Tödliche Dunkelheit. Heribert Weishaupt

Tödliche Dunkelheit - Heribert Weishaupt


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werde, wie viele Menschen meines Geschlechts, die während der Zeit des Zusammenlebens zum Urgestein von Anpassung und Schwäche werden.

      Bei Tobias bin ich mir nicht sicher.

      Doch, ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht der Mann für ein ganzes Leben ist.

      Vielleicht ist es ein Fehler, bei ihm zu bleiben. Vielleicht hätte ich nein sagen sollen, als es noch leichter möglich war.

      Aber ich war träge, wollte nicht den unbequemen Weg der Konfrontation gehen – entschied mich für den bequemen Weg der Anpassung und Gleichgültigkeit.

      Es ist aber auch nicht so, dass Tobias mich nicht interessiert und ich ihn nicht mag. Nein, grundsätzlich mag ich ihn. Er ist ein durchtrainierter, gut aussehender junger Mann. Seine dunkelbraunen Augen signalisierten mir von Anfang an Wärme und Geborgenheit. Und er hat Wesenszüge, die ich mag, die mich manchmal auch verblüffen und sogar neugierig machen. Neugierig auf etwas, das sich mir noch nicht offenbart hat.

      Es liegt wahrscheinlich an mir. Ich will keinen Mann in mein Leben lassen – noch nicht. Ich mag nicht alles von mir preisgeben und ich mag keinen uneingeschränkten Anteil an ihm und an seinem Leben nehmen.

      Ich frage mich: Bin ich überhaupt für eine dauerhafte Beziehung geeignet?

      Damals, als ich ihn kennenlernte, stand ich in keiner Beziehung. Es war mehr als ein Jahr her, dass ich einen festen Partner hatte. Manchmal sehnte ich mich nach einer neuen, festen Beziehung, meistens jedoch nicht. Hin und wieder ein One-Night-Stand oder höchstens eine kurze Affäre – mehr gestattete ich mir nicht. Ich hatte keine großartigen Pläne und wollte nur ab und zu einen Mann. Ja, ich wollte gelegentlich unbedingt einen Mann. Vielleicht auch nur für eine Nacht, vielleicht für eine Nacht und einen Tag. Vielleicht auch für etwas länger, aber auf jeden Fall nur für eine überschaubare Zeit.

      Dann trat Tobias in mein Leben.

      Heute bin ich unsicher. Mein Innerstes sagt mir, ich sollte gehen – sofort und ohne Rücksicht und Sentimentalitäten.

      Es ist siebzehn Uhr. Ich könnte die Bar verlassen, in der ich sitze und schreibe, meinen Koffer aus dem Wagen holen und in irgendeinem Hotel in diesem Ort einchecken oder mit dem Taxi in einen anderen Ort fahren und dort eine Unterkunft suchen.

      Aber wieder hält mich meine Trägheit zurück. Wahrscheinlich noch weit über das Jetzt hinaus. Ich kann nicht sagen, wie lange noch.

      Oder ist es meine Erziehung, mein Charakter? Das geziemt sich nicht, das macht man nicht, seinen Partner während der Urlaubsreise zu verlassen. Solch eine Aktion würde mit Sicherheit niemand gutheißen. Weder meine Freundinnen, deren Anzahl dünn gesät ist, noch seine Freunde. Wenn er denn überhaupt welche hat. Ich kenne keinen. Auch seine Eltern kenne ich nicht. Er sagte mir einmal, dass sich seine Eltern, als er noch ein Kind war, haben scheiden lassen. Er sei bei seiner Mutter aufgewachsen. Verwandte scheint er keine zu haben. Er hat nie darüber gesprochen und meinen Fragen ist er ausgewichen. Über seine Vergangenheit spricht er nicht gerne und irgendwann habe ich es aufgegeben, Fragen zu stellen. Sein Leben vor mir interessiert mich auch nicht so brennend.

      Aber wieso bin ich so sehr großzügig? Er wohnt kostenlos bei mir und lebt von meinem Geld. Er ist Student, studiert Mathematik und molekulare Biomedizin und hat außer BAföG kein Einkommen. Er versucht noch nicht einmal, einen Job zu finden, um sich etwas hinzuzuverdienen. Aber das ist nicht das Entscheidende. Was mich beschäftigt und mir keine Ruhe lässt, ist die Frage: Wieso gestatte ich ihm, mich zu besitzen und zu lieben? Ich kann es nicht sagen, ich finde keine Antwort auf diese Frage.

