Future Angst. Mario Herger
55 durch Omnibusse und Wagen, 23 durch Leuchtgas und ganze fünf durch einen Stromschlag. Man sieht schon, auch an der Aufmerksamkeit gegenüber den Gefahren des Neuen hat sich bis in die heutige Zeit nichts geändert.
Doch selbst diese Geburtswehen konnten den Siegeszug des elektrischen Lichts nicht aufhalten, zu groß waren die Vorteile. Nach und nach verschwanden die Gaslaternen fast vollständig aus dem Straßenbild, auch wenn Nostalgiker die von Gaslaternen ausgehende warme Atmosphäre vermissen und sich über das „kalte“ elektrische Licht beschweren. Im Jahr 1924 bedauerte die New York Times:31
Das Laternenanzünderwesen in der großen Metropole ist Opfer zu großer Fortschritte geworden.
Ähnliche Kritik hört man vor wenigen Jahren, als elektrische Lampen durch andere elektrische Lichttechnologie ausgetauscht wurden. Filme in Los Angeles zeigen oftmals eine nächtliche Panoramaaufnahme der Stadt. Die Stadt bildet den Hintergrund für einen Filmhöhepunkt im wahrsten Sinne. Das Liebespaar küsst sich das erste Mal, die wilde Verfolgungsfahrt findet dort ein Ende mit einem der Fahrzeuge den Steilhang hinunterstürzend oder ein Schusswechsel zwischen den Guten und den Bösen hinterlässt mindestens eine Leiche, wenn nicht mehrere.
Die nächtliche Atmosphäre der Stadt ist Filmfans seit Jahrzehnten durch den gelblich-goldenen Schein der städtischen Lampen vertraut. Doch dieser änderte sich um das Jahr 2013, weil die Stadtverwaltung damit begonnen hatte, die 210.000 Natriumdampflampen gegen LED-Leuchten auszutauschen. Der Vorteil für die Stadt lag auf der Hand: LED-Leuchten verbrauchen viel weniger Strom und ihr Licht ist heller. Aber ihr Licht wird auch als kälter wahrgenommen als das der Natriumdampflampen. Und damit habe sich die Ästhetik von Filmen in Los Angeles für immer verändert.32 Für die Filmemacher selbst ist das eine Erschwernis. Obwohl das Licht der alten Natriumdampflampen monochromatisch war und die Ausleuchtung eines Filmsets erschwerte, gab es der Szene eine einzigartige Stimmung. Die neuen blau-weiß leuchtenden LED-Lampen hingegen zeigen aufgrund ihrer Eigenschaften manche Farben gar nicht oder nicht richtig an, was selbst in der Postproduktion nicht korrigiert werden kann.33
Man muss gar nicht an die Westküste der USA, um eine Diskussion zu Straßenlampen und deren Lichtspektrum zu führen. Die Fotos von Chris Hadfield, der von 2012 bis 2013 ein halbes Jahr als Astronaut auf der Internationalen Raumstation ISS verbrachte, zeigen das nächtliche Berlin, das durch die Lichtfarben der Straßenlampen noch sauber in Ost- und Westberlin getrennt werden kann. Während im Westen in kühlem Weiß strahlende Leuchtstoffröhren und Quecksilberdampflampen im Einsatz sind, zeigt der östliche Teil warmes gelbliches Licht, das durch die Natriumdampflampen erzeugt wird.34
Der Ringtheaterbrand in Wien hatte weltweite Konsequenzen. Neben der Einrichtung freiwilliger und später berufsmäßiger Feuerwehren wurden strengere Vorschriften zu Fluchttüren und brandhemmender Inneneinrichtung in Vorstellungsräumen erlassen, die solche Katastrophen in Zukunft verhindern sollten. Welche Art von Lichttechnologie man auch einführte, die Bedenken blieben dieselben und Brandgefahr war immer gegeben. Eine umgefallene Kerze, ausströmendes Gas oder ein blankes Kabel konnten die Ursachen sein. Noch etwas blieb gleich: Wann immer man in Wien von einer erfreulichen oder unerfreulichen Begebenheit in einem Theaterhaus spricht, darf dabei nicht vergessen werden zu erwähnen, welches Stück von welchem Autor oder Komponisten auf dem Plan stand. Somit wissen wir auch heute noch, dass im Ringtheater Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ und Rossinis „Der Barbier von Sevilla“ die Aufführungen am ersten beziehungsweise am letzten Spieltag waren.
Fratzen und Krankheiten
Was ein Mann schöner ist wie ein Aff, is ein Luxus!
