Von Gangstern, Diven und Langweilern. Allan Guggenbühl

Von Gangstern, Diven und Langweilern - Allan Guggenbühl


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Erfolg, und das Klima in der Klasse empfand sie seither als positiv. Sie fiel aus allen Wolken, als ein Brief der Schulbehörde auf ihrem Pult lag. Die Eltern eines Schülers forderten ultimativ die Versetzung ihres Sohnes! Die Situation sei für ihn in seiner jetzigen Klasse unerträglich. Er werde gemobbt, und er empfinde das Klassenklima als miserabel! Während der großen Pause spreche niemand mit ihm, seine Schulmaterialien würden mutwillig zerstört, und die Mädchen machten sich über seine Kleider lustig. Gemäß den Eltern hatte das Mobbing im Skilager begonnen. Die Lehrerin hatte indessen den Eindruck, dass die Stimmung in der Klasse ausgezeichnet sei. In Einzelgesprächen mit den Schülerinnen und Schülern war ihr nichts aufgefallen, und im Klassenrat war nie von Mobbing die Rede.

      Wie kann man als Lehrperson von den klasseninternen Codes erfahren, ohne die Kohäsion der Klasse zu zerstören oder Lernende bloßzustellen? Oft wählen Lehrpersonen das Einzelgespräch mit Lernenden. Im Gespräch von Angesicht zu Angesicht sollte es, denken sie, möglich sein, die »Wahrheit« über das Klassengeschehen zu erfahren.

      Vielfach gelingt dies auch, und man kann als Lehrperson einen Blick hinter die Kulissen werfen. Aber je älter die Kinder werden, desto schwieriger wird dieser Weg. Die Einzelgespräche führen nicht zum erhofften Erfolg. Vor allem sozial kompetente und empathische Schülerinnen und Schüler merken, wie sie sich zu verhalten haben und was sie sagen sollten. Sie stimmen sich auf die Lehrperson ein und übernehmen ihre Vorgaben. Sie lassen sich zudem durch das Autoritätsgefälle, die Persönlichkeit der Lehrperson und die offiziellen Leitlinien beeindrucken und beginnen zu täuschen. Eine Lehrperson kann noch so geschickt vorgehen, Ich-Botschaften einsetzen und sensibel auf das Kind eingehen, der Schüler oder die Schülerin verhält sich bedeckt. Sie oder er kann sich gar nicht über die internen Vorkommnisse in der Klasse äußern, da ein Code verletzt würde. Sie verraten dann nur so viel, wie die Situation erlaubt und sie sich selbst eingestehen können. Wenn eine Lehrperson eine Schülerin zum Beispiel fragt, ob sie von den Klassenkameraden akzeptiert werde, dann wird sie in einer solchen Situation antworten: »Ja, alle sind nett und freundlich zu mir.« Sie verschweigt, dass sie von Kolleginnen ausgeschlossen wird. Sie hat Angst, dass die negative Aussage sich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung entwickelt, wenn die Gesamtklasse davon erfährt. Sie hätte die Klasse verraten. Wenn sie einer Autoritätsperson eingestehen würde, dass ihre Kolleginnen und Kollegen sie als komisch empfinden, dann werden die Anschuldigungen plötzlich wahr. Sie hält sich an den Klassencode, der bestimmt, dass die Auseinandersetzungen nur aus Spaß geschehen. So kann auch sie sich an die Hoffnung klammern, dass das Mobbing nur ein Spiel ist und sie bald akzeptiert sein wird.

      Auch wenn die Schülerinnen und Schüler anscheinend offen über ihre Sorgen, Ängste, Hoffnungen und Träume reden, treffen sie eine Auswahl. Gewisse Themen dringen nicht bis zum Lehrerohr. Hänseleien, Grenz­überschreitungen und Mobbingdynamiken, jedoch auch Drogenkonsum, Erpressungen oder Schülerängste bleiben den Lehrpersonen oft verborgen. Die Lernenden fügen sich den Codes und Tabus ihrer Bezugsgruppe. Ähnliches kann man auch im Klassenrat beobachten. Viele Schüler und Schülerinnen verstehen es, Offenheit zu inszenieren. »Ich war sehr traurig, als meine Kollegin die Klasse verlassen musste, und mache mir Gedanken, ob ich ihr mehr hätte helfen können«, meinte eine Schülerin im Klassengespräch und verdrückte sogar eine Träne. Was sie nicht sagte, war, dass sie das gemobbte Mädchen als intrigant erlebt hatte und aktiv gegen sie vorgegangen war. Das Mädchen lügt jedoch nicht bewusst, sondern sie hat gegenüber der Lehrperson ein schlechtes Gewissen, weil sie realisiert, dass sie so nicht hätte handeln sollen.

      Die Zugänglichkeit zu den Themen der Klasse reduziert sich also, wenn die Schülerinnen und Schüler in die Vorpubertät kommen – in der Regel im elften oder zwölften Lebensjahr. Ein Graben tut sich auf, auch wenn die Lernenden sich ihren Lehrpersonen gegenüber freundlich verhalten und sie sogar wirklich schätzen. Lehrpersonen haben eine Rolle zu erfüllen und stehen nicht als Privatpersonen vor der Klasse. Eine Tiefensicht auf die Schüler und Schülerinnen ist nicht einfach. Wer unterrichtet, für Disziplin sorgt und Unterrichtsziele zu erfüllen hat, muss aus psychologischer Sicht an der Oberfläche bleiben. Zu persönliche Fragen oder das Ansprechen von Tabuthemen würde den Unterricht stören. Eine Lehrerin kann einem Schüler nicht eingestehen, dass die meisten Mitschüler ihn nicht mögen, und eine Schülerin verbirgt vor ihrer Lehrerin, dass sie das Fach nur interessiert, weil ein Mitschüler es cool findet.

