Future Angst. Mario Herger
– und scheitert kläglich, da er weder den japanischen noch den modernen westlichen Effekt erreicht. Auch lässt sich Tanizaki über die beste Art aus, wie die elektrischen Leitungen am wenigsten sichtbar einzubauen sind und klagt, dass moderne Glühbirnen nicht den heimeligen Schein alter Öllampen verbreiten. Das Dunkel in traditionellen japanischen Häusern zog er den lichtdurchfluteten neuen Gebäuden vor, weil diese das Geheimnisvolle bewahrten.
Auch wenn er den Lesern immer wieder versichert, dass dies der Lauf der Zeit sei, so ist seine Nostalgie für das verschwindende Alte nicht zu übersehen. Wie auch immer, er schien einen Nerv bei seinen Landsleuten getroffen haben, das Pamphlet erreichte einige Popularität.
Einige Jahre später bestellte Tanizaki einen Architekten zu sich, der ihm ein neues Haus bauen sollte. Der Architekt kam und teilte Tanizaki mit Stolz mit: „Ich habe ihr ‚Lob des Schattens‘ gelesen, Mr. Tanizaki, und ich weiß ganz genau, was Sie möchten.“ Der überrumpelte Tanizaki antwortete: „Aber nein, ich könnte doch nie in solch einem Haus leben!“3
Der Komfort der Gegenwart war selbst dem Nostalgiker Tanizaki wichtiger. Die Retrospektive verklärt, die Prospektive erschreckt. Die nächsten Kapitel bringen eine Reihe von amüsanten und doch nachdenklich machenden Beispielen aus der Zeit unserer Vorväter und -mütter, die vor Neuerungen standen, die sie damals so bewegten wie uns heute künstliche Intelligenz, Selfies oder Roboter.
Sehen wir uns ein paar Innovation aus der Vergangenheit an, die wir heute wie selbstverständlich hinnehmen: den Fahrstuhl, den Mülleimer, die Impfung, den Regenschirm, den Teddybären, das Stethoskop, den Spiegel, Elektrizität und in einem Spezialkapitel die „Krankheiten“, die sie verursachen.
Die Hochzeitsnacht im bewegten Raum
Für deutsche Ingenieure stellten Fahrstühle nicht die Novität dar, wie sie es in den USA Ende des 19. Jahrhunderts waren. Hierzulande wurden die angepriesenen Fahrstühle eher als „Kinderspielzeug“ denn als ingenieurstechnische Herausforderung betrachtet. Schließlich waren Lifte für mehrstöckige Gebäude vergleichsweise langsam und überwanden nur geringe Höhen. In den deutschen Kohlegruben mussten die Seilaufzüge Tausende Meter unter Tage überwinden – und das ziemlich rasant. Schafften die ersten Fahrstühle in Gebäuden eine Geschwindigkeit von 1,5 Metern pro Sekunde, waren es um das Jahr 1890 zwischen drei bis fünf Meter.4
Kein Vergleich zu den mehr als zehnmal so schnellen Grubenliften. Diese durften aber von den Bergleuten selbst nicht benutzt werden, sondern waren ausschließlich für den Materialtransport zugelassen. Zu häufig rissen die Seile, obwohl sie regelmäßig genauestens inspiziert wurden. Diese Seilrisse in Ländern mit vielen Kohlengruben riefen andere Ängste hervor als in den USA, wo es mit Ausnahme des Gold Rushs ab dem Jahr 1849 keine historisch lange kollektive Erinnerung an Grubenunglücke dieser Art gegeben hatte. Erst die Verwendung von Stahlseilen ab Mitte des 19. Jahrhunderts rief auch bei den Bergleuten keine Angst vor Seilrissen mehr hervor.
Deutschland zählte zu den Aufzugpionieren. So hatte der aus Jena stammende Mathematiker Erhard Weigel in seinem im Jahr 1670 errichteten siebenstöckigen Haus eine Besonderheit eingebaut. Es handelte sich um einen mit Flaschenzügen betriebenen Aufzug. Apropos Flaschen: Die brauchte man in diesem Haus nicht, er hatte sich nämlich auch eine Weinleitung direkt aus dem Keller legen lassen.
Auch die österreichische Kaiserin Maria Theresia, die von 1740 bis 1780 regierte und in ihrer Regierungszeit nicht nur 16 Kinder gebar und Kriege führte, sondern auch bei Mahlzeiten immer kräftig zugeschlagen hatte, war in ihren letzten Lebensjahren bereits durch Krankheiten so geschwächt, dass sie die Stufen der Wiener Kapuzinergruft, in der die Habsburger Kaiser begraben liegen, nicht mehr bewältigen konnte. Für sie ließ man einen kleinen Lift einbauen, der es ihr ermöglichte, in der Krypta ihrer Eltern zu beten.
