Entwicklungslinien des Dolmetschens im soziokulturellen Kontext. Группа авторов
Eltern in der Lage, Sprache weiterzugeben und unter welchen Umständen werden Sprecher:innen ihre verschiedenen Ressourcen ausbauen oder weiter nutzen? Der US-amerikanische Anthropologe Paul Kroskrity (2018) stellt am Beispiel von zwei indigenen Gemeinschaften dar, wie sich Sprachideologien, also die Vorstellung, welche Sprachen zukunftsweisend, welche unabdingbar und welche eventuell mit Erfahrungen von Unterdrückung verbunden sind, auf den Erhalt von Sprachen auswirken. In jenem Dorf, das in der eigenen indigenen Sprache Möglichkeiten für zukünftige Projekte, u.a. nachhaltigen Tourismus, sah, wurde der Weitergabe und Verwendung größerer Stellenwert eingeräumt. Er unterstreicht aber auch, dass diese Ideologien nicht notwendigerweise von allen geteilt werden bzw. dass auch einander widersprechende Ideologien zur selben Zeit koexistieren können und je nach Bedarf aktiviert werden. Für den Sprachunterricht, aber auch für Institutionen und Behörden ist ein Verständnis der hegemonialen Sprachideologien von großer Bedeutung, können sie doch erklären, warum sich Sprecher:innen etwa im Kontakt mit Behörden nicht ihrer Erstsprachen, sondern z.B. ehemaliger Kolonialsprachen bedienen bzw. generell die Sprachwahl in verschiedenen Situationen nicht nur utilitaristisch motiviert ist. Gleichzeitig stärken Initiativen, die z.B. Dolmetschung aus Erstsprachen ermöglichen und diese nicht als nur lokal relevante Dialekte abqualifizieren, das Ansehen von Heritagesprachen und transportieren auch die Botschaft, dass diese gesehen und gehört werden (können).
Für manche Sprecher:innen erscheint die Verwendung ihrer Erst- oder Heritagesprachen an einem bestimmten Punkt unmöglich, etwa als Folge traumatischer Erfahrungen. Busch und Reddemann (2013) beschreiben den Fall einer Frau, die als Kind die Sprache ihres kriegstraumatisierten Vaters eng verbunden mit Misshandlungen erlebte und sich daraufhin in andere Sprachformen zurückzog bzw. versuchte, die Familiensprache so vollständig wie möglich zu verdrängen. Im Zuge einer therapeutischen Behandlung konnten andere sprachliche und kommunikative Ressourcen, etwa spirituelle Ausdrucksformen und auch Kommunikation mit Tieren, aktiviert werden und über diese gewählten Mittel konnte dann auch die Sprache der Kindheit wieder zugänglich werden. Auch in therapeutischen Settings ist die Bedeutung von Sprachen also zu verhandeln und auch die Erstsprache bietet bisweilen nicht privilegierten, sondern im Gegenteil sehr problematischen Zugang.
4.3 Zugang zu neuen kommunikativen Ressourcen – gewollt oder erzwungen
Durch individuelle Mobilität aber auch veränderte Rahmenbedingungen finden sich Sprecher:innen in Situationen, in denen sie für sie neue sprachliche Ressourcen erschließen möchten oder müssen. Im Fall von Gerichten oder Behörden, die mit Asylangelegenheiten oder Aufenthaltsrechtssachen befasst sind, aber auch im Gesundheitswesen sind diese Ressourcen ausschlaggebend für das weitere Wohlergehen (Pöllabauer 2013). Bereits Duranti & Goodwin (1992) beschreiben die Herausforderungen, die das Gesprächsereignis Verhandlung an die Beteiligten stellt und aktuelle Forschung zu Dolmetschungen in Gerichtsverfahren (Inghilleri 2011, für Österreich auch Dorn et al. 2014) unterstreicht diese Analysen: Handlungsmöglichkeiten, Rederecht und Informationserhalt sind unmittelbar an Zugang zu den relevanten sprachlichen Ressourcen gebunden, entweder durch Dolmetschung, durch Beratung oder eigene Kenntnisse. Für mehrsprachige Sprecher:innen, die auf ein einsprachig vorgestelltes System treffen, ergeben sich Schwierigkeiten aus der ungenügenden Passung und viele schildern ihr Erleben von unzureichender Ausstattung (Maryns 2005). Für Dolmetscher:innen bietet wiederum die Rolle als gate-keeper (Pöllabauer 2012) besondere Herausforderungen. Das wiederholte Erleben von kommunikativen Ausschlüssen stellt einen wesentlichen Faktor dar, warum mehrsprachige Sprecher:innen gegenüber manchen Sprachen aber auch Kommunikationssituationen Widerstände entwickeln.
