Future Angst. Mario Herger
Im Jahr 1890 wurde dieses Syndrom im Scientific American zum ersten Mal vorgestellt.
Der Aufzug in modernen großen Gebäuden hat nur einen Nachteil, nämlich die Krankheit, die er verursacht, wenn die Kabine plötzlich angehalten wird. Für Menschen mit einer empfindlichen Konstitution ist diese Krankheit oft eine so ernste Angelegenheit, dass der Aufzug für sie ein gefährlicher Segen ist. … Der Stillstand der Aufzugskabine bringt Schwindel im Kopf und manchmal Übelkeit im Magen mit sich. Die inneren Organe wollen in der Kehle aufsteigen.
Ähnliche Beobachtungen wurden schon Jahrzehnte vorher bei der ersten Benutzung von Eisenbahnen beobachtet, bei der manche Fahrgäste an nervösen Irritationen zu leiden begonnen hatten. Selbst wenn die Benutzung von Aufzügen üblich geworden war, so doch vor allem zum Hochfahren. Den Abstieg machte man nach wie vor über das Treppenhaus – bis die ersten forschen „Abenteurer“ den Aufzug auch zum „gefährlichen Runterfahren“ zu benutzen begannen. So schildern in der zweiten Fallstudie in Sigmund Freuds und Josef Breuers „Studien zur Hysterie“ die Autoren von einer plötzlichen neurotischen Episode bei der Patientin „Emmy v. N.“:
Auf Nachfrage erzählt sie, dass sich die Pension, in der die Kinder hier wohnen, im fünften Stock befindet und mit dem Aufzug erreichbar ist. Gestern bat sie die Kinder, den Aufzug auch für die Abfahrt zu benutzen, und wirft sich nun vor, dass der Aufzug nicht ganz zuverlässig sei. […]
Wie auch immer, vier Jahre nach ihrer ersten Erwähnung im Scientific American zitierte die Washington Post einen Arzt aus Chicago mit den Worten:
Die Fälle von Aufzugskrankheit nehmen zu. Sie wird jetzt gut definiert. Ihre Auswirkungen finden sich in einer erhöhten Anzahl von Fällen von Gehirnfieber und gestörtem Nervensystem.
Diese zuversichtliche Bekanntgabe der Ergebnisse des Chicagoer Arzt war offenbar die letzte Erwähnung der Krankheit in amerikanischen Publikationen. Rechtzeitig mit dem Verschwinden dieses Syndroms hatte bereits ein anderes seinen Platz eingenommen – und ist geblieben: Klaustrophobie. Die Angst vor engen geschlossenen Räumen wurde das erste Mal zwischen den Jahren 1870 und 1880 erwähnt, also genau dann, als Aufzüge vermehrt zum Einsatz kamen.
Fahrstühle waren auch der Schauplatz einer Reihe von Begegnungen und Geschichten. Das Buch „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann hat den Lift in einem Pariser Grand Hotel als zentralen Schauplatz, in dem Felix Krull als Liftboy arbeitet. Der Film „Abwärts“ aus dem Jahr 1984 handelt von vier Personen, die an einem Freitagabend in einem Frankfurter Bürohochhaus im Aufzug stecken bleiben und während des stundenlangen Wartens ihre Hölle miteinander und durch sich erleben. In vielen Actionfilmen mit von Jackie Chan, Angelina Jolie oder Jason Statham gespielten Helden sind Aufzugskabinen und Liftschächte Orte dramatischer Kämpfe auf engstem und gefährlichem Raum.
Spezielle Herausforderungen stellten Aufzüge für höfische Etikette und Protokolle dar. Zuerst ist da einmal die Frage zu klären, ob man in einem Aufzug den Hut abzunehmen hat oder nicht oder wie eng man zusammensteht. Ist das noch ein öffentlicher oder mehr ein privater Raum? Die ersten Aufzüge waren wie Zimmer eingerichtet, mit einem Sofa, Kandelabern und aufwendigen Glasverzierungen. Delikater war das, wenn wir von Herrschenden sprechen. Die Hochzeit der einzigen Tochter von Kaiser Wilhelm II., Prinzessin Viktoria Luise, im Jahr 1913 war die Quelle großer Sorge. Das beste Hotel in Berlin, das Hotel Adlon am Pariser Platz, sollte 800 hochrangige Gäste aus aller Welt beherbergen. Die Komplikation kam – wie kann es anders sein? – durch den Aufzug und die Attitüden der feinen Herrschaften zustande.
So hatte der Schwager des Kaisers, Herzog Ernst Günther von Schleswig-Holstein, darauf bestanden, mit seiner Gattin im vierten Stock des Hotels untergebracht zu werden. Ein paar Tage vor der Hochzeit mussten der Herzog und die Herzogin aber in das zweite Stockwerk umziehen, weil der russische Zar dem Herzogenpaar einen Höflichkeitsbesuch abstatten wollte und es für den Zaren nicht infrage kam, den Aufzug zu benutzen. Zu viele Fragen waren und sind auch heute noch bei der Aufzugsbenutzung von Herrschenden offen. So war dem russischen Zaren nicht zuzumuten, mehrere Minuten in der Enge der Fahrstuhlkabine mit Adjutanten und anderen auszuharren. Und im zaristischen Hofprotokoll, das noch aus der Zeit Katharina der Großen stammte, fehlten natürlich Vorschriften zur Aufzugsbenutzung. Der russische Präsident Putin verwendet bis heute keinen Aufzug, weil deren Benutzung für die Leibgarde und den Sicherheitsdienst ein zu großes Risiko darstellt.
