Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext. Группа авторов
für Dolmetscher:innen nicht vorstellbar (vgl. Mouzourakis 2003). Jüngste Entwicklungen brachten aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung der Dolmetschpraxis eine Vielfalt an technikgestützten Dolmetschformen hervor. Hiervon umfasst sind sowohl dolmetschrelevante Arbeitsprozesse in der Vor- und Nachbereitung unterstützt durch CAI Tools (vgl. Kalina & Ziegler 2015, Fantinuoli 2018a) als auch die Wiedergabe des Ausgangstextes per Video oder Audio aus der Ferne (vgl. Braun & Taylor 2012), die schriftliche Wiedergabe eines gesprochenen Textes beim Schriftdolmetschen (vgl. Platter 2019) oder als Live-Untertitelung mittels automatischer Spracherkennung (vgl. Romero-Fresco 2019). Selbst die Dolmetschausbildung ist auf den Technikeinsatz angewiesen. Mit der allgemeinen Digitalisierung nehmen TerminologiedatenbankenTechnologieprozessorientierte Technologie, digitale Notizengeräte und andere Hilfsgeräte eine immer größere Rolle in der Dolmetschausbildung und -praxis ein. Schließlich ist auch der Einsatz von künstlicher Intelligenz beim maschinellen Dolmetschen als technikgestützte Dolmetschform zu nennen.
2 Grundsätze der technikgestützten Dolmetschung
Mit dem zunehmenden Einsatz der Ferndolmetschformen ist eine Auseinandersetzung mit den grundlegenden Unterschieden zwischen den verschiedenen Ausführungsarten erforderlich. Das video- oder telefonbasierteTechnologiesettingorientierte Technologie bidirektionale Dolmetschen verlangt aufgrund der technikbedingten Realisierungsform gezielte und auf die jeweils eingesetzte Technik angepasste Dolmetschstrategien. Im Vergleich zum Dolmetschen vor Ort können für das audio- und videobasierte Dolmetschen folgende vier Grundsätze vorgeschlagen werden (Havelka 2020).
Grundsatz: Anders als vor Ort
Als kommunikative Handlung ist das Dolmetschen an die Realisierungsbedingungen des eingesetzten Kommunikationsmediums gebunden. Die technisch bedingte interpersonale Kommunikation unterliegt anderen Gegebenheiten als jenen vor Ort (vgl. Friebel et al. 2003:4). Hierbei ist unter anderem der Einsatz von nonverbaler Kommunikation und Backchannel-Signalen als Feedback zur Wahrnehmungsbereitschaft zu nennen (vgl. Havelka 2018b:114). Demzufolge ist das Dolmetschen aus der Ferne als eine eigene Dolmetschform zu verstehen.
Grundsatz: Digitale Kompetenzen
Digitale KompetenzenKompetenzendigitale Kompetenzen stellen einen Bestandteil des ganzheitlichen Dolmetschkompetenzmodells (vgl. Kadrić 2011) dar. Beim Dolmetschen aus der Ferne, z.B. audio- und videobasiertem Dolmetschen, werden die Anforderungen an die digitalen Kompetenzen von Dolmetschenden deutlich erweitert (vgl. Havelka 2019b: 170). Um die dolmetschrelevanten digitalen Kompetenzen zu erfassen, kann der Referenzrahmen für Digitale Kompetenzen (DigComp) der Europäischen Union (2018) herangezogen werden, der grundsätzlich aus fünf Kompetenzbereichen besteht: Informations- und Datenkompetenz, Kommunikation und Kooperation, Erstellung digitaler Inhalte, Sicherheit und Problemlösung. In Bezug auf das Dolmetschen mit IKT sind die genannten Kompetenzbereiche auf folgende Weise zu verstehen:
Informations- und DatenkompetenzDie terminologische Vorbereitung ist vor jedem Dolmetschauftrag unumgänglich. Dieser Kompetenzbereich umfasst jene Fähigkeiten, die eine auftragsbezogene Internetrecherche zur Terminologie, das Filtern, das Auswählen von relevanten Hintergrundinformationen sowie das Speichern und Verwalten der Terminologie ermöglichen.
Kommunikation und KooperationDer technikgestützte Austausch, die digitale Zusammenarbeit und Nutzung von IKT für die audio- und videobasierte Dolmetschung sind von diesem Kompetenzbereich umfasst. Grundlegend sind hierbei der Einsatz technikbedingter Dolmetschstrategien sowie eine an die eingesetzte Technik angepasste Vorgehensweise.
Erstellung digitaler InhalteAnders als bei einer Dolmetschung vor Ort entstehen durch die audio- und videobasierte Dolmetschung neue digitale Inhalte, die über digitale Wege verbreitet werden können. Der Umgang mit auditiven und visuellen Daten ist in diesem Kompetenzbereich zentral.