      Was ihn betrifft, behauptet er zwar, dass er mich liebt, sogar über alles liebt. Ich konnte ihm das anfangs nicht glauben. Ich nahm an, er braucht und benutzt mich als seine Marionette, sein Spielzeug, das er weglegen kann, wenn es ihn nicht mehr interessiert. Doch inzwischen glaube ich ihm tatsächlich, dass er mich auf seine Art liebt. Ich weiß nicht einmal, weshalb ich ihm inzwischen glaube. Es ist völlig absurd, dass wir jetzt bereits mehrere Monate zusammenleben. Irgendwie kann ich nicht von ihm lassen, nicht Schluss mit ihm machen, so wie mit manch einem Mann vor ihm.

      Dabei ist er nicht gerade unproblematisch. Er hat Ansprüche. Nicht nur in finanzieller Hinsicht. Seine Meinung zählt und ist unumstößlich. Er will sagen, wo es lang geht, er will mich bevormunden, wie gesagt, besitzen. Das ist häufig ein Streitpunkt zwischen uns. Muss ich tatsächlich so abstumpfen und ein Heimchen am Herd werden, nur damit mein Partner zufrieden ist und sein Ego ausleben kann?

      Ein ganz klares Nein!

      Heute ist wieder so ein Tag, an dem ich denke, dass ich bereits einen Schlussstrich hätte ziehen sollen. Mein ganzes Dasein fühlt sich an wie Stückwerk, ohne Aussicht auf Vergehen oder Vollendung.

      Es ist heiß. Die Gedanken und Vorsätze verdorren auf dem Weg bis zur Ausführung.

      Ich bestelle mir den dritten kühlen Weißwein. Tobias liegt drüben im Park im Schatten und ruht sich von der langen Fahrt aus. Welch eine Selbstverständlichkeit.

      Andererseits bin ich froh, dass ich jetzt Zeit für mich habe.

      Es ist schön, die französische Sprache um mich herum zu hören, ohne zu begreifen, was gesagt wird. Ich muss mit niemandem reden und man sieht mir nicht an, was ich denke. Wie heißt es doch in dem Studentenlied: „Die Gedanken sind frei.“ Und Gedanken sind unschädlich für den, über den man sich Gedanken macht. Aber nur so lange, wie sie Gedanken bleiben.

      Es wird Zeit, dass wir weiterfahren, wollen wir unser Ziel noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.

      Mir ist klar, dass er das ganz anders sehen wird, wenn ich ihn wecke. Aber was soll‘s. Es ist auch mein Urlaub!

      Anna beendete die Eintragungen in ihr Tagebuch. Sie hatte seit Monaten nichts mehr eingetragen. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem sie Tobias kennengelernt hatte. Sie schlug das Buch zu und verstaute es sorgfältig in ihrer Handtasche.

       3

       Freitag, 05.07.2015 – 16:30 Uhr

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      Tobias war, wie Anna erwartet hatte, nicht begeistert, als sie ihn zur Weiterfahrt aufforderte. Lieber hätte er noch im Schatten der Parkbäume weitergeschlafen. Erst als Anna ihm den Vorschlag unterbreitete, hier ein Hotel zu suchen und in dem kleinen, französischen Ort zu übernachten, erwachten seine Lebensgeister und sein Widerstand. Er sprang auf.

      „Auf keinen Fall. Denkst du ich bin ein Schwächling, ein alter Mann? Wir fahren weiter – so wie geplant.“

      „Aber du warst doch gerade noch müde und wolltest nicht aufstehen …“

      „Unsinn! Wir fahren“, unterbrach er sie barsch und unterband damit jeglichen weiteren Einwand.

      Mit energischen Schritten ging er in Richtung Parkplatz, wo sie ihr Auto abgestellt hatten. Anna sagte nichts mehr und folgte ihm. Letztendlich war es auch ihr Wunsch, heute noch am Urlaubsziel anzukommen.

      Das Navigationsgerät führte sie sicher aus der Stadt heraus und zur nahen Autobahn. Bereits in der Stadt schaltete er das Autoradio ein und suchte fieberhaft einen Sender mit aktuellen Hits. Die französischen Sender konnten jedoch seinen Musikgeschmack nicht befriedigen. Er legte daher eine ihrer CDs ein und drehte die Lautsprecher so richtig auf. Queen – Greatest Hits, die Musik, die beide mochten.

      Die anfänglich schlechte Stimmung war bald verflogen und beide sangen die Texte aus voller Kehle mit.

      Beim fünften oder sechsten Track des Albums schaltete sich der Verkehrsfunk des Radiosenders automatisch mit einer Durchsage ein und unterbrach die Musik. Auch der Gesang der beiden jungen Leute wurde damit unterbrochen. Mit ihren geringen Kenntnissen der französischen Sprache verstanden sie den Inhalt der Meldung nicht. Sie waren lediglich sauer, dass ihr Gesang so abrupt unterbrochen wurde.

      Als nach der Durchsage die Musik wieder einsetzte,


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