Doch auch als Schauplatz vergnüglicher und anzüglicher Geschichten dienten Aufzüge schon früh. Die Geschichte eines jungen Brautpaares schien in den Rubriken „Vermischtes“ bei der Boulevardpresse um die Wende des 20. Jahrhunderts besonderen Anklang gefunden zu haben. Sie erschien im Laufe des Jahres in Dutzenden Blättern. Heute würde man sagen, „sie ging viral“. Im Jahr 1909 beispielsweise druckte der Bludenzer Anzeiger dieses „Missgeschick“ aus Berlin ab.7 Ein frisch vermähltes Brautpaar war nach den Feierlichkeiten auf dem Weg in sein neues Zuhause, das über den damals noch unglaublichen Luxus von Nachtbeleuchtung und eines Aufzugs verfügte. Offenbar benutzten die jungen Eheleute den Fahrstuhl das erste Mal, denn der Ehemann stellte sich beim Einsteigen ungeschickt an. Ob wegen des konsumierten Alkohols, der Müdigkeit, des Wunsches nach baldiger Vollziehung der Ehe oder aus all diesen Gründen ist unklar. Jedenfalls ging genau in dem Moment die Nachtbeleuchtung aus, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte. Sofort tastete der Gatte in der Dunkelheit nach dem Lichtschalter, erwischte aber den Halteknopf. Der Aufzug kam mit einem Ruck zum Stehen, was die junge Gattin heftig erschreckte. Voller Furcht bat sie ihren Mann, doch bitte keinen weiteren Knopf mehr zu drücken. Dieser – gehorsam, wie es nur frische Ehemänner sein können – folgte dem Wunsch seiner weinenden Gemahlin. Beide schliefen im Fahrstuhl ein. Am frühen Morgen entdeckte dann der Pförtner zu seiner Überraschung die beiden fest umschlungen auf dem Fahrstuhlbänkchen und befreite sie aus der misslichen Lage, die sie „in Seligkeit schwebend“ verbracht hatten.
Noch im Jahr 1945 gab es in Manhattan 15.000 Aufzugführer beiderlei Geschlechts, die am 24. September 1945 in Streik traten und damit 1.500 Bürogebäude ohne funktionierende Aufzüge hinterließen. Die Angestellten mussten lange Wege aus den obersten Stockwerken antreten. Solche Streiks richteten großen finanziellen Schaden für die Firmen in diesen Wolkenkratzern an. Noch immer gab es Liftboys und Elevator Girls, obwohl schon damals die Technologie für automatische Lifte vorhanden war. Aber immer noch war die Angst zu groß, in einem defekten Aufzug Hunderte Meter im leeren Schacht nur an einem Seil hängend ohne Liftboy verweilen zu müssen. Dabei hatte der Fachverband der Aufzugsindustrie (Elevator Industry Association) 1952 in einer Studie festgestellt, dass automatische Lifte fünfmal sicherer waren als solche mit Aufzugführer.8
Mitte der 1950er-Jahre wurden nach einigen weiteren Streiks die Bürogebäude schließlich vollständig auf automatische Aufzüge umgerüstet. Heute erschiene uns ein Liftboy als merkwürdig. Doch die Diskussion dürfte uns bekannt vorkommen, nur die Technologie hat sich geändert. Heute führen wir dieselben Diskussionen um die Sicherheit in von Menschen gesteuerten Autos und von autonomen Autos.
Der Präfekt, der dem Abfalleimer seinen Namen gab
Mit dem starken Wachstum der Städte in Europa, hervorgerufen durch die industrielle Revolution und die einsetzende Landflucht, standen die noch zumeist einen sehr dörflichen Charakter ausstrahlenden Städte des frühen 19. Jahrhunderts vor neuen Herausforderungen. Wohnungen mussten errichtet und Stadtmauern abgerissen werden und durchgehend gepflasterte Straßen sollten den Staub und Matsch reduzieren und sie bei jedem Wetter befahr- und begehbar machen. Straßenmobiliar wie Laternen, Sitzbänke, öffentliche Zeit- und Wetteranzeiger oder Urinale kamen als neue städtische Elemente hinzu, die das zivilisierte und hygienische Zusammenleben großer Menschenmassen ermöglichen sollten.
Auch der Abfall und der damit einhergehende Gestank und die Seuchengefahr wurden zu einem Thema. Abfälle wurden einfach auf die Straßen oder in nahe Flüsse gekippt. Pferdekot und dessen Gestank waren in den Straßen der Stadt allgegenwärtig. Die Pferde, die als Arbeitstiere zum Einsatz kamen, lebten im Durchschnitt nicht länger als zwei Jahre. Oft kollabierten sie mitten auf der Straße und wurden dort tagelang liegen gelassen, bis sie ausgetrocknet genug waren, damit man sie fortschaffen konnte.
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