein, dass irgendwelche Grabräuber ein keltisches Grab geplündert, alles mitgenommen und die Gebeine dann in einer Grube entsorgt haben. Alles möglich!«
»Dann wäre es aber auch möglich, dass wir es hier doch mit einem Mordopfer zu tun haben und die Behörden sehr wohl ermitteln müssen, oder?« Pfeffer sah den Wissenschaftler durchdringend an. »Wenn ich zusammenfasse, dann könnte es sein, dass ein historischer Fund vorliegt. Könnte reicht mir nicht. Konjunktive sind ein schwaches Argument. Selbst wenn wir es hier mit einem Verbrechen zu tun haben, das mehrere Jahre oder einige Jahrzehnte zurückliegt, müssen wir ermitteln.« Er ging langsam zu dem Skelett auf der schwarzen Folie und betrachtete es. Karamellbonbonfarbene Knochen. Pfeffer kamen sie alt vor, was aber nur an der leicht gelblichen Farbe lag. Was hatte er erwartet? Ein strahlend weißes Gerippe? Gebleicht von der erbarmungslosen Sonne des Llano Estacado wie bei Karl May? Neben den Gebeinen lagen auf einer kleineren gelben Folie ein paar Gegenstände, die die Spurensicherung bisher aus den Erdhaufen herausgefiltert hatte: vier Kronkorken verschiedener Münchner Biere, zwei große Scherben einer Colaflasche, ein paar kleine blau-weiße Porzellanscherben, das Skelett eines Maulwurfs, ein Zehnpfennigstück von 1952, eine verrostete Gabel, einige krumme, verrostete Nägel und das vermoderte Stück eines Balkens.
»Nicht sehr keltisch«, sagte Kommissarin Scholz und sah dann auf, weil sich die beiden Blaumänner der Gruppe näherten.
»Chef«, sagte der kräftigere Blaumann zu Max Pfeffer und grüßte lässig, indem er die Hand kurz anhob. »Können wir jetzt abhauen? Oder braucht ihr uns noch?«
»Wofür ziehen Sie hier den Graben?«, fragte Pfeffer.
»Neue Glasfaserkabel der Telekom«, antwortete der Blaumann. »Und Kanalisation für die Gebäude der Kirche da drüben. Das ist die Strecke, in der sie in den Fünfzigern mal die Kanalisation und Wasserversorgung angelegt haben. Der alte Kanal ist total marode. Habe ich eben Ihrem Frollein Kollegin schon erzählt.« Er sah Annabella Scholz provozierend an, wartete auf eine Reaktion. Doch die Kommissarin erwiderte seinen Blick ruhig und teilnahmslos.
»Quer durch die Gärten?«, fragte Pfeffer. »Nicht vorne an der Straße?«
Der Arbeiter zuckte mit den Schultern. »Ist wohl die kürzere Strecke, oder?«
»Na, wenn der Graben einem alten Graben folgt, können wir das mit den Erdschichten eh vergessen«, warf Doktor Keppler ein.
»Was haben Sie eigentlich sonst noch so gefunden mit Ihrem Bagger?« Pfeffer deutete den Graben entlang.
»Nix. Was soll man schon finden?« Der Blaumann steckte die Hände in die Taschen. »Kronkorken, Scherben und immer wieder Bauschutt, der irgendwann einfach entsorgt wurde. Das übliche. Da drüben, zwei Häuser weiter, waren lauter alte Badezimmerkacheln verbuddelt. Mann, das waren früher Bauernhäuser, da wurde auf dem eigenen Grund entsorgt. Da hat niemand nach gefragt.« Er deutete mit der Fußspitze auf das Skelett. »Wer weiß, vielleicht hat irgendjemand mal einem alten Bauern nicht den Austrag gegönnt …«
»Den was?«, fragte Annabella Scholz.
»Den Austrag.« Der Blaumann feixte. »Sie sind nicht vom Land?«
»Nein.«
»Der Austrag ist das Altenteil für Bauern«, sagte Max Pfeffer zu seiner Kollegin. »Wenn der alte Bauer dem jungen den Hof übergeben hat, dann zieht er sich ins kleine Austragshäusl zurück und lebt nur noch von dem, was ihm der junge Bauer zugesteht. Deshalb weigern sich viele Bauern, jemals in Austrag zu gehen.«
»Verstehe.« Die Kommissarin nickte.
