Von Gangstern, Diven und Langweilern. Allan Guggenbühl

Von Gangstern, Diven und Langweilern - Allan Guggenbühl


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Sie schweigen, weil sie einen guten Eindruck machen möchten. Sie halten sich zurück. Selbst sehen es die Lernenden anders. Viele sind überzeugt, dass sie sich über alles äußern können.

      Sie täuschen sich jedoch. Ihre Selbstbeschreibung stimmt nicht mit ihrem Verhalten überein. Ihre Aussagen werden durch das Schulsetting bestimmt. Da sie sich anpassen, merken sie nicht, dass sie Gedanken und Emotionen ausschließen, die nicht in den sozialen Kontext passen. Das Schulsetting, die Erwartungen der Kolleginnen und Kollegen und die der Lehrpersonen bestimmen, worüber geredet werden darf. Break-Thru soll den Lernenden helfen, solche inneren und äußeren Widerstände zu überwinden. Break-Thru dient aber noch einem weiteren Zweck. An den Reaktionen der Lernenden auf die Geschichte, an der Art, wie sie weiterfantasiert und gespielt wird, erkennt die Lehrperson auch, was sonst noch in der Klasse abläuft. Welchen Einfluss und welche Machtpositionen haben die einzelnen Schülerinnen und Schüler? Wie ist der Klassengeist? Wird jemand gemobbt? Da die Schülerinnen und Schüler oft nicht über das Geschehen und die Dynamik in der Klasse sprechen, ist es für Lehrpersonen nicht leicht zu erkennen, was zwischen den einzelnen Lernenden abläuft. Break-Thru hilft dabei, auf eine bestimmte Fragestellung eine Antwort zu erhalten.

      Break-Thru entstand auf der Basis der Interventionen, die ich bei Schulklassen mit speziellen Problemen im Rahmen meiner Anstellung als Leiter der Abteilung Gruppenpsychotherapie der kantonalen Erziehungsberatung, Regionalstelle Bern und des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich durchführte.[5] Zu solchen Kriseninterventionen kam es, wenn Lehrpersonen mit unüberwindbaren disziplinarischen Problemen konfrontiert waren oder wenn Gewaltvorfälle bewältigt werden mussten. Um die Schulklassen zur Kooperation zu bewegen, reichten herkömmliche Ansätze wie das Gespräch oder der Hinweis auf Schulhausregeln nicht. So begann ich, mit Geschichten zu arbeiten. Auf diesem Weg gelang es mir und meinen Kollegen und Kolleginnen, die Schulklassen zu überzeugen, dass sie mitarbeiteten und konstruktive Lösungen suchen halfen.[6] In den letzten zwanzig Jahren wurden unzählige Kriseninterventionen mithilfe des Mythodramas und unter meiner Anleitung in der Schweiz, aber auch in Schweden, den USA (Connecticut) und Georgien durchgeführt.[7] Aufgrund dieser erfolgreichen Interventionen wurde die Methode im Rahmen von Projekttagen auf reguläre Schulklassen übertragen und schließlich zum Modell Break-Thru entwickelt. Dies mündete endlich in ein Projekt der Pädagogischen Hochschule Zürich, bei dem in Zusammenarbeit mit einer Oberstufe[8] Lehrpersonen untersuchten, wie sich Geschichten als Mittel der Klassenführung einsetzen lassen.

      TEIL 1

       HEUTIGE HERAUSFORDERUNGEN FÜR LEHRPERSONEN

       1 — Klassen als heterogene Gebilde

      1 — Klassen als heterogene Gebilde

      Aus psychologischer Sicht betrachtet, gibt es kaum Institutionen, die schwieriger zu führen sind als Schulen. Die Beteiligten kommen gewissermaßen zufällig zueinander, sie werden nicht speziell ausgewählt und rekrutieren sich auch nicht aus einem bestimmten sozialen Kreis. Vor allem die Volksschule ist offen für Menschen aus allen sozialen Schichten, mit unterschiedlichsten Prägungen, Persönlichkeitsprofilen, Biografien und ethnischen Hintergründen. Die Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich in ihren Werten, Interessen, Einstellungen und Motivationen. Einzelne Lernende sehen in der Schule eine Zwangsinstitution, würden lieber gamen oder herumhängen, andere freuen sich auf die Schulstunden, wieder andere interessieren sich vor allem für ihre Kolleginnen und Kollegen. Die Temperamente sind verschieden: Einzelne Lernende fallen durch eine hohe Aggressionsbereitschaft auf, andere können sich schlecht konzentrieren, und wieder andere würden mehr lernen, wenn sie sich den Schulstoff selbstständig und allein aneignen könnten. Unterschiede gibt es auch auf der Seite der Lehrpersonen. Selbst nach einer fundierten Ausbildung und mit stetigen Qualitätskon­trollen unterrichten Lehrpersonen unterschiedlich und je nach ihrem Persönlichkeitstyp anders. Weil die Zusammensetzung einer Klasse immer einzigartig ist, entwickelt jede Schulklasse ein spezifisches Profil. In der einen Klasse sind alle auf Draht, Spannungen und Animositäten prägen das Klima. Eine andere Schulklasse unterrichtet sich fast von allein, da positiv eingestellte Lernende den Ton angeben.

