Von Gangstern, Diven und Langweilern. Allan Guggenbühl
nicht primär Gleichgesinnte, und sie suchen nicht den harmonischen Kontakt, sondern Gegenfiguren, an denen man sich reiben kann. Sie suchen Kontakt zu einem Erwachsenen, mit dem man sich streiten, über den man sich aufregen und bei dem man Abgrenzung inszenieren kann. Der kreative Dissens wird gesucht und nicht Harmonie. Jugendliche suchen Bezugspersonen, die wagen, sich ihnen zu widersetzen, ohne den Kontakt abzubrechen. Sie sind auf der Suche nach einem eigenen Profil, und dazu brauchen sie Erwachsene, über die sie sich ärgern und die sie als altmodisch empfinden können. Meistens helfen sie nach: Eine extreme Kleidung, ein flapsiger Stil oder unanständige Wörter dienen dazu, Gegenreaktionen zu provozieren. Wenn die Erwachsenen sich ärgern, dann hat man sein Ziel erreicht.
Als Lehrperson bleibt uns oft keine andere Wahl, als die entsprechende Rolle in diesem archetypischen Drama zu spielen.[10] Wir müssen uns als Projektionsfigur für den Jugendprotest hergeben, auch wenn uns ihr Bild von uns nicht entspricht, wir uns nicht als alt, hinterwäldlerisch und engstirnig erleben. Die Erwachsenen leben aus der Sicht der Jugendlichen in einer eigenen Welt. In ihrer Subkultur proben die Jugendlichen ihre Selbstständigkeit und bauen ihre eigene Identität auf. Wenn sie Erwachsenen begegnen, dann sehen sie in ihnen Repräsentantinnen und Repräsentanten eines anderen Lebensbereichs. Auch wenn der Altersunterschied klein ist und man sich bei vielen Themen versteht, überwiegt bei den meisten Jugendlichen das Gefühl, dass die Alten ihren Groove, ihre Probleme und Interessen nicht wirklich nachvollziehen können. Wenn deshalb eine Lehrperson behauptet, dass sie die Schüler und Schülerinnen bestens versteht und gleicher Meinung ist, dann widerspricht dies dem typischen Verhältnis zwischen Alten und Jugendlichen während der Adoleszenz. Jugendliche brauchen Gegenfiguren, damit sie ihr unabhängiges Denken und Handeln erproben können. Erwachsene, welche die Trends und den Jargon der Jugend übernehmen, irritieren. Ein Lehrer, der Rapper-Hosen mit tiefem Schnitt trägt und von »voll geil« spricht, wird als komisch empfunden. Die meisten Jugendlichen pochen unbewusst auf das Recht, nicht verstanden zu werden. Die Erwachsenen haben die Pflicht, mit Kopfschütteln, Stirnrunzeln, jedoch auch mit Bewunderung zu reagieren, wenn Jugendliche einen speziellen Rap vorführen oder die Hose sehr tief tragen.
Durch die Reaktionen der Erwachsenen werden den Jugendlichen Leitplanken gesetzt. An der Sorge oder am Ärger der Lehrpersonen merken sie, wenn sie zu weit gegangen sind und welche Grenzen es zu respektieren gilt. Sie schränken ihren persönlichen Experimentierraum ein. Es gilt, den Wunsch der Jugendlichen nach Gegenfiguren zu respektieren. Erfolgreich unterrichten heißt darum, die Spannungen und Auseinandersetzungen zu ertragen und durchzuarbeiten, wenn sich die Lernenden einem entgegenstellen oder mit einem nicht einverstanden sind. Wenn Jugendliche frech sind, sich doof und unflätig benehmen, dann geschieht dies nicht immer aus bösem Willen oder aus Unachtsamkeit. Sie wollen die Lehrperson testen und sie an ihre Aufgabe als Gegenfigur erinnern. Die Aufregung, die ausgelöst wird, vermittelt den Jugendlichen das Gefühl, dass sie keine Bubis oder brave Mädchen mehr sind.
Aus ethnologischer Sicht betrachtet, werden in Schulklassen Trennungsrituale vollzogen.[11] Die Gruppensituation weckt das Bedürfnis, die Abgrenzung von den Erwachsenen durchzuspielen und sie zu Gegenfiguren zu deklarieren, damit man sich leichter von der Kindheit verabschieden und der Erwachsenenwelt annähern kann. Wenn eine Schulklasse sich gemeinsam über eine Lehrperson aufregt und sie in der kollektiven Aufregung zur Fremden oder zum Fremden erklärt, dann heißt dies nicht, dass die persönliche Beziehung zur Lehrperson schlecht ist. Oft gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Verhalten in der Klasse und in der individuellen Beziehung zwischen Lehrperson und Lernenden. Gegenüber den Kolleginnen und Kollegen grenzt sich ein Jugendlicher lärmig von einer Lehrperson ab, obwohl er sie im Grunde sehr schätzt.