»Ich denke, dass ein toter Austragbauer sicherlich vermisst worden wäre«, sagte Pfeffer. »Besonders hier auf dem Land.«
»Besonders hier auf dem Land?« Der Blaumann lachte dümmlich, und sein Kollege grinste verschämt. »Hier werden Sachen, die niemand vermissen will, von niemandem vermisst.«
»Sachen?«
»Sachen. Und Menschen halt.«
Pfeffer winkte einen Kollegen der Spurensicherung herbei. »Wenn Sie mit der Bestandsaufnahme an der Oberfläche fertig sind, graben Sie in einem zehn Meter Radius um die Fundstelle. Hier, die beiden Herren haben sicher noch ein wenig Zeit und außerdem einen Bagger. Wer weiß, vielleicht finden wir da eine Spur.« Er wandte sich zu dem Archäologen. »Oder vielleicht ein keltisches Gräberfeld.«
Heinrich Keppler seufzte. »Hoffentlich nicht! Wer sollte das denn sichten?«
»Weiß der Staatsanwalt …«, begann der Kollege von der Spurensicherung.
»Darum kümmere ich mich schon«, beruhigte Pfeffer. »Graben Sie.«
»Dabei können wir aber keinen Bagger brauchen, das muss mit Schaufeln gemacht werden«, grummelte der Mann von der Spurensicherung und entfernte sich mit den Blaumännern.
»Was passiert mit unserem Herren hier?« Die Rechtsmedizinerin deutete auf die Gebeine. »Soll der nun zu mir in die Asservatenkammer oder zu euch ins Museumsarchiv?«
»Als ob wir nicht schon genug Leichen im Keller hätten«, witzelte Doktor Keppler und schmauchte an seiner Pfeife. Keiner lachte. »Im Ernst. Funde wie dieser kommen in eine Kiste, fein säuberlich archiviert, und landen dann im Keller. Vielleicht nimmt sich irgendwann mal ein Student seiner an. Oder auch niemand. So unspezifische Funde interessieren keinen wirklich.«
»Dieser Herr hier kommt nicht in Ihren Keller, Doktor Keppler, dafür gibt es mir zu viele Konjunktive, sondern zu dir, Gerda«, sagte Pfeffer bestimmt. »Dass er keine Zahnplomben oder Kronen hat, hat nichts zu sagen, oder? Die können rausgebrochen worden sein. Kann man überprüfen, oder? Also eine Aufgabe für dich.«
»Maxl, unser Kandidat ist augenscheinlich lange, lange, laaaaange tot. Wirklich lange. Zur genauen Altersbestimmung brauchen wir meiner Meinung nach eine C-14-Analyse«, warf die Rechtsmedizinerin ein und drückte ihre Zigarette in einem kleinen Taschenaschenbecher aus.
»Und?« Pfeffer zuckte mit den Schultern.
»Wer zahlt das? Das kostet eine Kleinigkeit.«
»Das entscheidet der Staatsanwalt. Ich will nur auf Nummer sicher gehen.«
»Wem gehört eigentlich dieser Traum vom Landleben, Bella?«, fragte Max Pfeffer, während er und seine Kollegin vom Gemüsebeet weg über die Wiese Richtung Gebäude gingen. Das Gelände stieg sacht an. Ein paar alte Obstbäume standen verstreut herum. Unter einem Apfelbaum, dessen Zweige sich vom Gewicht der gelb-roten kleinen Äpfelchen gen Boden bogen, summte und brummte es: Bienen und Wespen labten sich an den abgefallenen Äpfeln, die halb verfault auf der Erde lagen. Die Zwetschgenbäume hingegen schienen bis auf wenige Früchte, die hoch oben in den Kronen noch bläulich schimmerten, komplett abgeerntet. Zwischen dem Haupthaus und den beiden Nebengebäuden, da, wo in alten Höfen sonst ein Bauerngarten angelegt war, hatte der Besitzer ein lauschiges Terrassenparadies mit Terrakottakübeln voller Wandelröschen-Bäume und Oleander unterschiedlichster Farben geschaffen.
»Der Hof gehört einer gewissen …«, Annabella Scholz blätterte in ihrem Block herum. »Hat so einen komischen Namen, einen ganz komischen … hier: Nives Marell.«
»Nives Marell?« Pfeffer pfiff durch die Zähne. »DIE Nives Marell?