Von Gangstern, Diven und Langweilern. Allan Guggenbühl
mit dem eigenen Fehlverhalten in Übereinstimmung gebracht werden.
1.6 Geschichten als Spielraum über die Regeln hinaus
Schulen sind halbchaotische Institutionen. Sie lassen sich nicht mit einem wirtschaftlich geführten Betrieb vergleichen, wo die Angestellten ausgewählt, speziell trainiert sind und entlassen werden, wenn sie die Anforderungen nicht erfüllen. Schulen haben explizit die Aufgabe, Menschen aus allen sozialen Schichten, mit verschiedensten Biografien und ethnischen Hintergründen zu unterrichten. Was in der Schule abläuft, wird nur zum Teil von den Lehrpersonen erfasst oder kontrolliert. Die Schüler und Schülerinnen setzen ihre eigenen Ziele, sie verfolgen private Interessen und formieren sich zu separaten Untergruppen. Die zusätzliche, spannende Herausforderung ist, dass sich die zu Unterrichtenden in einer anderen Altersphase befinden als man selbst. Lehrpersonen haben es mit Menschen zu tun, die im Leben andere Sorgen, Anliegen und Wünsche haben als die Erwachsenen. Die Lernenden sind in Entwicklung und auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. All dies hat zur Folge, dass man als Lehrperson nicht wie in einer Firma Regeln und Bestimmungen erlassen und zwingend einfordern kann. Wir können die Lernenden nicht nur auf Anpassung trimmen, sondern müssen zu ihnen Brücken bauen und uns in ihre Welten einfühlen. Lehrpersonen sind nicht Firmenchefs, die klare Leitlinien setzen und Bestimmungen definieren, sondern sie haben es mit Menschen zu tun, die sich zum Teil nur widerwillig führen lassen, oft verwirrt und noch nicht ganz bei der Sache sind. Die Lernenden entwickeln zudem Codes, die sich von den Regeln, die die Lehrerschaft vertritt, unterscheiden. Lernende verhalten sich deswegen immer ein bisschen renitent. Verhaltensweisen werden von Schülerinnen und Schülern geduldet oder gelten sogar als cool, bei denen die Lehrpersonen sich die Haare raufen. Wenn Lernende mobben, intrigieren, stören oder Pflichten vernachlässigen, dann können wir nicht sicher sein, ob die Mitschüler und Mitschülerinnen dieses Verhalten ebenfalls ablehnen. Zu spät zum Unterricht kommen oder die Aufgaben ignorieren gilt zum Beispiel unter vielen Lernenden als cool und hebt das eigene Prestige in der Klasse. Durch das Zuspätkommen setzt man Zeichen. Wenn wir als Lehrpersonen eine zu enge Normbrille aufsetzen und uns unbedingt mit unseren Ideen durchsetzen wollen, dann drohen wir zu scheitern. Wir entfremden uns von den Schülern und Schülerinnen.
Kinder und Jugendliche brauchen für ihre persönliche Entwicklung Spielraum. Es geht nicht nur um Anpassung, sondern auch um das Ausloten von Grenzen, um Experimente und die Auseinandersetzung mit den Wundern und Verrücktheiten des Lebens. Es muss darum auch möglich sein, Fehler zu begehen, sich schlecht zu benehmen oder frech zu sein, ohne dass gleich der Vorschlaghammer droht. In der Sprache der Psychologie: Der Schatten muss auch seinen Platz haben. Hinter schlechtem Benehmen, Unverschämtheiten und Widerspruch verbergen sich oft Themen, die die Schüler und Schülerinnen faszinieren, für die sie jedoch weder eine Sprache noch einen Raum finden. Wenn die Erziehungspersonen sich als schattenlose Wesen, makellose Vorbilder präsentieren und Nulltoleranz vertreten, dann haben die Schüler und Schülerinnen ein Problem: Die Auseinandersetzung mit den Schattenthemen des Lebens wird ihnen überlassen. Sie müssen mit ihren Ambivalenzen, ihrem Neid, Hass und ihren Aggressionen selbst fertig werden. Da sie nicht einfach »Stopp!« rufen können, wenn sich ihnen eine unangebrachte Fantasie oder eine Aggression aufdrängt, müssen sie selbst eine Antwort finden.