      Als Reaktion auf die spezifischen Profile entwickeln sich in jeder Klasse eigene Umgangsformen und Regeln. Da die Mehrzahl der Lernenden wie auch der Lehrpersonen heftige Auseinandersetzungen, Fehltritte und Streitigkeiten vermeiden, passt man sich dem jeweiligen Klassengeist an. Man verhält sich nicht wie im Privatleben oder in der Freizeit, sondern es entwickeln sich Codes, ungeschriebene Vorgaben, wie man sich in der betreffenden Klasse zu verhalten hat.

      Codes definieren, was erlaubt ist, welche Themen angesprochen werden dürfen und wie man miteinander umgeht. Solche Codes werden nicht bewusst aufgestellt, sondern sie entwickeln sich unbewusst als Antwort auf wahrgenommene Differenzen. Man realisiert, dass Differenzen sich negativ auswirken oder Probleme verursachen können. Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrpersonen bewegen sich auf einem Minenfeld. Viele Lernende verstehen sich gegenseitig nicht, unterschiedliche biografische oder ethnische Hintergründe können zu Konflikten führen, die eskalieren können. Deshalb entwickelt eine Schulklasse solche Codes, damit man zivilisiert miteinander umgeht und die persönliche Integrität geschützt wird.

      1.1 Gruppencodes und Tabuisierungen in Klassen und Schulen

      Die Codes, die sich in einer Schulgemeinschaft entwickeln, werden nicht explizit gemacht. Sie werden selten aufgeschrieben und den Eltern oder den Lehrpersonen kommuniziert. Sie gelten, ohne dass man darüber spricht und ohne dass man sie reflektiert. Die meisten Lernenden erkennen die jeweiligen Codes und richten sich automatisch danach, passen sich ihrer Bezugsgruppe an. Sie realisieren etwa, dass man sich als Mädchen in einer bestimmten Klasse nicht die Haare färbt, dass man für eine bestimmte Musikgruppe schwärmt oder sich in einem bestimmten Fach anstrengt. Codes beeinflussen das Denken und die Wahrnehmung der Klassenmitglieder. Alle finden einen bestimmten Mitschüler hässlich, alle finden Staudämme langweilig.

      Es gibt Codes, die sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Lernenden Gültigkeit haben, andere gelten nur für die Lernenden. Die Klassengemeinschaft grenzt sich durch sie von den Erwachsenen ab. Oft widersprechen die Klassencodes den Leitlinien, die in der Schule aufgestellt wurden. In einer Klasse begannen die Jungen periodisch ein körperliches Kräftemessen zu organisieren. Sie wollten die Hierarchien unter sich klären. Diese Praxis stand im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen und Abmachungen der Klasse. Die Schüler hatten sich in einem Vertrag verpflichtet, keine Gewalt auf den Pausenplätzen zu tolerieren. Den Widerspruch lösten die Jungen für sich, indem sie in ihren Auseinandersetzungen »Friedenskämpflein« sahen. In ihrer Wahrnehmung handelte es sich nicht um Gewalt. In einer anderen Klasse war abgemacht, dass man die Musiklehrerin »doof« fand. Die arme Musiklehrerin konnte sich noch so bemühen, sie hatte gegenüber diesem Klassencode keine Chance. Auch wenn Schüler oder Schülerinnen ­eigentlich zufrieden waren mit ihrem Unterricht, durften sie es sich nicht eingestehen. Der Klassencode verbot es. Codes entwickeln sich im Laufe der Schulzeit, haben eine bestimmte Zeit Gültigkeit, bevor sie wieder verschwinden. Wenn man als Lehrperson über diese Codes reden, sie verändern oder kritisieren will, geraten die Lernenden in ein Dilemma. Einige merken vielleicht, wenn ein Code einem deklarierten Wert widerspricht. Meistens verdrängen sie den Widerspruch, weil sie keinen Ärger wollen, eine Strafe befürchten oder die Lehrperson nicht überfordern wollen. Gegenüber der Lehrperson geben die Schülerinnen und Schüler immer vor, dass sie natürlich »gegen Gewalt« sind, »niemanden ausgrenzen« oder »Alkohol selbstverständlich ablehnen«. Sie präsentieren sich gegen außen so, wie es verlangt wird, und verdrängen die Tatsache, dass es in der Klassengemeinschaft ganz anders abläuft, dass andere Codes herrschen.

      1.2 Parallelwelten

      Die Ausrichtung der Schülerinnen und Schüler nach klasseninternen Codes und Themen führt zur Entwicklung von Parallelwelten. Dort können sich Dynamiken entwickeln, von denen wir als


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