In der Frage, wie Zugang zu sprachlichen Ressourcen selbstbestimmt erfolgreich sein kann, können wir von Initiativen wie Community Medien (Steinert et al. 2006, COMMIT 2016) lernen: In der Studie Spaces of Inclusion (Bellardi et al. 2018) standen die Vermittlungsleistungen im Zentrum, die sich durch Mitarbeit und Engagement in nicht-kommerziellen Medieninitiativen ergeben. Dabei waren unerwartete sprachliche Allianzen zu beobachten, die vor allem die Relevanz situationsadäquater Angebote unterstrichen. Translokale sprachliche ‚Mittlungshilfen‘ (etwa in Form von Onlinewörterbüchern) nehmen Einfluss auf das mehrsprachige Erleben von Sprecher:innen, aber auch die erlebte Verbindung von aktueller Umgebung und Herkunftsland. Für Menschen, deren Lebensmittelpunkt sich erst kürzlich verlagert hat, können transnationale Medienangebote demgemäß auch eine über das Internet hergestellte Verbindung zu bisherigen sozialen Netzwerken sein. Als besonders relevant hat sich in diesem Zusammenhang der selbstbestimmte Umgang mit Anfragen, aber auch die Möglichkeit und nicht Verpflichtung zu sprachlicher Unterstützung herausgestellt. Fachliche Kenntnisse und Expertisen können leicht durch unbedachte Angebote, die auf sprachliche Hilfestellung abzielen, entwertet werden – gleichzeitig beschreiben Trainer:innen in den Freien Radios aber auch, dass gerade Informationstage und Workshopangebote sprachlich herausfordernde Situationen darstellen, in denen Mittlung, aber auch Zeitreserven und die Bereitschaft zur gemeinsamen Kommunikation notwendig für das Gelingen der Angebote sind. Aus Rückmeldungen von Teilnehmer:innen lässt sich schließen, dass Personen ihre fehlenden Sprachkenntnisse als Hindernis erleben und als erfolglos beurteilte Interaktions- oder Bildungsangebote sich in der Wiederholung sehr demotivierend auf weitere Angebote und Unternehmungen auswirken. Für Anbieter:innen von Kursen stellt sich also die praktische Frage, wie Kommunikations- und Vermittlungsbedarf realistisch eingeschätzt, aber vor allem auch situationsadäquat organisiert werden kann.
5 Verständigung in mehrsprachigen Gesellschaften
Wir sehen, wie divers sich der Zugang zu mehrsprachigen Kontexten gestaltet, wenn wir an die kommunikativen Bedürfnisse mehrsprachiger Jugendlicher denken, die sich über mediale Kanäle als Sprecher:innen verschiedener Sprachen ausprobieren, oder auch an Medienmacher:innen, die im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit Zugang zu sprachlichen Ressourcen erhalten, während sie wiederum als Akteure des Zugangs für Neuankömmlinge wirken. Sprache wirkt dabei als interaktives Phänomen, nicht nur als Medium einer Botschaft, sondern als komplexer Träger von Bedeutung und sozialer Bewertung. Die Anforderungen an sprachlichen Austausch, und noch mehr an Dolmetschung, sind also zu lesen in einem Verständnis davon, nicht zwischen zwei Sprachen, sondern zwischen Kommunikationskulturen zu übersetzen, in der ganz in Prunčs (2017) Überzeugung relevant wird, dass alle Handelnden an der Aushandlung beteiligt und für die Rahmenbedingungen verantwortlich sind.
KommunikationspraktikenKommunikationsverhalten verändern sich mit den veränderten Bedürfnissen, teilweise in rasanter Geschwindigkeit, während die prinzipiellen Ansprüche an gelungene Kommunikation sich wenig ändern. Die gesellschaftliche Bewertung von Sprachen, Verständigung und Mehrsprachigkeit hat hingegen über die Zeit doch entscheidende Veränderungen erfahren. Unter den relevantesten Herausforderungen ist wohl die Abkehr von der Vorstellung, dass eine einzige gemeinsame Sprache als Garant für gelungene Kommunikation gesehen werden kann. Forschung im Bereich Translation, aber auch zur institutionellen KommunikationInstitutionelle Kommunikation, war u.a. ausschlaggebend dafür, zu verstehen, dass sprachliche Bedürfnisse nicht standardisiert zu beantworten sind und Verständnis nur interaktiv und damit kontextsensitiv geschehen kann. Für die Forschung bedeutet das auch, zu überdenken, mit welchen Benennungen oder Gruppenvorstellungen wir agieren, wo wir Sprecher:innen agency über ihre eigene sprachliche Zugehörigkeit einräumen – und etwa wahrnehmen, dass mehrsprachige Sprecher:innen bisweilen in ihrer Mehrsprachigkeit wahrgenommen, aber nicht dauerhaft und unabwendbar damit identifiziert werden möchten – und welche Vorstellungen von Sprachkenntnissen wir einsetzen und als ‚gut genug‘ akzeptieren.
Literatur
Bellardi, Nadia/Busch, Brigitta/Hassemer, Jonas/Peissl, Helmut/Scifo, Salvatore (2018). Spaces of Inclusion – An explorative study on needs of refugees and migrants in the domain of media communication and on responses by community media. Strasbourg: Council of Europe. Abrufbar unter: https://rm.coe.int/dgi-2018-01-spaces-of-inclusion/168078c4b4 (Stand: 10/12/2020)
BMB (2017) SchülerInnen mit anderen Erstsprachen als Deutsch Statistische Übersicht Schuljahre 2009/10 bis 2015/16. Informationsblätter zum Thema Migration und Schule Nr. 2/2016–17.