Hier setzt die Bedeutung von Geschichten ein. Geschichten sind ein Weg aus dem Dilemma zwischen den Anpassungsforderungen der Schule und dem Eingehenwollen auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Durch Geschichten können Wirklichkeiten in den Unterricht eingebracht werden, die sonst keinen Platz haben. Geschichten eröffnen sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrpersonen mentale Räume, in denen man sich mit Themen auseinandersetzen kann, die man sonst aus dem Unterricht ausschließen muss. Voraussetzung ist jedoch, dass die Lehrperson die Rolle der Geschichtenerzählerin oder des Geschichtenerzählers übernimmt. Es gibt verschiedene Gründe, wieso es sich lohnt, in der Schule mit Geschichten zu arbeiten.
TEIL 2
GESCHICHTEN ALS MITTEL DER KLASSENFÜHRUNG
2 — Die psychologische Bedeutung von Geschichten
3 — Geschichten als Denkanstoß
2.1 Eindrücke in einen Zusammenhang stellen und Sinn kreieren
Wir alle leben in und von Geschichten. Mithilfe von Geschichten interpretieren wir Erlebnisse. Eindrücke, Fantasien und Emotionen erhalten eine Bedeutung, wenn wir sie in den Kontext einer Geschichte einordnen oder mit einer Geschichte in Verbindung bringen. Ein Beispiel: Ein Mann nimmt auf einem Barstuhl Platz. Eine schwarze Limousine fährt vor und hält abrupt auf dem gegenüberliegenden Trottoir. Drei Männer mit finsteren Gesichtern und Sonnenbrillen steigen aus dem Auto und schreiten zur Bar. Der Kellner sieht die drei Herren und lässt ein Glas fallen. Wenn wir diese Einzelereignisse hören, werden wir vermuten, dass sie etwas miteinander zu tun haben: der Barbesucher, die drei finsteren Herren und das Missgeschick des Kellners. Die drei Ereignisse könnten jedoch auch keinerlei Zusammenhang haben. Wir projizieren eine Szenerie, durch die einzelne Ereignisse zu einem sinnvollen Ganzen werden. Geschichten liefern uns die Matrix, dank der wir unsere Umgebung oder Mitmenschen verstehen. Natürlich wissen wir oft nicht, ob wir Tatsachen erkennen. Vielleicht wollten die drei Männer in der Bar lediglich Zigaretten kaufen, und dem Kellner fiel das Glas aus der Hand, weil er übermüdet war. Ob wahr oder fantasiert: Dank den Geschichten erhalten Ereignisse im Rahmen eines Zeitkontinuums ein Profil. Sie werden zu etwas Besonderem. Sie bereichern uns und machen das Leben sinnvoll. Dank Geschichten problematisieren, erhöhen oder degradieren wir unsere Umwelt und Mitmenschen.
2.2 Themen werden auf den Tisch gebracht
Geschichten erweitern unseren Horizont. Wir setzen uns mit Themen auseinander, die weit weg sind, tabuisiert werden oder über die es schwierig ist zu reden. Gibt es die wahre Liebe? Welche Werte soll man im eigenen Leben verfolgen? Geld oder Geist? Wieso fasziniert Macht? Die Ereignisse und Handlungen einer Geschichte können eine Reflexion über persönliche Leitlinien oder eigene Werte auslösen. Kindern und Jugendlichen erlauben Geschichten, sich mit Themen auseinanderzusetzen, mit denen sie in ihrem Alter noch nicht vertraut sind. Sie können sich auf Herausforderungen vorbereiten, die im Lehrplan nicht vorgesehen sind.
2.3 Sensibilisierung
Geschichten beeinflussen die Wahrnehmung. Wir sehen, was wir hören. Geschichten sensibilisieren für Probleme und Phänomene, die man übersehen könnte. Wenn wir unseren Schülern und Schülerinnen von einem Jungen berichten, der es nicht wagt, seine Selbstwertzweifel einzugestehen, und stattdessen lautstark von großartigen Leistungen prahlt, dann erkennen die Lernenden vielleicht die im Prahlverhalten von Kolleginnen und Kollegen versteckten Selbstzweifel. Die Geschichte kann also einen Perspektivenwechsel ermöglichen.
2.4 Selbstbild entwerfen
Es gibt Geschichten, die uns ansprechen. Wir verschmelzen innerlich damit und sind fast überzeugt, dass es sich um »unser« Schicksal handelt. In den Figuren der betreffenden Geschichte erkennen wir unsere Stärken, Schwächen und Persönlichkeitszüge. In den Fünfzigerjahren erkannten sich Tausende von Teenagern in den von James Dean verkörperten Filmfiguren wieder, wie etwa im rebellischen Cal in »East of Eden«, der vom Vater verkannt und zurückgestoßen wird. Oft alimentieren sich solche Geschichten aus persönlichen Erinnerungen und werden so zur Basis des Selbstverständnisses. »Bei mir war es genauso!«,