SicherheitDie geltenden Datenschutzbestimmungen in Hinblick auf die Datensicherheit von Geräten und den DatenschutzDatenschutz von Inhalten und personenbezogenen Daten und auch auf den Schutz des sozialen, physischen und psychischen WohlbefindensFerndolmetschendigital wellbeing (engl. digital wellbeing) sind von diesem Kompetenzrahmen umfasst.
ProblemlösungDer Kompetenzbereich Problemlösung umfasst sowohl die Lösung von technischen Problemen als auch den kreativen Einsatz von technikgestützten Lösungen im Dolmetschprozess.
Grundsatz: Wahrnehmung
Die RealisierungsbedingungenFerndolmetschenRealisierungsbedingungen der audio- und videobasierten Gesprächssituation sind grundlegend von den jeweiligen technikbedingten Wahrnehmungsmöglichkeiten abhängig. Die Wahrnehmung erfolgt in der Gesprächssituation über zwei Informationsquellen: die auditive und die visuelle Informationsquelle. Situative Hinweise werden durch den Kontext der Dolmetschung generiert. Auditive, visuelle und situative Hinweise aus der technikgestützten Gesprächssituation können getrennt voneinander oder als ganzheitliches Phänomen auf den translatorischen Handlungsauftrag umgelegt werden. Die hier zum Tragen kommende referentielle Kompetenz ist als eine metakommunikative Kompetenz zu verstehen (vgl. Havelka 2018b: 158ff.).
Grundsatz: Höhere Belastung
Bisherige Untersuchungen zum videovermittelten Dolmetschen zeigen, dass Ferndolmetschen bei Dolmetscher:innen zu Stressgefühlen führen, die Ermüdung beschleunigen (vgl. Moser-Mercer 2003) und EntfremdungsgefühleDigitalisierungEntfremdung (vgl. Mouzourakis 2003) sowie ein Gefühl von Kontrollverlust (vgl. Moser-Mercer 2005) verursachen kann. Die höhere Belastung kann auf zwei Formen von Einflussfaktoren zurückgeführt werden: interne und externe Einflussfaktoren. Als externe EinflussfaktorenFerndolmetschenexterne Einflussfaktoren sind umgebungs- und technikbedingte Störfaktoren zu verstehen. Interne EinflussfaktorenFerndolmetscheninterne Einflussfaktoren hängen direkt mit der Person der DolmetscherIn zusammen und können durch mangelnde terminologische Vorbereitung oder fehlende digitale Kompetenz, aber auch nicht technikangepasste Dolmetschstrategien verstärkt werden. Implikationen der Ferndolmetschung, wie die räumliche und soziale Distanz, können den Vertrauensaufbau zwischen den Gesprächsbeteiligten erschweren (vgl. Braun 2004:23, Havelka 2018b: 115ff.).
3 DACH-Länderüberblick nach Einsatzbereichen
Anhand ausgewählter Bereiche, in denen das Ferndolmetschen im Einsatz ist, wird ein Länderüberblick geboten, um die derzeitige technikgestützte Translationskultur zu skizzieren. Hierbei wird der Fokus vor allem auf das video- und audiobasierte Ferndolmetschen im Gerichts- und Gesundheitswesen gesetzt.
3.1 GesundheitswesenDolmetschenim Gesundheitswesen
Das medizinische Dolmetschsetting ist vor allem durch die hohe Spontanität des Dolmetschbedarfs gekennzeichnet. Als eine Lösung zur Überwindung von spontanen sprachlichen Hürden kann das TelefondolmetschenTelefondolmetschen eingesetzt werden (vgl. Bischoff & Grossmann 2007). In Österreich wird Telefondolmetschen über Sprachedirekt seit 2009 im medizinischen Setting angeboten (vgl. SpracheDirekt GmbH 2020), während in der Schweiz das Telefondolmetschen seit 2011 vonseiten des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) und AOZ eingesetzt wird und stetig steigt (vgl. BAG 2020). Der videobasierte Einsatz hingegen wird in der Schweiz erst seit 2019 eingesetzt und dokumentiert (vgl. Interpret 2019). Aufgrund des hohen Bedarfs ist das video- und audiobasierte Dolmetschen in Deutschland in zahlreichen medizinischen Einrichtungen (vgl. Harrer & Kupfer 2017, Borde 2018) sowie in der medizinischen Beratung zu einer notwendigen Alternative für das Dolmetschen vor Ort geworden. Auf den zunehmenden Einsatz des Ferndolmetschens im GesundheitswesenDolmetschenim Gesundheitswesen hat sogar der größte deutsche Berufsverband für Dolmetschen und Übersetzen mit Empfehlungen in Form eines Positionspapiers reagiert (vgl. Bundesverband der Übersetzer und Dolmetscher – BDÜ 2018). Der Forschungsstand zum video- und telefonvermittelten Dolmetschen im DACH-Raum hingegen ist noch gering1.
Der Überbegriff Ferndolmetschen oder auch Teledolmetschen (engl. remote interpreting) umfasst sowohl das audio- als auch das videobasierte Dolmetschen.FerndolmetschenRealisierungsbedingungen Das audiobasierte