      Die Inszenierung des Unterrichts geschieht nicht bewusst. Sowohl Lehrpersonen als auch Lernende haben die Grenze zwischen erlaubten und tabuisierten Aussagen und Handlungen internalisiert. Auch wenn alle sich Mühe geben, alles zu sagen, und versuchen ganz offen zu sein, verhindert ein innerer Hemmungsmechanismus, dass heikle Themen angesprochen werden.[9]

      1.3 Der Einfluss der Gleichaltrigen

      Je älter die Schülerinnen und Schüler werden, desto weniger richten sie sich direkt an ihrer Lehrperson aus. Sie orientieren sich nach ihren Kolleginnen und Kollegen. Fragt man Kinder ab der vierten Primarschulklasse, weshalb sie die Schule besuchen, dann betonen sie regelmäßig die Kontakte zu ihren Mitschülern und Mitschülerinnen. In ihrer Wahrnehmung ist nicht der Stoff, sind nicht die Lektionen, die Prüfungen und eigene Arbeiten das Wichtigste, sondern die Schule wird als sozialer Treffpunkt verstanden. Wichtig sind natürlich auch die Pausen, während deren man sich treffen kann.

      Die Ausrichtung auf die Gleichaltrigen oder Peers entspricht einem entwicklungspsychologischen Bedürfnis. Während kleine und größere Kinder sich an ihren Eltern und an erwachsenen Bezugspersonen orientieren, sucht der Jugendliche vor allem die Akzeptanz seiner Kollegen und Kolleginnen. Der Fokus richtet sich auf die Peers. Freundschaften werden geschlossen, eine Clique wird gebildet, Klatsch und Tratsch wird ausgetauscht, Geheimnisse werden geteilt. Die Lernenden suchen in der Klasse nach Seelenverwandten und wollen Sehnsüchte, Träume, Hoffnungen und auch Ängste teilen. Sie erleben ihre Gleichaltrigen jedoch auch als Konkurrentinnen und Konkurrenten, mit denen man sich messen und vergleichen muss. Sie beginnen, sich selbst zu entdecken, und sehen in der Gemeinschaft der Peers einen Experimentierraum. Sie wollen herausfinden, wer sie sind, welches Persönlichkeitsprofil sie auszeichnet und welche Kompetenzen sie entwickeln werden. Die Suche nach einer eigenen Identität geschieht größtenteils in Auseinandersetzung mit den Gleichaltrigen. Zu den Erwachsenen geht man auf Distanz, weil man sich nicht mehr als Teil der Mutter, des Vaters versteht, sondern eigenständig sein möchte. Man entwickelt eigene Verhaltensweisen, einen eigenen Jargon und pflegt eigene Freizeitbeschäftigungen, um den Unterschied zu den Erwachsenen hervorzuheben. Oft wird der Einfluss der Erwachsenen sogar gefürchtet, da dadurch die Selbstständigkeitsversuche bedroht werden.

      Fühlt sich eine Lernende, ein Lernender in der Klasse wohl und wird sie oder er von seinen Kollegen und Kolleginnen akzeptiert, dann steigt die Lernmotivation. Wird sie oder er jedoch geächtet, ignoriert oder gemobbt, dann droht die Schule ein traumatisches Erlebnis zu werden. Oft verhindert die Identifikation mit den Peers und den Klassencodes, dass die Jugendlichen dies vor Lehrpersonen zugeben. Dieser Wille und dieser Druck zur Konformität erschweren natürlich die Suche nach einer eigenen Identität. Die Gleichaltrigen haben darum eine Schlüsselfunktion für das Wohlbefinden der Jugendlichen. Gelingt es der Lehrperson, hier positiv Einfluss auszuüben, dann wird die Klassenführung leichter.

      1.4 Die Lehrperson als Gegenfigur

      In vielen Oberstufenklassen bestimmt der Code, dass man sich gegenüber Lehrpersonen cool und unnahbar gibt. Distanz ist vorgeschrieben. Für Lehrpersonen ist dieser Code ärgerlich. Wenn sich Lernende zynisch, scheinbar demotiviert und herabwürdigend verhalten, dann fühlt man sich nicht geschätzt und reagiert unter Umständen unwirsch. »Ich strenge mich für dich an, ich will, dass du etwas lernst, und deine Antwort ist Kritik oder Desinteresse!« Der äußere Eindruck kann jedoch täuschen. Viele Jugendliche setzen eine Maske auf, weil sie sich nach einem Peer-Code ausrichten. Das Skript ihrer Entwicklungsphase verbietet ihnen, sich gegenüber Lehrpersonen zu öffnen. Selbstständigkeit ist angesagt, und dazu gehört, dass zur Lehrperson Distanz markiert wird und man gewisse Themen nur untereinander diskutiert. Erwachsene verstehen sowieso nichts. Auch wenn die Jugend sich während


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