„Tante Jolesch“ von Friedrich Torberg
Abgesehen von den Erfindern und Benutzern neuer Technologien scheint eine andere Profession von diesen ebenso zu profitieren: die Ärzteschaft. Wir haben bereits von der Aufzugskrankheit gehört, die Fahrstuhlbenutzer bei der Einführung dieser Innovation befiel. Zuerst, wenn es nach oben ging, später, als man Aufzüge auch zum – man halte nun den Atem an – zum Herunterfahren benutzte. Die ersten Eisenbahnen sorgten für die „Eisenbahnkrankheit“, die durch die hohen Geschwindigkeiten und das Rütteln der Waggons verursacht wurde.35 Sigmund Freuds Theorie war, dass der Körper einen „Schutzschild gegen Stimuli“ hatte, der bei fortwährendem Ausgesetztsein gegenüber diesem Reiz zu einer graduellen Desensibilisierung der „Bewusstseinsschicht der Haut“ führe.36
Neben Krankheitssymptomen, die durch Bewegung zu zeitweiligem Schwindel und Erschöpfung führten, identifizierten die Ärzte noch weitere Krankheiten, die lang anhaltendere Effekte hatten – so zumindest meinten es die Experten. Wer will denen schon widersprechen? Es handelte sich dabei um „Faces“, also um „Gesichter“ oder korrekter „Fratzen“, die durch die neue Technologie entstanden.
Das Fahrrad war eines der ersten dieser Innovationen, bei denen das beobachtet wurde. Das „bicycle face“ oder Fahrradgesicht entstand durch die Geschwindigkeit, mit der tollkühne Velozipedisten durch die Gegend sausten und nicht nur ahnungslose Passanten verschreckten, sondern durch den Winddruck sich selbst der Gefahr aussetzten, ihre Gesichter zu entstellen. Der auf das Gesicht einwirkende Wind verziehe die Wangen und das Kinn, zwinge zum Zusammenkneifen der Augen, lasse die Ohren flattern und hinterlasse – sofern man nicht sorgsam genug im Geschwindigkeitsrausch sei und die Lippen zu einem Lächeln öffne – auf den Zähnen die Spuren unvorsichtiger Insekten, die dort vorzeitig ihr Ende fanden. Speziell weibliche Velozipedisten wurden davor gewarnt mit dem Hinweis, dass sie aufgrund dieser Entstellungen auf ewig alte Jungfern bleiben würden. Okay, das mit den Insekten auf den Zähnen habe ich erfunden, das mit der alten Jungfer stimmt aber so.
War das Fahrrad schon gefährlich, dann erst recht das Automobil. Das Automobilgesicht („automobile face“) wurde erwartungsgemäß auch als Krankheit identifiziert und folgerichtig diese Erfindung des Teufels verdammt. Als dann Orville und Wilbur Wright im Jahr 1908 die ersten öffentlichen Schauflüge mit ihrem Flyer in Le Mans und in Washington, D. C., durchführten und es klar wurde, dass Flugzeuge ein reales Ding sind, identifizierte noch im selben Monat der erste Arzt – ein Phrenologe, also „Schädelkundler“ – das wenig überraschend so benannte „aeroplane face“ („Flugzeuggesicht“), das auf charakteristische Eigenschaften von Flugzeugpionieren und damit die Weiterentwicklung der Menschheit hinweisen ließ. Die New York Times vom 30. August 1908 berichtete darüber mit humoristischer Skepsis:37
Ein gewisser Londoner Phrenologe, der sich selbst als Entdecker des „Fahrradgesichts“ und des „Automobilgesichts“ bezeichnet, hat nun mithilfe einer illustrierten Arbeit das „Flugzeuggesicht“ entlarvt. Er hat einige Zeit lang die Gesichtszüge der Herren WRIGHT, FARMAN, DELAGRANGE, BLERIOT und SANTOS-DUMONT betrachtet und bestimmte, allen gemeinsame Merkmale notiert und tabellarisch aufgelistet, die sich in saubere Unterscheidungen und Launen von Herz und Verstand verjüngen.
[…] Und aus diesen Daten zieht der Phrenologe die Folgerung, dass mit dem Fortschreiten der Wissenschaft und Kunst des Fliegens alle, die ihr frönen, ein Gehirn erwarten können, das ungewöhnlich über den Augenbrauen massiert ist und durch Vernachlässigung in anderen Richtungen leidet und schrumpft […]
Das alles ist interessant, wenn auch nicht absolut überzeugend. Mark Twain, so meinen wir, war es, der einmal glaubte, die Gesetze der Physiognomie so festgelegt zu haben, dass er den Beruf eines jeden auf einen Blick erkennen konnte. Er wählte zwei Herren aus und erklärte nach einer sorgfältigen Untersuchung ihrer Gesichter den einen zum Humoristen und den anderen zum Bestatter. Auf persönliche Nachfrage entdeckte er seinen Fehler. Das lächelnde und joviale Gesicht gehörte dem Bestatter, und die traurige und tränenüberströmte Visage war die des Humoristen.
Zu diesen furchtbaren Gesichtsentstellungen gesellten sich noch das „U-Bahn-Gesicht“ („subway face“)38, das „Golf-Gesicht“ und das „Pingpong-Gesicht“39, das „Kino-Gesicht“ („moving picture face“)40, das Gesicht, das man im Jahr 1910 aufsetzte, sofern man über ein „sehendes Telefon“ verfügt,41 und das „Radio-Gesicht“, von dem Frauen im Jahr 1925 in England sprachen, weil sie sich beim konzentrierten