1.5 Die Bedeutung von Regeln in der Schule
Schulen sind Territorien, die aufgrund der Vorstellungen von Erwachsenen gestaltet werden. Wie man miteinander umgeht, wie man miteinander spricht, was man darf und was nicht, wird von Erwachsenen festgelegt. Lehrpersonen, Schulleitungen und Behörden kommunizieren, was sie von den Lernenden erwarten. Verhaltensweisen, die unter Schülern und Schülerinnen verbreitet sind, sollen unterbunden werden. Gewisse Regeln sind offensichtlich und für alle nachvollziehbar: Man soll nicht dareinreden, wenn die Lehrperson spricht, nach der Pause hat man an seinem Platz zu sitzen, und in den Gängen darf nicht gerannt werden. Elektronische Geräte bleiben abgeschaltet, und Hausaufgaben werden erledigt. Andere Regeln haben eine erzieherische Funktion: Das Bloßstellen einer Mitschülerin oder eines Mitschülers muss vermieden werden, wie auch beleidigende, abschätzige oder gar rassistische Bemerkungen. Witze oder diskriminierende Bilder über Charakter, Geschlecht, Religion, ethnische Herkunft, Aussehen oder Denkart werden nicht toleriert, anzügliche Bemerkungen oder ein beleidigender Tonfall sind verboten. Die Verhaltensregeln werden oft in Ich-Sätzen und positiv umformuliert und zusammen mit den Lernenden erarbeitet. »Ich respektiere meine Kollegen, meine Kolleginnen und Lehrpersonen.« – »Ich strecke die Hand hoch, wenn ich etwas sagen will.« – »Ich behandle andere mit Respekt.« – »Ich werfe den Müll in den Abfalleimer.« – »Ich spreche die Erwachsenen auf anständige Weise an.« Den Lernenden wird kommuniziert, dass sie diese Regeln zwingend einhalten müssen, wenn sie keine Probleme wollen und damit ein reibungsloser Schulbetrieb möglich ist. Oft hängen sie anschließend zusammen mit Leitbildern an den Schulzimmerwänden oder werden von der Lernenden in einem feierlichen Akt unterschrieben.
Problematik der Regeln
Die Erwartung ist, dass Kinder und Jugendliche Schulhausregeln respektieren, wenn sie immer wieder daran erinnert werden. Dass die Regeln internalisiert und zur Entscheidungsgrundlage der Schüler und Schülerinnen werden. Dass sie sich selbst disziplinieren, wenn sie über die Regeln informiert sind und ihren Sinn einsehen. Diese Vorstellung ist psychologisch naiv. Viele Regeln, die in der Schule festgelegt oder ausgehandelt und kommuniziert werden, lassen einen Interpretationsspielraum zu. Die Lernenden unterschreiben zum Beispiel einen Vertrag, in dem sie sich zu einem respektvollen Umgang miteinander verpflichten. Ob sie wirklich respektvoll miteinander umgehen, ist jedoch offen. Es kann vorkommen, dass sie trotzdem gute Freunde im Stich lassen, eine Kollegin mobben oder gemein sind. Interessanterweise werden sie jedoch immer noch beteuern, dass für sie Respekt wichtig ist, sie haben das Gefühl, dass sie sich loyal verhalten, nicht mobben und freundlich sind. Wort und Handlung stimmen nicht überein, denn das Eingeständnis der Diskrepanz würde persönlichen Stress auslösen. Man müsste sich eingestehen, dass man nicht so erhaben ist, wie man es sich vorstellt. Um diese kognitive Dissonanz zu verhindern, konstruieren die Jugendlichen Entschuldigungen. Sie haben dann den Freund »aus gutem Grund« nicht zum Fest eingeladen, die Kollegin hat sich beim letzten Treffen doof verhalten oder war unehrlich, darum haben sie ihr die Meinung sagen müssen. Die Jugendlichen wollen ihr positives Selbstbild erhalten und den Konflikt mit den bewusst deklarierten Werten vermeiden. Man erfindet eine Ausrede, um nicht mit dem eigenen Schatten konfrontiert zu werden. Regeln, die einen Interpretationsspielraum zulassen, eignen sich sehr gut dazu. »Ehrlichkeit« kann heißen, dass man einer Kollegin mitteilen soll, dass sie eine doofe Kuh ist, und »Respekt«, dass man gegen einen unflätigen Schüler vorgeht. Wenn Regeln einen Interpretationsspielraum zulassen, dann verhalten sich sowohl Jugendliche als auch Erwachsene nach persönlichen Opportunitäten. Die Regel wird beachtet, wenn sie einem nützt, sonst wird sie umformuliert. Diesen Mechanismus gilt es zu beachten, wenn man Schulhausregeln aufstellt. »Ich bin höflich, anständig und rücksichtsvoll.« –»Ich bin einfach normal nett.« – »Ich höre sofort auf, wenn jemand ›stopp‹ sagt.«: Das steht zum Beispiel an den Wänden eines Zürcher Schulhauses. Was aber heißt »normal nett«, was ist höflich, oder wann sollte der andere aufhören? Welche Handlungen können einfach gestoppt werden? Solche Regeln oder Leitsätze lassen einen Interpretationsspielraum zu und können somit, wenn sie einem in die Quere kommen, uminterpretiert werden.
Wegen dieses Täuschungsmechanismus laufen wir Gefahr, Schattenmotive zu übersehen. Wir einigen uns mit den Schülern und Schülerinnen auf der Ebene der Ideale, vermeiden jedoch die Auseinandersetzung mit ihren effektiven Verhaltensweisen. Lernende beteuern dann zum Beispiel, die Stopp-Regel einzusetzen, wenn sie von einem Mitschüler angegriffen werden. In Wirklichkeit provozieren sie einen Kollegen bis zur Weißglut