Um das Jahr 1850 wurden die ersten Lifte in den USA eingebaut, um das Jahr 1870 waren alle größeren Hotels an der Ostküste mit solchen ausgestattet, und um das Jahr 1890 gehörten sie fast schon zur baulichen Standardausrüstung. Dabei veränderten sie nicht nur die Bauweise und Bauhöhe, sondern auch, was als „Beletage“ in einem Gebäude galt. Bis zum Siegeszug des Aufzugs beschränkte sich die Höhe von Gebäuden auf sechs oder sieben Stockwerke, wobei die besten Wohnungen im ersten oder zweiten Stock lagen und die schlechtesten unter dem Dach. Mit dem Aufzug konnten Häuser nicht nur in die Höhe wachsen – und das um einen zentralen Aufzugsschacht, der bei Neubauten dann als Erster errichtet wurde. Auch die besten Wohnungen befanden sich ganz oben, weit weg vom Straßenlärm und Schmutz, mit Zugang zu viel Licht und gutem Ausblick.
Wegen der Angst vor einem Seilriss waren nicht nur die Baubehörden Aufzügen gegenüber skeptisch, auch die Liftbenutzer trauten der Sache nicht über den Weg. Aus Sicherheitsgründen bevorzugte man hydraulische Lifte. Bei dieser Vorrichtung sitzt die Kabine auf hydraulischen Stangen, die sie langsam in die Höhe heben. Die Nachteile dieser Konstruktion sind unter anderem, dass eine entsprechende Vertiefung im Boden für die Stangen ausgehoben werden muss, die Geschwindigkeit der Fahrkabine relativ langsam ist und nur eine geringe Zahl von Stockwerken abgedeckt werden kann.
Tatsächlich war die Angst vor einem Seilriss völlig unbegründet. Es gibt bis vor dem Ersten Weltkrieg nur einen Bericht über einen tödlichen Unfall, bei dem die Kabine abgestürzt war. Und dieser Fahrstuhl war hydraulisch betrieben worden. Im Pariser Grand Hotel starben am 24. Februar 1878 drei Personen, ausgelöst durch technisches Versagen. Ein Gussstück, mit dem die hydraulische Stange unten an der Fahrstuhlkabine befestigt war, war gebrochen. Das Gegengewicht der Kabine hatte diese nun getrennt von der hydraulischen Stange mitsamt dem Hotelverwalter, dem Liftboy und einem Hotelgast unkontrolliert in den letzten Stock befördert. Dort riss beim Zusammenprall mit der oberen Begrenzung die am Kabinendach befindliche Kabelverbindung, woraufhin die Kabine in die Tiefe stürzte und unten zerschmetterte.
Eine größere Gefahr ergab sich nicht durch die Fahrt mit der Kabine selbst, sondern beim Ein- und Aussteigen. Die heute üblichen Schiebetüren waren erst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgekommen. Vorher waren es vor allem Gittertüren gewesen, die manuell bedient werden mussten und die Kabine sicherten. Diese Gitter konnten auch dann geöffnet werden, wenn keine Fahrstuhlkabine bereitstand. Das führte dazu, dass immer wieder Menschen in die Tiefe stürzten. So ein Unfall ereignete sich im Warenhaus „Gerngroß“ auf der Mariahilferstraße in Wien, wie die Wiener Zeitung am 15. Mai 1916 zu berichten wusste:5
Der 47-jährige Angestellte Karl Rudolf wollte den Fahrstuhl benützen, um in den zweiten Stock zu fahren. Als der Fahrstuhl zwischen dem zweiten und dritten Stocke schwebte, stürzte Rudolf in die Tiefe des Schachtes und blieb mit schweren Verletzungen tot liegen. Es wird vermutet, daß Rudolf der Meinung war, der Fahrstuhl halte noch im zweiten Stock, während er sich bereits nach dem dritten Stock in Bewegung gesetzt hatte. Rudolf dürfte versucht haben auszusteigen und hierbei in die Tiefe gestürzt sein.
Wenn die Fahrstuhltüren die Benutzer nicht vor dem Absturz schützten, dann töteten sie diese manchmal gleich selbst. So berichtet das Neue Wiener Journal am 13. August 1904 von einem „schrecklichen Unfall“ in Berlin, den Prinz Friedrich Leopold als Augenzeuge miterlebte:6
Ein entsetzlicher Fahrstuhlunfall hat sich heute Nachmittags um 4 Uhr vor den Augen des Prinzen Friedrich Leopold zugetragen. Der Prinz, der bekanntlich in den nächsten Tagen Potsdam verläßt, um nach Ostasien abzureisen, besuchte heute die Firma Tippelskirch & Comp. in der Potsdamerstraße, um eine Reiseausrüstung zu besichtigen. Darauf bestieg der Prinz mit seinem Adjutanten den Fahrstuhl, der vom Wärter in Bewegung gesetzt wurde. Der Wärter macht einen Fehltritt und gerieth mit seinem Körper zwischen den Lift und die eisernen Schienen. Man brachte den Fahrstuhl sofort zum Stehen und alarmirte die Feuerwehr. Es dauerte lange Zeit bevor es gelang, den Unglücklichen aus seiner furchtbaren Lage zu befreien. Bald nach seiner Befreiung starb der Unglückliche unter den Händen der herbeigeholten Aerzte. Erst dann wurde der Prinz und der Adjutant aus dem Fahrstuhl gebracht.
Wenigstens war der Prinz unversehrt geblieben. Erst um das Jahr 1890 herum konnte mittels einer neuen Erfindung – elektrische Kontakte in den Türen und Kabinen – das Problem des unbeabsichtigten Türöffnens gelöst werden.
Weniger